Kapitel 38

Die Tage verstrichen, die Wochen häuften sich, ehe ein neuer Monat anbrach. Mit der Zeit fasste ich doch mein Glück, versuchte meine Schmerzen zu minimieren, indem ich sie nicht weiter von mir stieß, sie verdrängte, sondern eher versuchte, damit zu leben, klar zu kommen. Denn meine Erfahrungen bewiesen mir, dass es nichts brachte, seine Sorgen irgendwo abzuschließen und so zu tun als seien sie nicht anwesend, denn das waren sie, egal was man tat. Allmählich gewöhnte ich mich daran, dass es nun doch schöner werden konnte. Mit Crystal, denn sie war meine Hoffnung, mein Anker, mein Lebenssinn.

Heute war ein wichtiger Tag, denn ich wollte Angelies Sachen aussortieren und das Zimmer räumen, da ich endlich weiter ziehen und die Schmerzen aus meiner Vergangenheit vergraben wollte. Crystal war unten und unterhielt sich mit den Frauen. Da ich bei meinem Vorhaben auch alleine sein wollte, kam es mir gerade sehr gelegen, dass sie nicht bei mir war. Für den Anlass hatte ich extra blau gemacht, damit ich nicht zur Firma musste. Ich atmete tief durch, als ich vor der Tür stand und im nächsten Moment blickte ich in Angelies Zimmer. Es fühlte sich so an, als würde ich ihre Anwesenheit spüren, als würde sie vor dem Fenster sitzen und die Aussicht in sich aufnehmen. Es war unvorstellbar, dass sie nicht mehr hier war und die Leere des Zimmers mich angähnte. Einen Schritt setzte ich an, da ich immer noch im Türrahmen stand, schlenderte nach vorne und setzte mich erst einmal an die Bettkante. Ihr Geruch haftete noch im Zimmer, es fühlte sich gut an, gut und vertraut. Angestrengt versuchte ich durchzuatmen, ich versuchte meine Gefühle in mir zu bändigen, denn sie wollten mich wieder in ein schwarzes Loch ziehen, wollten mich verschlingen, in die Finsternis ziehen.

In Gedanken versunken strich ich mit der Hand über die Bettdecke. Bis jetzt wurde hier nichts angerührt, denn ich wollte erst einmal mir selbst ein Bild verschaffen und alles nochmal durch meine Finger gleiten lassen, um damit auch wirklich abschließen zu können. Ich wusste nicht, was ich mir erhoffte, was ich dachte, das ich hier finden würde. Mit den Händen fuhr ich gestresst über mein Gesicht und füllte meine Lungen erneut mit Luft, als ich aufstand und an ihren Tisch lief. Die ersten Schubladen zog ich auf und sah nichts darin, sie waren leer. Alle drei Schubladen am Schreibtisch waren leer. Hatte sie denn nichts aufbewahrt, nichts angerührt? Auf dem Tisch stand nur eine kahle Lampe und sonst nichts. Es war so als hätte seit Langem hier niemand mehr gelebt, als wäre derjenige bereits ausgezogen und nicht tot. Ich lief weiter zu ihrer Garderobe, die noch ihre Bekleidung beinhaltete. Ein T-Shirt in die Hand genommen drückte ich es an mein Gesicht und atmete ein bis ich ihren Duft bis in meine Lungen wahrnehmen konnte. Mit geschlossenen Augen nahm ich es wieder herunter und lief mit dem Kleidungsstück in der Hand zu ihrem Nachttisch. In der ersten Schublade lagen Haargummis und ein Kamm, welches ich in die Hand nahm und zwei Haare darin entdeckte, goldblondes Haar. Ich legte alles wieder in die Schublade und zog die untere hervor, während ich mich erneut auf die Bettkante setzte und das T-Shirt neben mich legte. Hier wurde ich schon eher fündig, denn es lagen Bücher darin. Was das wohl war? Braunes Leder umhüllte das Büchlein, was noch ein Gummi an der Seite hatte, welches ich herunter schob und die hintere Seite aufklappte. Eine schöne Schrift nahm mein Blickfeld ein. Diese Handschrift würde ich immer und überall entdecken, denn sie war die, die der Person gehörte, die alles in meinem Leben auf den Kopf gestellt hatte. Von dieser Person kannte man einfach alles. Ich fragte mich, was das sein sollte, was hatte sie geschrieben? Ich fing an, die letzten Zeilen durchzulesen. Ich hatte genug von allem. Ich hatte genug von diesem Leben. Was sollte das heißen? Hatte sie hier ihre Gefühle niedergeschrieben? Lag ich mit der Annahme richtig, dass dies ihr Tagebuch war? Die Sätze davor schockierten mich eher. Mein Herz begehrte nur James und genau zu ihm wollte ich auch. Statt zu ihm zu finden, vergeudete ich hier meine Zeit mit Menschen, die mich und meine liebenswerte Mutter belogen hatten. Ich überflog einige Sätze und immer mehr riss sich diese Kluft in mir. Ihre Worte stachen tief in mein Herz. Meine Augen brannten, als ich die paar Zeilen durch las. Ich blätterte einige Seiten vor und je mehr ich in ihren Gedanken versank, desto mehr schmerzte mein Inneres, mein Blut fror ein, als ich ihren Bericht über James Beerdigung überflog. Ich starrte immer noch wie eine Wahnsinnige das Grab vor mir an. Wieso hatte ich überlebt? Wieso war ich momentan nicht neben ihm? Ihre Worte trieften nur so vor Kummer und Leid, dass ich eine Träne nicht mehr zurück halten konnte und sie auf das Blatt in meiner Hand fiel.

Dieses Büchlein war meine letzte Hoffnung, auf all meine Fragen endlich eine Antwort zu erhalten, sodass mein Herz durch die Aufregung schneller schlug. Würde sie wollen, dass ich das alles durchlas? Immerhin hatte sie das hier gelassen. War das etwa ihr Abschied? Ich beschloss, alles durchzulesen, wozu ich das Buch von vorne anfing. Die Worte flogen vor meinen Augen und manifestierten sich in meinen Gedanken, nahmen Gestalt an.

***

Langsam beruhigte sich die Lage und wir kehrten in unseren Alltag zurück. Ladislao ging es auch mittlerweile viel besser. Die Zeit verging wie im Flug, aber es machte mir nichts aus, denn was hatte die Zeit noch zu bedeuten, wenn doch alles gut lief? Mit Nadja und Camilla saß ich im Wohnzimmer, wir unterhielten uns lässig und spaßten herum.

„Ja, wir müssen dir endlich mal einen Mann finden", scherzte Nadja wieder einmal mit Camilla. „Wir könnten eigentlich raus, vielleicht in einen Club, damit du mal unter Leute kommst, hm?"

„Ich passe", verdrehte Camilla ihre Augen, was mich zum Lachen brachte.

„Warum denn nicht?", fragte ich.

Camilla spielte mit ihren Fingern auf ihrem Schoß und blickte uns nicht mehr an, als sie beschämt auf ihre Hände sah.

„Ahh", hob Nadja ihren Zeigefinger hoch, als hätte sie gerade einen Geistesblitz, „du hast schon jemanden in Sicht, kann das sein?"

Sie druckste herum und wurde augenblicklich rot. Wen hatte sie im Sinn?

„Wie, wo, wann?", stand ich auf und setzte mich auf das Sofa neben Camilla. „Von wem ist hier die Rede?"

„Ach, er würde mich doch niemals anschauen", wisperte sie leise und mir klappte die Kinnlade herunter.

„Wie?", fragte ich außer Atem, als ich durch den Schock diesen kurz angehalten hatte.

Nadja kam auf der anderen Seite von Camilla zum Sitzen, sodass wir sie zwischen uns nahmen und sie mit Fragen bombardieren konnten.

„Es ist nichts, Leute!", sagte sie bestimmt.

„Na ja, sieht aber nicht wirklich nach nichts aus. Erzähl schon", drängte ich sie weiter.

„Ihr wisst doch auf der Hochzeit", fing sie an zu erzählen, „da war ja Frederico auch da."

„Sag bloß", rief Nadja entsetzt aus und gab ihr einen Klaps auf den Oberarm, sodass Camilla nach vorne geschubst wurde und anschließend sich die Stelle mit der anderen Hand rieb.

„Er war irgendwie interessiert an mir. Auf der Hochzeit saß er mir auf der Pelle und gab mir keine Minute Ruhe."

Sie legte eine Pause ein und starrte weiterhin auf ihre Hände.

„Weiter?", sah Nadja sie aus großen Augen an, setzte sich ganz auf das Sofa, indem sie auch ihre Beine hoch nahm und sie mit ihren Armen umschlang.

„Ich habe ihn eigentlich immer höflich abgewiesen, aber anscheinend wollte er nicht ganz nachlassen."

„Was soll das denn heißen?"

Nadjas Augen wurden immer größer, kaum zu fassen, dass das überhaupt möglich war.

„Er hat vor einer Woche mir geschrieben. Keine Ahnung, wie er an meine Nummer gekommen ist und ja... seit dem schreiben wir regelmäßig. Ich weiß aber nicht wie das enden soll. Ich meine, ich... ich bin doch die Köchin von seinem besten Freund. Was will er von mir?"

„Quatsch, du bist eine hübsche Frau, Camilla, rede dir keine Selbstzweifel ein, bitte. Natürlich hat er gleich 'nen Narren an dir gefressen, ist doch klar. Kein Wunder, der hat ja auf der Hochzeit ordentlich an dir geklebt."

Ich steuerte nichts dieser Unterhaltung bei, da ich selber kaum etwas von dem mitbekommen hatte, was sie gerade besprachen, da ich zu sehr damit beschäftigt war, Snake in die Enge zu treiben, was ja zweifellos in die Hose ging. Nichts hatte ich aus ihm heraus bekommen.

„Sieh dir doch mal meine Geschichte an", erregte Nadja erneut meine Aufmerksamkeit. „Ich habe sowas wie meinen Boss geheiratet."

„Du wolltest mir mal eure Geschichte erzählen", fiel mir in dem Moment wieder ein, was wir vor langer Zeit besprochen hatten, als ich sie neu kennen lernte.

„Nicht jetzt", fuhr sie mich gespielt sauer an, „es geht hier gerade um unsere ewige Jungfer."

Für ihre Aussage kassierte sie dieses Mal einen Klaps von Camilla ein.

„Fang nicht schon wieder damit an, das ist sowieso das nächste Problem. Er hatte doch bestimmt viele Frauen."

„Machen wir uns nichts vor", stimmte Nadja ihr zu, „das hatte er bestimmt."

Beide seufzten augenblicklich.

„Hey, was ist los mit euch? Jetzt hört aber auf mit diesem... diesem", zeigte ich mit meinem Finger auf ihre Gesichter. „Ich denke wir könnten jetzt alle etwas Romantik gebrauchen. Nadja, erzähl schon, wie ihr euch kennen gelernt habt beziehungsweise wie ihr euch näher gekommen seid."

„Das ist alles andere als romantisch", blickte sie mir traurig in die Augen. „Ich hatte dir ja bereits erzählt, dass ich aus dem Land in die Stadt gezogen bin und hier dann einen Job gefunden hatte."

„Ja", nickte ich ihr zu, denn ich erinnerte mich noch an alles.

„Du kennst doch mittlerweile die Geschäfte, die hier so ablaufen, oder?"

Ich nickte ihr erneut zu und wartete geduldig, dass sie fortfuhr.

„Zu meiner Anfangszeit fand ich Gefallen daran Carlos immer zu nerven und ihn auf die Palme zu bringen. Das ging eigentlich auch eine geraume Zeit so, aber an einem Abend kam Ladislao mit einem angeschossenen Carlos nach Hause. Ich hatte solche Angst, denn er wurde drei Mal getroffen. Danach ging eigentlich auch alles relativ schnell, Ladislao ließ einen Arzt kommen, sie versorgten ihn, aber er konnte lange nicht richtig laufen, da die eine Schusswunde an seinem Oberschenkel war. Dieses Bein darf er heute noch nicht arg belasten, weshalb er weniger bei den Aktionen mitmacht und eher von Zuhause aus agiert."

Ich hörte ihr wie gebannt zu, denn eigentlich wollte ich ja die Stimmung auflockern, aber diese Geschichte war sehr schmerzhaft. Nadjas Augen füllten sich mit Tränen, jedoch war sie stark genug diese zurück zu halten.

„Dann habe ich lange Zeit für ihn gesorgt, Ladislao wollte seinen besten Kumpel wieder gesund haben, weshalb er mich ausdrücklich beauftragt hatte, mich nur noch um ihn zu kümmern und sonst nichts mehr in diesem Haushalt zu tun. Für mich war das die perfekte Ausrede, immer bei ihm zu sein und ihn zu unterstützen, denn als ich ihn an jenem Abend mit all dem Blut und den Verletzungen gesehen hatte, wusste ich, dass es um mich geschehen war. Ich spürte fast schon seine Schmerzen an meinem Körper, so sehr hatte es mir weh getan, ihn so verletzt zu sehen. Wenn ich könnte, hätte ich mich ohne jeglichen Gedanken vor die Schüsse gestellt, nur damit ihm nichts passiert wäre."

Sie schluckte, als sie sprach und lange konnte sie die Tränen auch nicht mehr aufhalten, stumm flossen sie ihre Wangen herunter. Camilla legte je einen Arm um unsere Schulter, da sie in der Mitte saß und zog uns an sich heran, sodass wir uns umarmen konnten.

„Das Leben ist manchmal einfach zu streng mit uns", flüsterte sie, als sie uns fester in die Arme nahm.

„Hey, ich bin hier doch die Ältere", schluchzte Nadja lachend.

Sie war eben wie sie war und konnte ihre verspielte Seite nie sein lassen, aber das war schön so, denn in jeder miserablen Lage musste man sich etwas zum Lachen finden. Ansonsten kam man niemals durch dieses unfaire Spiel, was sich Leben nannte.

„Es fühlt sich wunderschön an, wieder Menschen bei sich zu haben, denen man blind vertrauen kann", entfuhr es mir unüberlegt.

„Was meinst du?", fragten mich beide.

„Ich hatte damals eine gute Freundin, also in der Zeit auf den Straßen. Eines Tages gab es eine Schießerei unter den Gangs und ihr müsst wissen, dass ich damals sehr involviert war. Sie kam da nicht mehr heil heraus, gab ihren letzten Atemzug in meinen Armen. Von da an distanzierte ich mich von jedem, ich sank auf der Hierarchie wieder ganz nach unten, lebte in einer Sackgasse. Es war mir egal, ich besorgte durch kleinen Diebstahl nur noch das Geld, hielt Wache im Revier, aber in größeren Mist begab ich mich nie wieder."

Es war das erste Mal, dass ich diese Dinge beim Namen nannte, denn für gewöhnlich hatte ich mir sogar verboten allein die Sätze zu denken. An diesem Tag hatte ich auch Snake mit dieser Frau in seinem Büro erwischt, was mir den Rest gab, sodass ich ohne Bedenken einfach verschwand.

„Du musst ein wirklich hartes Leben gehabt haben", meinte Nadja daraufhin und griff über Camillas Schoß zu meiner Hand. Wir umarmten uns immer noch zu dritt.

„Es war nicht immer einfach", entgegnete ich wispernd.

„Als wir meinen Vater verloren damals, brach meine Welt zusammen", sprach Camilla.

„Wie geht's deiner Mutter mittlerweile?", fragte Nadja ebenso leise.

„Sie erkennt mich nicht mehr", antwortete sie voller Leid und Schmerz in der Stimme. „Ich weiß nicht, ob ich es übers Herz bringe, sie nochmal zu besuchen."

Lange sagte keiner mehr was. Es tat gut alles auszusprechen und zu teilen. Wir alle hatten unsere Sorgen und Probleme.

„Hast du nie wieder deine Familie besucht, Nadja?", wollte ich wissen.

„Nein, du musst wissen, dass ich damals geflüchtet bin."

„Warum?"

„Mein Vater war nicht einfach", meinte sie nur und schwieg.

Ich wollte sie nicht weiter bedrängen, weshalb ich nicht mehr nachfragte.

So kam es, dass wir wieder in Stille uns hielten und einfach die gemeinsame Zeit genossen. Gerade als kein Laut von uns zu hören war, schreckten wir hoch, denn von oben ertönten Gebrülle und Gepolter, als auch schon ein Schuss knallte. Wir sprangen von unserem Sitz auf und rannten nach oben.

„Was war das?", fragte ich in Eile.

„Keine Ahnung", meinten beide atemlos, als wir die Treppen hinauf rannten.

Die Geräusche kamen aus dem Flügel, in dem Alfonso hauste. Was war da los?

„Wie konntest du das machen? Wie konntest du so meine Zukunft ruinieren, ihr das antun?!"

Das war die Stimme von Ladislao, die würde ich überall und jederzeit erkennen. Als ich durch die Tür stürmte, sah ich, dass er eine Waffe auf seinen Vater gerichtet hielt, auf dem Boden vor Alfonsos Füßen lag ein Buch mit aufgeschlagenen Seiten, als wäre es auf ihn zugeschleudert worden. Was war hier los?

„Was redest du? Was soll ich getan haben?", fragte Alfonso verzweifelt.

„Das fragst du noch, kannst es wagen?!", brüllte er ihm ins Gesicht.

Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Nadja und Camilla standen noch vor dem Arbeitszimmer im Flur, sie trauten sich ebenso wenig herein zu kommen. Ladislao war vollkommen außer sich, schritt auf seinen Vater und haute ihm voller Wucht seine Faust ins Gesicht. Alfonso stolperte zurück und fasste sich an die Stelle. Die Frauen hinter mir schrien kurz auf, was ich ihnen gleich tat, denn das hatte niemand kommen sehen.

„Du willst sehen? Du willst wissen, was du getan hast!?"

Ladislao hob dieses Büchlein vom Boden auf, blätterte darin und schmiss es seinem Vater in die Hände, welcher es gerade so halten konnte und einen Blick hinein warf. Seine Augen wurden mit jedem Wort, mit jeder Zeile größer, geschockt wanderten seine Augen zu seinem Sohn und dann wieder auf die Seite in dem Buch.

„Das... das", stotterte er.

„Ich werde dich umbringen, du wirst schmerzhaft leiden!", schrie Ladislao voller Jähzorn und Hass, seine Augen leuchteten fast schon.

„Sowas kannst du doch nicht glauben, ich habe sie wie eine Tochter geliebt."

Alfonso sah einfach nur noch niedergeschlagen aus, sodass ich unbedingt wissen wollte, was in diesem Mist drin stand. So langsam gesellte sich auch Carlos zu der Szene und fragte, was los sei. Jedoch wurde er seitens Ladislao vollkommen ignoriert.

„Wie konntest du ihr das antun, ha?!", schrie er erneut los und stürmte wieder auf seinen Vater.

„Carlos!", schrie ich auf, damit er etwas tat.

Er packte Ladislao an den Armen und hielt ihn von seinem Vater zurück, aber man sah ihm deutlich an, dass er sich sehr schwer tat damit.

„Du bist das Letzte! Du bist kein Mensch mehr in meinen Augen! Ich werde dich umbringen! Lass mich los, Carlos!"

Ladislao lief hochrot an, ich hatte ihn noch nie so erlebt. Carlos tat sich sehr schwer, ihn weiterhin im Zaum zu halten, sodass er sich los riss und wiederholt auf seinen Vater stürmte. Er packte ihn am Kragen, ehe Carlos ihn erneut an den Armen fest hielt.

„Alfonso, geh raus!", schrie er, damit wir Ladislao beruhigen konnten.

„Ich würde so etwas nie machen, mein Sohn! Verstehst du denn nicht? Das ist ihre Rache! Du kennst mich doch!"

Alfonso klang immer verzweifelter, mit jedem Wort schien es so als würde sich noch mehr sein Hals zuschnüren. Er hatte eine Trauer in seinen Augen geschrieben, die endlos zu sein schien, sodass ich den Schmerz in mir spüren konnte.

„Du Lügner, Bastard!", schrie Ladislao ihn erneut an.

Plötzlich machte er sich von Carlos los und nahm die Waffe, die bei dem Tumult eben wahrscheinlich auf den Boden gefallen war, und richtete sie auf seinen Vater. Wir mussten etwas tun, denn in seinen Augen sah ich deutlich, dass er dieses Mal nicht zögern und auch nicht in die Luft schießen würde, weshalb ich nicht anders konnte, als dazwischen zu gehen, da ich nicht zulassen konnte, dass er solch einen großen Fehler beging, denn bereuen würde er es allemal.

„Hör endlich auf!", schrie ich ihn an und stellte mich genau in die Schusslinie.

„Verpiss dich!", spuckte er mir die Worte ins Gesicht. „Wer bist du schon!?"

Mein Herz schmerzte in der Sekunde.

„Alfonso renn!", schrie Carlos plötzlich, als Ladislao sich frei machte und auf mich zu gerannt kam.

Es passierte alles viel zu schnell. Ich rannte ihm entgegen, hinter mir stürmte Alfonso aus dem Zimmer und Ladislao knallte gegen mich, als ich versuchte ihn aufzuhalten.

„Geh mir aus dem Weg!"

„Nein!", blieb ich standhaft und stemmte mich weiter gegen ihn.

Wir mussten sicher gehen, dass Alfonso schon aus dem Haus war.

„Er hat mir alles genommen, einfach alles!"

„Beruhig' dich!", schrie ich ihn an, damit meine Worte endlich zu ihm durchdrangen, aber sie zeigten nicht den erwünschten Effekt.

„Geh mir bloß aus den Augen, was denkst du, wer du bist? Eine Ratte, die ich aus Mitleid mitgenommen habe! Das bist du!"

Ladislao packte mich grob an meinen Oberarmen, als er mich schüttelte und hasserfüllt diese Worte schrie. Meine Gedanken waren wie weggefegt, mein Herz riss tief ein – genau in der Mitte. Ich wusste nicht wie mir geschah, wie ich je in diese Situation kommen konnte. Das einzige, was ich wusste, war, dass meine Seele weinte, mein Inneres blutete.

„Hörst du nicht?!", schrie er noch lauter und schubste mich von sich weg, sodass ich taumelte und gerade noch so mein Gleichgewicht halten konnte. „Verpiss dich aus meinem Haus!"

Mehr als seine schmerzhaften Worte setzte sein Blick mich in Bewegung. Ich rannte aus dem Zimmer, den Flur entlang.

„Crystal!", rief mir Nadja hinterher, aber ich beachtete sie gar nicht mehr.

Niemanden mehr wollte ich sehen, niemandem mehr wollte ich vertrauen oder meine Gefühle schenken. Nein, diese Dummheit würde ich nie wieder tun. Ohne ein Ziel rannte ich aus dem Anwesen und im Anschluss durch die Tore, die noch durch Alfonsos Flucht offen standen. Die Security versuchte mich aufzuhalten, ich jedoch winkte diese nur ab, hörte ihnen gar nicht erst zu und rannte weiter die Straße entlang.

„Crystal!", ertönte es erneut hinter mir.

Ich legte noch einen Zahn zu, denn ich wollte keine Sekunde mehr in diesem Haus verbringen, es schmerzte einfach zu sehr. Als ich an der Kreuzung am Ende der Straße ankam hielt plötzlich ein Auto vor mir an. Das Fenster auf der Beifahrerseite fuhr herunter und ich blickte in ein vertrautes Gesicht. Eine Person, die mich nie wirklich verletzt und auch nie enttäuscht hatte. Obwohl man es nicht erwarten würde, war er der einzige Mensch auf der Erde, dem ich noch vertrauen konnte, denn er hatte mich schon ein Mal aus meiner Hölle befreit.

 „Steig ein, Perle, wir müssen reden!"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top