Kapitel 6
Wieder einmal saß ich alleine in meinem Zimmer. Ladislao war bei seinem Training. Er war eh kaum zuhause. Nun war unsere Hochzeit schon eine Weile her, aber ich konnte mich immer noch nicht in ihn verlieben. Vielleicht lag das daran, dass wir uns bis heute nicht richtig kannten. Zwei Fremde in einem Haus. In einer Ehe.
Ein Ton ertönte und ich ging zu meinem Laptop. Seit Monaten chattete ich in meiner Einsamkeit mit einem Mann namens James. Er war sehr lieb und hörte sich meine Sorgen an. Nach dem Tod meiner Mutter hatte sich keiner mehr so sehr um mich gesorgt. Er schrieb mir immer wieder, fragte nach meinem Tag, nach meinem Wohlbefinden, erkundigte sich über mein Leben.
Ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich verheiratet war. Ich konnte nicht. Ich... ich wusste nicht, wie er reagieren würde. Ob er mich nicht mehr wollen würde. Manchmal telefonierten wir über die Nacht, wenn Ladislao weg war. An manchen Tagen kam er überhaupt nicht nach Hause. Das war mir aber egal. Hätte ich ihn irgendwie lieben können, würde ich auf ihn warten. Aber das war nicht der Fall.
Ich las die Nachricht durch: "Wir schreiben und telefonieren schon so lange, Angelie. Meine Angelie, ich würde dich gerne sehen. Dich wirklich kennenlernen."
Meine Augen weiteten sich. Ich wurde ganz hibbelig. Was sollte ich nur antworten?
"Ich weiß, dass du dort bist. Bitte, antworte mir doch." Erneut sah ich eine Nachricht von ihm. "Wovor fürchtest du dich? Vertraust du mir nicht?"
Natürlich vertraute ich ihm. Ich hatte nur Angst vor der Wahrheit.
"James, du bist der einzige, dem ich zurzeit wirklich vertraue. Ich habe nur Angst...", schrieb ich ihm zurück.
"Ich habe dich sehr lieb gewonnen. Du bedeutest mir ungeheuer viel. Bitte. Ich möchte, nein, ich muss dich endlich sehen, meine liebe Angelie."
Wie sollte ich da nein sagen? Ich stimmte ihm zu. Wir wohnten nicht sehr weit voneinander entfernt. Am nächsten Tag stand unsere Verabredung. Ich war sehr aufgeregt, wie ein Grundschulkind, das zum ersten Mal in die Schule ging. Ich hatte nie ein Date gehabt. Die Freude war groß.
Aus Sicherheitsgründen, die er natürlich nicht kannte, wollte ich mich mit ihm in seiner Gegend treffen. Es wäre zu riskant gewesen, dass mich jemand erkennen würde.
Wir hatten ausgemacht, dass wir uns in einem Cafe treffen würden. Ich kam überpünktlich und setzte mich in die vereinbarte Ecke. Genau auf die Minute kam er an und lief auf meinen Tisch zu. Er hatte eine durchschnittliche Größe. Sein gewelltes oranges Haar fiel ihm locker auf die Stirn. Als er näher kam bemerkte ich seine Sommersprossen, durch die er sehr sympathisch wirkte und eine warme Ausstrahlung hatte. Zwar kannte ich sein Aussehen bereits, dennoch war es anders, ihn vor mir zu sehen. Ich stand auf, um ihn zu begrüßen.
"Angelie?", nahm er meine Hand zwischen seine.
"Hallo", brachte ich leise hervor. Wegen meiner Nervosität konnte ich nicht reden.
"Ich freue mich unglaublich, dich endlich zu sehen", lächelte er mich warm an.
Ein Gefühlschaos brach über mich ein. Ich sah in seine olivgrünen Augen, die mich liebevoll ansahen. Ich sah mich selbst in ihnen.
"Ich freue mich auch", entgegnete ich ihm schüchtern.
Er kam einen Schritt näher und stand somit direkt vor mir. Er löste eine Hand von meiner und legte sie an meinen Hals, wobei er mit dem Daumen über meine Wange strich. Hitze brannte in mir. War das Liebe? War das dieses weit verbreitete Feuerwerk in einem? Dieser Funken, wenn die Chemie einfach stimmte?
"Angelie?", flüsterte er und kam mit seinem Gesicht näher.
Er kam mir so vertraut vor. Ich fühlte mich sicher bei ihm, obwohl ich ihn das erste Mal sah. Trotzdem hatten wir eine besondere Bindung zwischen uns. Ich spürte seinen Atem an meinen Lippen. Er wartete. Etwa auf mein Einverständnis? Ein Kribbeln erfasste meinen ganzen Körper. Eine wohlige Wärme breitete sich in meiner Bauchgegend aus. Etwas kitzelte mich innerlich, jedoch war das kein nerviges Gefühl. Ich hielt diese Anspannung nicht mehr aus und legte langsam meine Lippen auf seine. Wir verharrten einen Augenblick in dieser Position. Keiner von uns bewegte sich, als hätten wir Angst, diesen Moment zu zerstören. Langsam schob ich meine Unterlippe vor, um Druck auf seine Lippen auszuüben. Er nahm meine Einladung entgegen und liebkoste meine Lippen. Es fühlte sich weder aufdringlich noch unangenehm an. Viel mehr fühlte ich eine vom Herzen kommende Zufriedenheit. Ich wollte ihn nie mehr loslassen, nie mehr wollte ich ohne diesen Mann sein.
Mit einer enormen Hitze wachte ich aus meinem Traum auf. Ich hatte lange nichts mehr von James geträumt. Meine Lippen kribbelten immer noch wie verrückt. Ein Schluchzen unterbrach die Stille. Ich bemerkte, dass dieses von mir kam. Mein Herz zog sich zusammen, als würde es nicht mehr weiter schlagen wollen, als hätte es seine Aufgabe endgültig satt. Ich weinte leise vor mich hin. Die Tränen wollten nicht versiegen, sie liefen immer weiter. Ich hatte mich selbst nicht mehr unter Kontrolle. Ich wollte mich nicht mal unter Kontrolle halten.
Meine Wangen waren komplett durchnässt. Wie heißes Lava brach die Flüssigkeit aus meinen Augen heraus. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr.
"James", kam ein Flüstern aus meinem Mund.
Ich schmeckte etwas Salziges an meinen Mundwinkeln. Die Tränen wollten einfach nicht aufhören. Ich weinte mich wieder einmal nach langer Zeit in den Schlaf hinein.
Ich dachte, ich hätte es endlich geschafft, endlich meine Gefühle verriegelt, aber da hatte ich mich getäuscht. Eigentlich nur mir selbst etwas vorgemacht. Diese Schmerzen, diese Gefühle, diese Liebe konnte ich nicht vergessen. Sie würden mich bis in den Tod begleiten.
***
Ich schlang meine Arme um etwas Weiches, zog es näher zu mir und legte meinen Kopf darauf. Im nächsten Moment bemerkte ich meine ungewohnte Lage und schlug meine Augen auf. Ein Blick in meine Umgebung verriet mir, dass ich auf dem Bett von Ladislao lag. Wie kam ich hier her? Ich sah mich im Zimmer um und bemerkte, dass ich alleine war. Auf dem Couchtisch sah ich ein großes Tablett mit einem Deckel darauf. Ich schritt zum Tisch und nahm diesen weg, worunter ich ein Frühstück erblickte. Ein Zettel lag zwischen den Tellern. Ich faltete ihn auf und las mir durch, was darin stand.
"Lass es dir schmecken. Zur Wiedergutmachung. L.C."
Ich musste lächeln, dennoch wusste ich nicht, was ich davon halten sollte, aber da ich hungrig war, hinterfragte ich es nicht weiter und wusch erst einmal mir den Schlaf aus dem Gesicht. Danach machte ich mich an mein Frühstück heran.
Nachdem ich mich auch umgezogen hatte, lief ich aus dem Zimmer. Ich sah im Flur die Frau, die mich ermahnte als ich die Blondine im Rollstuhl gesehen hatte. Sie lief in das Zimmer und ließ dabei die Tür hinter sich offen. Anscheinend hatte sie mich nicht bemerkt.
"Wie geht es dir heute, Angelie?", fragte sie.
Ich sah die andere Frau im Raum, jedoch hielt ich mich noch verdeckt.
"Marina", hörte ich sie schluchzen, "Ich habe von James geträumt. Ich... ich hatte vergessen, wie verletzt ich bin. Ich dachte, ich wäre jetzt stark."
Wer war diese Frau? Wieso war sie hier?
"Angelie, bitte, du darfst dich nicht so gehen lassen", tröstete sie diese Marina.
Irgendwie kam es mir falsch vor, weiter hier zu stehen und sie zu belauschen. Ich trat einen Schritt zurück und lief erhobenen Hauptes den Flur entlang. Dann hörte ich, wie hinter mir die Tür zugeschlagen wurde. Ich lief in den Wohnbereich und setzte mich dort auf das Sofa.
Camilla begrüßte mich, als sie herein kam.
"Na, wie lief die Feier?", fragte sie mich grinsend.
"Wie sollte sie gelaufen sein?", meinte ich ausweichend. "Ich habe mich eher zurückgehalten."
Sie redete noch über irgendetwas weiter. Ich konnte mich nicht auf sie konzentrieren, da ich dauernd an diese Frau denken musste.
"Camilla, wer ist sie?", unterbrach ich ihre Rede.
"Wen meinst du?"
"Stell dich nicht dumm", sagte ich ihr und deutete mit meinen Augenbrauen nach oben. "Du weißt, wen ich meine."
"Crystal, frag mich alles, nur nicht das. Ich bin nicht berechtigt, dir das zu erzählen. Wenn ich das tue, kann ich mir wahrscheinlich einen neuen Job suchen, falls ich überhaupt je wieder einen bekommen sollte."
Sie sah mich entschuldigend an. Wohl oder übel musste ich mich damit zufrieden geben. Ich konnte von ihr nicht erwarten, dass sie das riskierte. Trotzdem musste ich das irgendwie herauskriegen.
"Wo ist Ladislao?", fragte ich dann nach einer Weile.
"Er ist bei der Abreit", belehrte sie mich. "Du musst wissen, dass er ein sehr beschäftigter Mann ist."
Ich verbrachte die nächsten Stunden damit, fern zu sehen oder zu essen. Ich wusste nichts mit der Zeit anzufangen. Noch vor einer Woche lief ich kreuz und quer durch die Straßen, hielt Ausschau danach, wen ich abzocken könnte. Und nun lag ich wie die Prinzessin höchst persönlich in einem Palast. Wie ironisch und witzig das Leben doch war.
"Crystal", ertönte aus dem Nichts plötzlich eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich auf dem Sofa um und blickte Ladislao ins Gesicht.
"Willkommen, Verlobter!", begrüßte ich ihn grinsend.
"Hör auf mit dem Quatsch. Was machst du?"
"Ach, hab vorhin die Kühe gemolken und noch die Milch aufgekocht und jetzt wollte ich einfach mal eine Pause einlegen", erklärte ich ihm ernsthaft.
Er blickte mich mit einem Fragezeichen im Gesicht an.
"Ich sagte, du sollst mit dem Quatsch aufhören. Wir sind heute eingeladen. Mach dich fertig."
"Halt mal die Luft an. Wohin gehen wir?"
"Einer meiner Geschäftspartner hat einen neuen Club eröffnet. Er wollte unbedingt, dass ich mit dir komme. Also zieh dich dementsprechend an."
"Aye, aye, Capt'n", salutierte ich daraufhin.
Er warf mir noch einen genervten Blick zu.
"Was habe ich mir da nur eingebrockt?", murmelte er vor sich hin und ging die Treppen hoch.
Ich musste dringend Camilla finden. Ich hatte doch keine Ahnung, wie ich mich vorbereiten sollte. Deshalb lief ich in die Küche und suchte nach Camilla. Wie zu erwarten wurde ich dort fündig und klammerte mich an ihr fest.
"Crystal, ich muss das noch fertig kriegen", schimpfte sie, während sich aus meinem Klammergriff wandte.
"Nein, musst du nicht. Du musst mir helfen. Aber wir haben noch Zeit, also darfst du das noch fertig machen. Oder wird die Zeit nicht reichen?"
Ich wurde leicht panisch.
"Die Zeit wozu?"
"Ich muss mit Ladislao in einen Club."
"Oh, wir müssen dich hübsch machen, sexy, heiß", grinste sie mich pervers an.
"Was hast du vor?"
"Ich habe ganz böse Sachen vor."
Mit "ganz böse Sachen" hatte sie ordentlich untertrieben. Nach knapp einer Stunde sah ich in den Spiegel und erkannte mich selbst gar nicht. Meine Haare wurden zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen gebunden. Die Schminke war auffallend und stark, sowie mein knallroter Lippenstift. Aber das Highlight krönte mein Kleid. Es bedeckte gerade so meinen Hintern. Der lederähnliche, schwarze Stoff klebte enger als meine eigene Haut an mir und hatte gar keine Träger.
"Ehrlich, ich sehe schlimmer aus als die Cracknutten auf der Straße", motzte ich Camilla an.
"Du hast doch keine Ahnung. Du siehst geil aus."
Aus den unteren Reihen fischte sie noch hohe Stiefel heraus, welche sie mir dann in die Hand drückte.
"Zieh die hier drunter!"
Mit etwas Mühe und Hilfe seitens Camilla konnte ich die feinen Stiefel mit hauchdünnen langen Absätzen bis zu den Schenkeln hochziehen, die ebenso schwarz schimmerten. Ich betrachtete mich erneut im großen Spiegel, wobei mir das Ergebnis deutlich besser gefiel, da ich nun immerhin mehr bedeckt wurde. Trotz dessen war das ein ziemlich gewagter Auftritt.
"Nein! Das geht gar nicht. Suchen wir uns etwas anderes aus."
Ich ging wieder dicht von ihr gefolgt zu der Kleiderstange hin. Als ich gerade die Kleider durchstöberte kam Ladislao herein.
"Ich habe meinen Geldbeutel hier...", blieb er abrupt still und sah mich aus großen Augen an.
"Camilla, könntest du mal eben raus?", bat er, woraufhin sie das Zimmer verließ.
Er kam weiter herein, stand wenige Meter vor mir und sah mich von oben bis unten an. Sein Blick glitt mehrmals auf und ab. Eine Gier lag in ihm, die mich erschaudern ließ. Mir wurde heiß dabei.
"Was hast du da an?"
"Gefällt es dir etwa nicht?", fragte ich ihn unschuldig, obwohl ich selber nicht so gehen wollte.
"Nein", meinte er abwesend und sah immer noch auf meine Beine.
"Dein Blick sagt aber was ganz anderes."
Er hatte gerade eine Anziehungskraft auf mich, die ich mir nicht erklären konnte. Ich kratzte meinen Mut zusammen und ging näher zu ihm. Schüchtern zu sein, war nie mein Ding gewesen. Ich legte meine Hände auf seine Brust und strich dann mit meinen Fingerspitzen seinen Oberkörper auf und ab. Ich fühlte die einzelnen Stufen seiner Muskeln. Die Brust, den Bauch.
"Ich wollte dir noch danken", flüsterte ich.
"Wofür?", fragte er geistesabwesend und leckte sich über seine Lippen, wobei er meine anvisierte.
"Das Frühstück. Deine Notiz. Nett von dir."
Ich sagte das mit einer rauchigen Stimme und trat näher zu ihm, wobei meine Hände zu seinem Nacken hoch wanderten. Er blieb immer noch regungslos.
"Komm schon, lässt dich das kalt?", provozierte ich ihn weiter.
"Nein, äh, ich meine, ja", stotterte er.
"Das glaube ich dir nicht."
Ich trat noch näher, sodass unsere Körper aneinander klebten. Mit meinen hohen Stiefeln war ich immer noch kleiner als er, weshalb ich mich etwas weiter hoch streckte. Er legte seine Hände auf meine Hüfte. Na, endlich, dachte ich mir. Gerade als er mit seinem Gesicht meinem näher kam und unsere Lippen sich fast berührt hätten, machte ich einen Schritt zurück.
"Los, wir wollen doch nicht zu spät kommen!", rief ich ihm zu als ich aus dem begehbaren Schrank heraus lief.
So einfach würde ich es ihm nicht machen. Mit einem Schmunzeln im Gesicht lief ich weiter.
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