Kapitel 40

Im oberen Geschoss liefen wir weiter durch einen Korridor mit hohen Fenstern, wodurch man den Hinterhof sehen konnte. Dieses Schloss sah einfach nur grandios aus, es war unbeschreiblich, als würde ich mich gerade in einem Film befinden. Der Steinboden, die antiken Teppiche, die wertvollen Gemälde und Skulpturen, die die ebenso steinigen Wände zierten, oder die spitz zulaufenden Holztüren verschlugen mir einfach die Sprache.

„Wir sind da, dieses Zimmer ist deines. Ich würde dir raten, nicht zu sehr herum zu laufen, da man sich doch recht schnell hier verirren kann. Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche!"

Snake öffnete eine dieser Holztüren, damit ich eintreten konnte. Das Zimmer war genauso speziell, wie der ganze Rest des Schlosses. Kaum zu fassen, ein Himmelbett stand mittig an der Wand, davor eine altmodische in die Länge gezogene Bank. Die Kommoden und Schränke waren ebenso aus gleichem edlen Holz. Das Zimmer sah wie ein Gemälde an sich aus, sodass ich mich davor scheute, irgendetwas anzufassen, womit ich das Gesamtbild zerstören würde.

„Wow", bemerkte ich anerkennend. „Fast schon wie in einem Märchen."

„Ja", lachte Snake kurz auf, „ich lasse dich mal alleine. Das Bad grenzt an dein Zimmer an, du kannst direkt aus dieser Tür dahin. Später hole ich dich für das Essen ab."

Er wandte sich ab, als er auch schon gehen wollte, aber ich hielt ihn auf.

„Bitte, bleibe noch!"

Snake drehte sich zu mir, als er mich fragend anblickte.

„Stimmt etwas nicht?", wollte er wissen.

„Ich...", kam ein Stottern aus mir, „können wir etwas reden?"

„Na, klar doch", zuckte er mit den Achseln.

Wir setzten uns auf das Sofa, welches quer gegenüber dem Kamin stand. Ich wusste nicht, was ich sagen oder wo ich anfangen sollte.

„Es hat sich sehr viel verändert in letzter Zeit."

Für den Anfang war das gar nicht schlecht.

„Ich weiß", meinte er daraufhin, „das alles musst du erst einmal verdauen, es ist ziemlich viel. Ich komme ja selber kaum noch mit, da kann ich mir gar nicht vorstellen wie du dich fühlen musst."

War ich zu voreilig, dass ich ihm vertraute? Schließlich hatte er schon immer mit Seraphine kooperiert, aber war sie auch tatsächlich mein Feind? Ja, sie hatte schließlich dafür gesorgt, dass ich keine Verbindung mehr zu meiner Familie hatte. Aber was war schon von dieser übrig? Eine Mutter auf Crack, ein toter, verrückter Vater!

„Es ist einfach komisch, ich weiß nicht, was ich von allem halten soll. Glaubst du, sie wird wirklich nach meiner Mutter suchen?"

Wenn schon jemand mir eine Antwort geben konnte, dann war das sicherlich Snake.

„Sie hat das Theodore weitergeleitet und ich denke, dass sie es auch ernst meinte. Also wirst du bestimmt in den nächsten Tagen etwas von ihr erfahren."

Ich wollte mir keine Hoffnungen in diesem Moment machen, denn vor der Enttäuschung wollte ich mich bewahren.

„Hoffentlich", entgegnete ich nur und sah auf meinen Schoß herunter.

„Cry, wie bist du in seine Hände geraten?", vernahm ich Snakes Stimme leise, als hätte er Angst, diese Frage zu stellen.

„Warum möchtest du das wissen?", fragte ich.

„Du warst plötzlich weg, ich habe mir Sorgen gemacht."

War ich im falschen Film? Was sollte das? Ihn hatte es einen Dreck beschert, wie es mir ging und was ich machte. Wozu diese geheuchelte Sorge?

„Dich hat es keineswegs interessiert wie es mir ging, wieso solltest du dir genau dann Sorgen machen, wenn ich verschwunden war?"

„So einfach ist das nicht!", zischte er. „Ich habe mich immer darum erkundigt, wie es dir ging!"

„Ach, ja?", schrie ich dieses Mal. „Als ich am Verhungern und geldlos war, hat es dich kein Bisschen interessiert!"

„Dass du es wagen kannst, mir so etwas vorzuwerfen!", sprang er auf die Beine und brüllte. „Dank mir hast du überhaupt eine Chance auf ein Leben gehabt!"

„Was?!", stand ich ebenfalls auf, um ihm entgegen zu treten. „Was es wirklich hieß zu leben, habe ich erst neben Ladislao erfahren. Er hat mir die Welt zu Füßen gelegt, mich geliebt!"

„Und trotzdem bist du jetzt hier", gab er verächtlich und trocken von sich.

Mein Herz tat in meiner Brust weh, seine Worte saßen, denn sie trafen genau richtig.

„Ich habe gesehen, wie du weinend aus dem Haus gerannt bist, ich habe gesehen, dass er dir weh getan hat. So Vieles mehr habe ich gesehen, wovon du nicht einmal die leiseste Ahnung hast. Wage es ja nicht, mich über ihn zu belehren!"

Mit diesen Worten stampfte er davon und schlug die Tür ordentlich hinter sich zu. Vor Wut bebte meine Brust, indem ich tief ein– und ausatmete. Meine Welt brach vor mir zusammen und ich hatte keinen Halt mehr, keine Stütze, an die ich mich klammern konnte, damit ich nicht fiel. Anscheinend wusste jeder besser über mein Leben Bescheid als ich und das ging mir gehörig auf die Nerven. Jeder schien etwas zu wissen, was ich mir nicht einmal erträumen konnte, obwohl es um mich und mein Leben ging. Alleine saß ich in meinem Zimmer bis die Sonne unterging. Würde Snake kommen, um nach mir zu sehen? Er sollte mich zum Essen begleiten, aber ich bezweifelte, dass er sich heute noch sehen lassen würde.

Die Einsamkeit dämmte keinesfalls meinen Schmerz, sie machte es so gar schlimmer. Ladislao ging mir nicht aus dem Kopf, die Szene spielte sich immer wieder in meinem Kopf ab, wie er mich heraus schmiss, mir zuschrie, dass ich mich verpissen solle. Der Mann, der mir einen Tag zuvor liebevoll in die Augen gesehen hatte, blickte mich voller Hass an. Es war zu viel für mein Herz. Eine Spur aus Feuchtigkeit lief meine Wange herunter, brannte auf meiner Haut. Ich sah aus dem Fenster in den hinteren Garten. Man konnte das kaum Garten nennen, aber ich wusste nicht wie ich es sonst bezeichnen sollte. Auf dem großen Hof standen in geregelten Abständen Bänke zum Sitzen und Wege führten durch die besonderen Pflanzen. Ein Pfad führte weiter nach hinten. Ich erblickte Hecken, die wie ein Labyrinth angepflanzt und gepflegt wurden. Genau so fühlte ich mich im Moment, als würde ich durch diese Hecken irren und nie den Ausweg finden. Es fühlte sich grauenvoll an. Ich blickte zurück und merkte, was für ein sinnloses Leben ich geführt hatte.

Angefangen im Waisenhaus, wo es mir eigentlich verglichen mit der Zeit danach besser ging. Viele würden vielleicht denken, dass wir dort geschlagen oder gehänselt wurden, so wie es in den klischeehaften Storys der Fall war. Natürlich wurden die Erzieher mal sauer oder fassten uns etwas grob an, aber das war auch schon alles, was auch nicht weiter verwunderlich sein sollte, schließlich waren wir ein Haufen verrückter Kinder, den man irgendwie bändigen und unter Kontrolle halten musste.

Wenn ich recht überlegte, ging mein Leben nach Snake den Bach herunter. Kriege, Drogen, Gangs, Tode und nicht zu vergessen Raub und Diebstahl. Seraphine hatte dafür gesorgt, dass solch ein Leben mir bevorstand. Wieso sollte es jetzt anders sein? Wieso überließ sie mir ihre hart erkämpfte Macht? Sie meinte, sie würde sterben, aber woher nahm sie diese Gewissheit? Wer gab uns die Garantie, dass es genau in dem Zeitpunkt passierte?

In der Zeit, als ich noch aktiv in Snakes Geschäften war, hatte ich eine gute Freundin, die ich dann verloren hatte. Nur ihr vertraute ich wirklich. Ansonsten hatte ich bis heute niemanden, außer Ladislao. Er war meine Zuflucht, meine Erlösung, aber auch er war mir nun in den Rücken gefallen, hatte mich verscheucht und aus seinem Haus geschmissen. Meine Hand fuhr in meine Hosentasche und stieß an etwas Hartem. Ich holte es heraus, was sich als mein Handy enttarnte, welches blinkte, um zu zeigen, dass ich verpasste Anrufe oder Nachrichten hatte. Auf dem Bildschirm sah ich, dass Nadja und Camilla mehrfach versucht hatten mich anzurufen, aber da ich meistens mein Handy auf stumm hatte, hatte ich es überhaupt nicht mitbekommen. Gerade als ich mit mir rang, ob ich einen Rückruf tätigen sollte oder nicht, wurde mir die Entscheidung genommen, als Nadjas Name auf dem Bildschirm erschien. Ich nahm den Anruf an.

„Oh, mein Gott!", schrie sie. „Endlich gehst du heran! Was ist in dich gefahren, dass du so weg gerannt bist? Wie konntest du ohne ein Wort abhauen?"

„Nadja, ich konnte doch nicht bleiben", versuchte ich ihr meinen Standpunkt klar zu machen.

„Schwachsinn!", entgegnete sie energisch. „Du hast keine Ahnung, was passiert ist. Ladislao war vollkommen außer sich... es... ich weiß nicht einmal, wie man so etwas in Worte fassen kann."

In dem Moment erregte sie meine Neugier. Mir wurde auch gerade bewusst, dass Ladislao ja mit seinem Vater gestritten hatte. Was war los, dass er so wütend wurde und beinahe schon seinen Vater erschossen hätte?

„Was ist passiert?"

„Wenn du nicht gleich weg gerannt wärst, wüsstest du es!", schimpfte sie weiter mit mir. „Wo bist du überhaupt, wie bist du so schnell verschwunden? Carlos ist dir noch hinter her gelaufen, aber du warst wie vom Erdboden verschluckt."

„Ich bin weit weg, Nadja", sagte ich, „und ich denke auch nicht, dass ich so schnell wieder zurück kann."

„Bullshit!", entfuhr es ihr entsetzt.

„Was sagt sie?", drang Camillas Stimme zu mir.

„Willst du nicht wissen, was hier los ist?", vernahm ich erneut Nadjas Stimme. „Wenn du es wüsstest, dann wirst du auch seine Handlung verstehen."

„Ich weiß nicht..."

Gerade jetzt konnte ich von hier nicht mehr weg, denn ich war so nah dran, etwas über meine Mutter zu erfahren, ich konnte endlich meine Vergangenheit entlüften.

„Crystal", hauchte Nadja, „hier ist die Hölle los. Wir erfahren Dinge, die man sich nicht einmal vorstellen kann. Ladislao hat Angelies Tagebuch gefunden und was da alles drin steht, Crystal, ich kann es nicht in Worte fassen, ich kann es nicht glauben."

Ihre Stimme brach, sie atmete tief ein und aus, während ich ihr gebannt zuhörte.

„Sie hat darin alles geschrieben, was sie hier erlebt hatte, nachdem sie gelähmt war. Es ist grausam, sie schreibt von einer Vergewaltigung..."

Nadja hörte auf zu reden und schniefte. Ihre Worte versetzten mich in eine Starre. Was sollte das heißen, eine Vergewaltigung? Wer... wie? Wie konnte das sein?

„Was sagst du da?", flüsterte ich.

„Alfonso..."

Nun fing sie endgültig an zu weinen.

„Es ist kaum zu fassen."

„Was?", hauchte ich voller Schock.

Wie war das möglich? Alfonso, der ihr nachtrauerte, der ihren Tod bedauerte? Konnte ein Mensch so gut schauspielern, konnte das wirklich wahr sein? In diesem Moment fing Nadja an zu erzählen. Sie erzählte mir alles aus Ladislaos Vergangenheit, wie er ihr helfen wollte, indem er sie aus den Zwängen ihres Vaters befreite, sie unterstützte wo es nur ging, ihren Vater davor bewahrte, weiter in Schulden zu versinken. Natürlich erzählte sie mir auch ihr gemeinsames Kind, Angelies Affäre und ihre Flucht. Ihre Geschichte war nicht einfach, keineswegs war sie das, aber wie sehr hatte ich mir gewünscht das alles aus Ladislaos Mund zu hören, statt dass er mich von sich stieß. Die Tatsache schmerzte in mir, brach mir das Herz. Er hatte mir manches davon erzählt, aber schon lange nicht alles. Ich wusste auch nicht, was und ob er noch etwas verbarg, aber wenn ich ehrlich war, dann konnte ich mir gut vorstellen, dass es noch Vieles gab, wovon ich keine Ahnung hatte.

„Kommst du nach Hause?", fragte sie mich nach ihrer Erzählung.

Ihre Frage ließ mich verstummen, denn ich konnte hier nicht weg, nicht jetzt! Ich war kurz davor, etwas über meine Mutter zu erfahren und hoffentlich war sie... am Leben.

„Ich kann nicht."

„Warum? Nach allem, was ich dir erzählt habe? Du musst doch verstehen, dass er das nicht ernst gemeint hat, dass er nicht ganz bei Sinnen war!"

„Wieso hat er mich kein einziges Mal angerufen, Nadja? Sag's mir doch!"

Ich musste irgendwie die Unterhaltung abbrechen, denn zu groß war die Angst, dass sie mich doch überreden konnte.

„Er... er ist noch im Schockzustand. Er scheißt hier Carlos zusammen, weil er Alfonso entkommen lassen hat. Wir wissen nicht wie wir ihn unter Kontrolle bringen können, Crystal, du musst kommen."

Sie klang sehr verzweifelt und wären die Umstände anders, dann wäre ich jetzt auch zu ihm gerannt, aber ich konnte nicht diese einzige Möglichkeit gehen lassen. Als ich ihr etwas erwidern wollte, wurde an meine Tür geklopft.

„Einen Moment, Nadja", sagte ich ins Telefon, als ich ein „Ja?" zu der Person an der Tür rief.

„Mrs Carbone, Sie werden im Esszimmer erwartet", vernahm ich Theodores Stimme. „Ich würde Sie gerne begleiten, da Sie sich noch nicht im Haus auskennen."

„Einen Moment, bitte!"

„Mit wem redest du? Wo bist du?", bombardierte mich Nadja wieder mit Fragen.

„Ich muss jetzt auflegen", ignorierte ich diese. „Wenn ich wieder kann, dann melde ich mich."

„Du kannst doch nicht nach allem, was ich erzählt habe, einfach verschwinden!", schrie sie mich entsetzt an.

„Nadja, ob du es glaubst oder nicht, es interessiert mich nicht!", wurde auch ich wütend. „Angelie tut mir zwar leid, aber wir können nichts mehr daran ändern!"

Nach meiner Ansage legte ich auf und schnitt ihr damit das Wort ab. Ohne weitere Gedanken daran zu verschenken lief ich auf die Tür zu und Theodore hinter her bis wir ins Esszimmer kamen. Seraphine saß bereits am Tisch, aber von Snake fehlte jegliche Spur. Er würde wahrscheinlich sich nicht mehr so schnell blicken lassen.

„Setz dich, bitte", wies sie mich mit einem Lächeln an. „Wir haben noch so viel zu bereden, meine liebe Nichte, Theodore hat schon Informationen auf mich zukommen lassen!"

Nach diesem Satz waren meine Gedanken an Angelie oder auch Ladislao verschwunden, denn ich musste meine Mutter finden, in welchem Zustand auch immer. Wie es ihr wohl ging? Ladislao, seine verrückte, tote Ex-Frau oder auch Alfonso mussten warten!

[...]

„Was glaubst du, wo sie hier sein wird?", fragte ich Snake.

Seit zwei Tagen war ich nun bei Seraphine. Heute war es endlich soweit, dass ich meine Mutter besuchen konnte. Ahnungslos, wie sie auf mich reagieren würde, machte ich mich auf den Weg.

„In dieser Drecksgegend kann sie überall sein, das musst du doch gerade am besten wissen", kam es von ihm. "Wir fahren erst einmal zu ihrer Adresse. Mal sehen, was wir dort finden."

Wir befanden uns mitten im Ghetto, eine der schlimmsten Gegenden hier. Das bestätigte im Grunde genommen, dass sie nie aus diesen Kreisen entfliehen konnte, aber wer schaffte das schon? Snake schlängelte den Wagen weiterhin durch die Siedlung, wobei wir dauernd von den Bewohnern schief angeschaut wurden.

„Sind wir hier überhaupt sicher?", fragte ich ihn, denn zu gut wusste ich, wie diese Leute hier auf Besuch zu sprechen waren.

Snake fing an zu lachen und warf mir einen amüsierten Blick zu.

„Was, hat die Prinzessin etwa Angst vor Gangstern? Hast du schon deine Fähigkeiten verlernt?"

„Nein, eigentlich habe ich viel mehr trainiert."

„Ach, ja?", flogen seine Augenbrauen in die Höhe. „Die sollten wir mal testen, wenn wir wieder zurück sind."

„Sicher doch!"

Wir fuhren noch einige Minuten weiter, als er plötzlich den Wagen an die Seite fuhr und anhielt.

„Sind wir da?", fragte ich nervös.

„Ja, wir sind da", meinte er und zeigte mit seiner Hand in die Richtung einer Baracke. „Da wohnt sie anscheinend."

Ich sah mir das heruntergekommene Haus näher an. Es war alt, ein Fenster war kaputt. Man konnte es kaum ein Haus nennen. Die Baracke war klein und hatte einen großen Vorgarten, worunter man sich nichts Hübsches vorstellen sollte, denn es war gefüllt mit Müll. Vielleicht nutzte jemand diese Gegenstände oder dieses alte Sofa dort noch, aber so wirklich tauglich waren die Sachen schon lange nicht mehr. Plötzlich wurde die Tür aufgeschlagen, ein kleiner Junge rannte aus dem Haus.

„Ich habe dir gesagt, dass du heute nicht raus darfst!", schrie eine Frau aus dem Haus und trat auch schon im nächsten Moment vor die Tür.

Mein Herz stand still, mein Atem flach! War sie das? War das meine Mutter? Ich klebte förmlich an der Scheibe und starrte die Frau an. Ihr Gesicht konnte ich aus der Ferne nicht erkennen. Der Junge ignorierte sie vollkommen und rannte weiter. Vor unserem Wagen blieb er kurz stehen, sah uns an und rannte auch schon weiter, wobei er um die Ecke bog und verschwand. Mein Blick glitt erneut zu der Frau, die wieder ins Haus lief und die Tür hinter sich schmiss.

„Sollen wir?", fragte mich Snake. "Jetzt wissen wir wenigstens, dass sie zuhause ist."

Ich sagte nichts, starrte weiterhin diese versiffte Bude vor mir an. Meine Hand glitt zur Tür, öffnete diese, einen Fuß setzte ich raus und dann den Nächsten, wonach ich aufstand. Ich konnte das schaffen! Ich hatte es endlich gebracht, meine Mutter zu finden! Jahrelang hatte ich dafür gekämpft.

„Wenn du nicht willst, dann können wir auch morgen nochmal kommen", schlug Snake netterweise vor.

Ich lehnte ab, indem ich nur mit meinem Kopf schüttelte und einen Schritt nach vorne wagte.

„Soll ich mit?", fragte er mich.

Mit den Achseln zuckend gab ich ihm zu verstehen, dass es mir egal war. Mein Hals war wie zugeschnürt, sodass ich kein Wort heraus bringen konnte. Niemals hätte ich mir vorgestellt, dass es so schwer sein würde, meiner Mutter gegenüber zu treten.

„Es wird schon", spürte ich eine Hand an meinem Oberarm.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich wieder stehen geblieben war. Mit einem Nicken bedankte ich mich bei Snake und lief los. Dieses Mal stoppte ich auch nicht mehr bis ich vor der gebrochenen Tür stand. Alles schien an diesem Haus kaputt zu sein und zu bröckeln. Um zu klopfen, erhob ich meine Hand und damit ich es mir nicht anders überlegen konnte, hielt ich mit der Bewegung nicht inne, sondern klopfte laut und deutlich an die Tür.

„Wer ist das schon wieder?", hörte ich die Frau von eben genervt sagen.

In nächster Sekunde wurde die Tür aufgemacht und da stand sie, in Fleisch und Blut. Ahnungslosigkeit machte sich in ihrem Gesicht breit.

„Wer seid ihr?", fragte sie uns direkt.

Ihre dunklen braunen Augen bohrten sich in meine, als würde sie in meine Seele blicken. Der Blick huschte kurz zu Snake und dann wieder zu mir, als sie mich konzentriert ansah.

„Du...", weiteten sich ihre Augen, als sie mich weiterhin anstarrte.

„Bist du Barbara Sanders?", fragte Snake.

Ich konnte kein Wort hervorbringen, denn mein Hals war wie zugeschnürt, meine Stimme verloren, meine Knie zittrig.

„Was wollt ihr?"

„Wir wollen nichts, nur reden", hob er beschwichtigend seine Hände hoch.

Barbaras Blick legte sich wieder auf mich. Unter ihren langen Wimpern musterte sie mich kalkulierend.

„Du siehst jemandem ähnlich und diese Person wollte ich eigentlich nie wieder sehen", erklärte sie in einer eisigen Tonlage.

Ein Schauer jagte meinen Rücken herunter.

„Ich habe nichts mit ihr zu tun", krächzte ich und klärte dann meinen Hals. „Wir wollen nichts Böses."

„Dann weißt du auch, von wem ich rede?", fragte sie mich und ihre Augen wurden noch mehr zu Schlitzen, falls das möglich war.

„Die Ähnlichkeit ist verblüffend, nicht wahr?", zuckte ich mit den Achseln.

„Na, gut", pustete sie aus, als hätte sie den Atem gehalten. „Ich weiß nicht, ob das gut enden wird, aber kommt mal herein."

Barbara, meine Mutter, trat einen Schritt zur Seite und öffnete uns die Tür. Wir traten ein, folgten ihr in die Bude. Viel Platz gab es nicht. Eine alte, verdreckte Couch stand mitten im Raum, eine kleine Küchen-Nische mit einer Menge an nicht gespültem Geschirr zierte die rechte Wand und eine Tür stand halb offen daneben. Man konnte gerade so ein Waschbecken sehen, wahrscheinlich das Badezimmer. Links gegenüber der Couch stand ein alter Fernseher, daneben nochmal eine Tür, die verschlossen war. Hinter der Couch, also gerade vor mir stand ein kleiner Esstisch.

„Setzt euch wo ihr wollt", meinte sie, lief zum Kühlschrank, fischte dort drei Flaschen heraus und drückte uns jeweils eine in die Hand.

Ich setzte mich auf die Couch, Snake neben mir und sie selber schnappte sich einen klapprigen Stuhl und setzte sich uns gegenüber. Ich konnte kaum meinen Blick von ihr wenden, musterte sie eingehend. Sie trug eine schwarze Leggings und darüber ein viel zu großes, graues T-Shirt, weshalb ihr Ausschnitt weit ging, aber auch nicht zu tief war. Vom Alter her wirkte sie noch jung, vielleicht vierzig, aber mehr auch nicht. Man konnte auch meinen, dass sie jünger wäre.

 „Dann schießt mal los", forderte sie uns auf. „Was wollt ihr von mir?" 

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