Kapitel 36
Ladislao ließ einen Wagen bringen, damit wir schnell zum Flugplatz konnten, um von da aus wieder in ein Privatjet einzusteigen. Wir wollten schnellstmöglich Zuhause ankommen. Ich traute mich kein Wort zu sagen und blieb einfach stumm. Mein Mann schien in seinen Gedanken versunken zu sein und ich wollte ihn nicht drängen. Was in ihm vorging, konnte ich überhaupt nicht einschätzen. Nachdem wir mit einem Wagen abgeholt wurden und nach Hause gefahren waren, ging Ladislao direkt seinen Vater finden, der sich in dem Flügel des Anwesens befand, in welchem er wohnte. Es war das erste Mal, dass ich in diesen Teil des Hauses kam.
„Vater!", brüllte Ladislao einmal durch den Korridor.
Am Ende des Ganges öffnete sich eine Tür und zum Vorschein kam er.
„Kommt ruhig", meinte er leise und hielt uns die Tür auf, als wir vor ihm standen.
Der Raum war ähnlich wie Ladislaos Arbeitszimmer eingerichtet. Wir setzten uns auf das Sofa, welcher in der Ecke des Raumes platziert war und Alfonso saß auf dem Sessel daneben.
„Was ist passiert?", fragte Ladislao.
„Wir wissen es auch nicht. Am Morgen hörten wir einen Schuss, rannten dahin, wo wir vermuteten, den Klang gehört zu haben und sahen sie, nachdem wir einige Räume abgeklappert hatten. Ich ging in dein Büro und sie lag so da..."
Alfonso wirkte erschöpft und lehnte sich auf die Rückenlehne zurück, als er augenblicklich seine Lider schloss. Ladislao stand abrupt auf und lief mit eiligen Schritten vor. Alfonso und ich wechselten einen fragenden Blick, ehe wir wie abgesprochen gleichzeitig aufstanden und ihm folgten. Als er vor seinem Büro ankam, schlug er mit einem Ruck die Tür auf. Ein Gestank drang aus dem Raum, den ich nur zu gut kannte. Blut.
„Wo ist sie?", brach Ladislaos Stimme, als er schluckte.
„Ich habe sie in die alte Fabrik bringen lassen, wir konnten unmöglich die Leiche hier lassen."
Die eine Wand war stark mit Blut bespritzt, wahrscheinlich hatte sie sich davor erschossen. Ladislao schritt zu dieser Wand und berührte die Tropfen. Da sie die Leiche schnell gefunden hatten, gab es auch keine große Lache im Raum, aber Spritzer gab es in dieser Seite des Zimmers viele. Angelies Rollstuhl stand blutverschmiert vor dieser Wand. Ladislao hielt sich an der Armlehne fest und kniete davor. Ich fühlte mich hilflos und verloren. Sollte ich ihn trösten? Ihr Tod ging mir ebenfalls nah, da ich sie auch etwas kannte, aber das war natürlich nichts Vergleichbares mit seinem Verlust. Paar Schritte vor gelaufen ging ich ebenfalls in die Hocke und schlang meine Arme um seinen Torso.
„Das tut mir so leid", flüsterte ich in seinen Rücken und drückte einen Kuss auf sein Schulterblatt.
Er kniete einfach nur da, sagte nichts, regte sich keineswegs. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Alfonso niedergeschlagen aus dem Raum ging und uns alleine ließ.
„Es ist meine Schuld", hörte ich Ladislao sagen.
„Sag so etwas nicht", wisperte ich.
„Ich hätte bessere Umstände für sie erschaffen können, stattdessen habe ich sie hier eingesperrt."
Daraufhin konnte ich nichts mehr erwidern, denn irgendwo stimmte das, was er sagte. Dass er sie hier behielt war einfach nur egoistisch und falsch. Natürlich würde ich das ihm gegenüber nicht laut erwähnen, denn diese Sache ging mich nichts an, es hatte nichts mit mir zu tun und so hatte ich auch nichts zu melden. An diesem Tag machten wir auch nicht mehr viel. Das Arbeitszimmer wurde gesäubert und Ladislao saß nur auf einen der Sessel, die vor seinem massiven Tisch standen und starrte die blutbefleckte Wand an. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte oder wie ich ihm behilflich sein konnte. Ihn so zu sehen schmerzte in mir, mein Herz ertrug es nicht. Dennoch konnte ich nichts tun, außer für ihn da zu sein. Er wollte nichts essen oder trinken. Den restlichen Tag starrte er nur diese dreckige Wand vor sich an. Ich hatte Angst, dass er sich in einem Schockzustand befand. Nach sechs Stunden hatte ich genug und ging ein weiteres Mal in sein Büro. Immer noch saß er wie vorher da. Ich schritt zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter, was er vollkommen ignorierte.
„Komm ins Bett, lass uns etwas schlafen. Morgen wird ein langer Tag."
Wir hatten abgesprochen, dass wir sie morgen beerdigen würden. Natürlich in Stille und in Verborgenem, das Begräbnis würde nur unter uns stattfinden. Ich hatte mit Alfonso bereits alles besprochen, da Ladislao selber nicht ansprechbar war. Immer noch zeigte er keine Regung. Ich stellte mich vor ihm, setzte mich auf seinen Schoß und nahm ihn in meine Arme. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und vergrub sein Gesicht dort. Fest umarmte ich ihn, da ich nicht wusste, wie ich sonst zu ihm eindringen konnte. Seine Arme schlang er ebenfalls um meine Mitte und drückte mich an sich. Irgendwie hatten wir es geschafft in dieser Position einzuschlafen. Es war keines bisschen gemütlich, aber momentan zählten andere Dinge. Ich konnte Ladislao einfach nicht von seinem Platz weg kriegen und alleine lassen wollte ich ihn auch nicht. Der Tag war anstrengend, der ganze Flug und die Umstände Zuhause, sodass ich meinen Kopf auf seinen legte und einschlief.
***
Mein Hirn wollte diese Informationen nicht verarbeiten, ich konnte es mir nicht eingestehen, nicht daran glauben, dass sie nun fort war. Niemals könnte ich mit dieser Tatsache klar kommen, ohne mich zu vergewissern. Crystal war eingeschlafen. Ich nahm sie in meine Arme und trug sie in unser Schlafzimmer. Auf dem Bett legte ich sie ab und deckte sie zu, damit ihr nicht kalt wurde, während sie schlief. Meinen Blick konnte ich nicht von ihr nehmen, da ich mich schuldig fühlte. Nie habe ich an Angelie gedacht und daran, wie es ihr ging. Stattdessen ließ ich mich von meinem Glück blenden.
Wann hatte ich zuletzt nach ihr gesehen?
Wann hatte ich zuletzt mir Gedanken um Angelie gemacht?
Wann? Verdammt, wann?!
Die Schuld lag allein an mir, nur an mir. Wie ein Tier hatte ich sie in dieses Haus eingeschlossen. Während sie ihr Leben verfluchte, vergnügte ich mich mit Crystal. Aber wie könnte ich das nur bereuen? Wie könnte ich meinen Engel bereuen? Nein, niemals! Ich hätte mich nur besser um Angelie sorgen müssen, wie damals als ich sie aus den Händen ihres Vaters rettete. Denn bei ihm hatte sie auch keine Zukunft. Aber hatte ich es besser gemacht? Wenn ich mir das Resultat nun ansah, dann definitiv nicht! Wieder nahmen mich meine Zweifel ein, wie in der Zeit, als ich von ihrem Betrug erfuhr. Diesen Abschnitt in meinem Leben wollte ich in die hinterste Kammer meines Inneres drängen. Jedoch kam nun alles hoch, was ich bisweilen erfolgreich verdrängt und woran ich seit Langem nicht mehr gedacht hatte.
Wieso konnte sie mir nie eine Chance geben? Was hatte ich ihr je angetan? Ich stand ihr immer zur Seite, aber sie wollte mich nie akzeptieren. Rannte mit meinem Kind davon, versuchte dieses einem anderen Mann anzuhängen. Ich musste sie sehen, ich musste wissen, dass ihr Körper kalt war und sich nie wieder erwärmen würde. Ich musste das mit eigenen Augen sehen, mich davon überzeugen, denn anders konnte ich diese Tatsache nicht akzeptieren. Nachdem ich mir irgendeinen meiner Autoschlüssel genommen hatte, lief ich zur Garage, stieg in den Wagen und startete den Motor.
Bis heute verstand ich nicht, wieso sie so sehr gegen mich war. Vielleicht hätte ich ihr die damalige Lage mit ihrem Vater erzählen sollen, warum wir sie tatsächlich aufnahmen. Dass er einfach Bankrott ging, hoch verschuldet! Hätten wir ihnen nicht geholfen, säße Janko im Knast und wer weiß, was aus ihr geworden wäre. Ich hatte ihr ihre Träume verwirklicht, ihr die Welt zu Füßen gelegt. Hätte sie mich doch nur ein bisschen akzeptieren können, wäre das alles nie so weit gekommen. Auch wenn wir nicht das perfekte Paar wären, hätten wir doch gemeinsam ein lebenswertes Leben gehabt. Was war das Ausschlaggebende, dass sie sich das Leben nahm? All die Zeit hatte sie unter diesen Umständen mitgemacht, warum jetzt nicht mehr? Was war es, was sie dazu brachte ohne zu zögern den Abzug zu betätigen? Meine ganze Vergangenheit holte mich ein, mein ganzes beschissenes Leben, all die Jahre in der Hölle.
Ich wollte ihr doch helfen, hatte ihr die besten Ärzte holen wollen, in die besten Rehabilitationszentren anmelden wollen. Sie hatte sich abgewandt und wollte keine Hilfe annehmen, egal was ich sagte. Gegen jede mögliche psychische oder physische Therapie wehrte sie sich. Eine Therapie funktionierte nur dann, wenn der Patient es auch wollte.
Quer hielt ich vor der alten Fabrik an, stellte den Motor ab und stieg aus. Mit eiligen Schritten lief ich in die Fabrik, die einst einer großen Metzgerei Kette gehörte. Daher hatte diese hier auch Kühlräume. Das war nun unwichtig, ich musste sie sehen und spüren. Das große Tor am Eingang aufgeschlossen trat ich in die Halle und lief direkt zum Kühlraum. Die große dicke Stahltür drehte ich am großen Rad vorne auf und schritt hinein.
„Boss...", setzte jemand hinter mir an.
Ich hielt nur meine Hand hoch ohne mich umzudrehen, um ihm zu zeigen, dass er still sein sollte. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch und da lag sie. Nur bedeckt mit einem weißen Tuch auf dem Tisch. War ich bereit? Ja, das war ich!
„Angelie", hauchte ich, als ich neben sie trat, das Tuch von ihrem Gesicht nahm und es auf ihre Brust faltete.
Die Lippen blau, die Haut bleich. Sie sah einfach nur tot aus. Ihr schimmerndes, goldenes Haar sah strohig und leblos aus. Eine stumme Träne bahnte sich ihren Weg aus meinem Augenwinkel und tropfte auf ihre kalte Wange. Diesen Anblick könnte ich nie wieder aus meinem Gedächtnis löschen. Es zerriss mir das Herz, zerstückelte es. Jede Hoffnung in mir flog davon. Flog davon an die kahle Decke. Wie konnte es nur so weit kommen? Hätte ich gewusst, dass wir eines Tages so enden würden, hätte ich Janko einfach umgebracht. Und Angelie... ja, Angelie würde irgendwie fertig werden mit allem, irgendwie hätte sie gearbeitet, weiter studiert und ihr erwünschtes Atelier immer noch eröffnet. Ihr damaliger Kampfgeist war stark, sie hätte es irgendwie geschafft. Davon war ich fest überzeugt. Hätte ich mich nur nicht in sie verguckt, hätte ich mich doch nur zurück gehalten und mich nicht in ihren schwarzen Augen verloren, die einen tiefgründig und wissend ansahen. Ich nahm ihre zierliche, kalte Hand unter dem Tuch hervor und hielt sie in der Hoffnung, sie erwärmen zu können, zwischen meinen Händen. Aber sie blieb kalt, fühlte sich sogar noch kälter an. Wie war das möglich? Ich nahm ihre Hand höher und hauchte an ihre Haut, um ihr Wärme zu schenken.
Am Rande hatte ich Crystal mit meinem Vater reden hören, als ich erstarrt in meinem Büro saß. Alfonso erzählte ihr, dass Angelie den Knauf der Pistole an ihre Schläfe gehalten und abgedrückt hatte. Eine Bandage wurde seitlich an ihren Kopf angebracht. Sie hatten anscheinend Angelie schon zusammengeflickt, gewaschen und gesäubert, da sie weder Blutflecken noch offene Wunden hatte.
In dem Moment war alles vergessen. Ihre Fehler, meine Fehler. Einfach alles. War das noch bedeutsam, wenn sie doch nicht mehr unter den Lebenden weilte? Was zählte noch? Ja, richtig, nichts mehr, absolut nichts mehr. Wäre sie am Leben, hätte sie doch nur noch mehr Unheil über mich gebracht. Ich würde stolz jeder Sorge wie ein Fels entgegen stehen, wäre sie doch nur am Leben. Eine weitere Träne floss auf unsere verschränkten Hände. Mit einer Hand hielt ich noch ihre und mit der anderen strich ich über ihr goldenes Haar. Musste es soweit kommen?
„Was ging alles in dir vor?", flüsterte ich ganz leise, denn meine Stimme war wie verschwunden, mein Hals zugeschnürt. „Es tut mir leid."
Ich schämte mich einfach nur. Für alles. Für mein ganzes Leben. Hätte ich härter um sie kämpfen sollen? Aber was könnte ich noch tun? Sie blockte mich immer ab. Das einzige, was sie annahm war nur ihr Atelier und das auch nur deshalb, weil das schon immer ihr größter Traum war. Kunst war ihre Leidenschaft. Das Malen oder Skulpturen erschaffen, die für mich nichts darstellten, aber für sie die Welt verkörperten. Ich hoffte, dass sie mir verzeihen würde, denn ich hatte ihr verziehen. Jetzt, wo ich ihren leblosen Körper vor mir liegen hatte, war mir alles egal. Es war mir egal, dass sie mir mein Kind vorenthalten wollte, dass sie mich betrogen hatte, dass sie mir noch nie eine Chance gegeben hatte. All mein Ärger flog dahin und es blieb nur eine Leere. Abschied war nun angesagt. Ich strich über ihre kalte Wange, beugte mich vor und drückte ihr einen Kuss auf ihre blauen Lippen.
„Ich liebe dich, schlaf gut", hauchte ich, ehe ich ein letztes Mal sie auf ihre Stirn küsste und das Tuch über ihr Gesicht zog.
Niemals hätte ich gedacht, dass der Tod eines Menschen mich so sehr mitnehmen würde. Ich hatte viele Leben auf dem Gewissen, aber solche intensiven Gefühle hatte ich noch nie, als würde ein Loch in mir reißen und alles in sich aufnehmen, grob und bestialisch. Wie sollte ich weiter machen?
Andererseits war ich so sauer auf sie. Sie hatte mir bis heute das Recht auf ein normales Leben genommen - abgesehen von meinem Geschäft natürlich. Ich konnte nicht einmal richtig meiner Tochter nachtrauern. Ich wusste, dass das Kind nicht von James war. Als sie den Unfall hatten, welcher so nicht geplant war, da ich lediglich nur wollte, dass sie nicht weiter fahren konnten, aber der Idiot sogar die Bremskabel durchgeschnitten und die Flüssigkeit laufen lassen hatte, war das Kind schon sehr ausgewachsen, es war schließlich kurz vor der Geburt. Ich konnte nicht anders, als einen DNA-Test anzufordern. Er war positiv. Angelie war von mir schwanger. Bis heute wusste ich nicht, ob sie das wusste oder ob sie tatsächlich dachte, dass der Vater dieser James wäre.
Jedes Mal nahm sie mir mein Glück irgendwie weg. War es schlimm, dass ich sie damals wollte? War ich wirklich ein so ekliger und schlimmer Mann, dass sie mich nie lieben lernte? Nun tat sie das wieder. Gerade als alles gut zu laufen schien, funkte sie mir dazwischen. Es war falsch von einer toten Person so zu denken, aber ich konnte meine Gedanken nicht zügeln. Ich musste aufhören so zu denken! Es brachte nichts mehr einen toten Menschen zu beschuldigen. Sie würde ihre Ruhe neben unserer Tochter finden. Sie hatte ihr Grab hier in der Nähe, da das Baby beerdigt werden musste. Ich hatte sie lange nicht mehr besucht und fühlte mich umso schuldiger, falls das überhaupt noch möglich war.
So viel war geschehen in den letzten zehn Jahren meines Lebens. Meine Beine trugen mich nicht mehr, die Last auf meinen Schultern fühlte sich bleischwer an, weshalb ich mich an die Wand lehnte, nach unten gleiten ließ und auf den frostigen Boden setzte. Meine Tränen hörten kaum noch auf, sie flossen nur so aus meinen Augen heraus. Hatte ich jemals im Leben so sehr geweint? Nein... Angelie war und würde auch die einzige Frau bleiben, die so viele Gefühle in mir erweckte, positive, so wie auch negative. Meine Arme legte ich auf meine Knie, die Beine angewinkelt, und bettete meinen Kopf darauf. Angelie... mit einem Sturm kam sie in mein Leben und verließ dieses ebenso. Erneut fragte ich mich, wie ich nun weiter machen sollte. Und die Antwort war simpel: wie immer. Schon immer lebte ich in einem Scherbenhaufen. Von meinen Albträumen um meine Mutter, die meine Kindheit ausmachten, angefangen bis heute. Bis jetzt.
***
Ich wachte in meinem Bett auf und wunderte mich, wie ich hier her kam. Meine Erinnerungen hörten dort auf, als ich Ladislao in die Arme nahm und so eingeschlafen war. Wo war er? Ich schoss augenblicklich hoch und sah mich um. Nichts, er war nicht da. Wie tief war ich eingeschlafen, dass ich kaum bemerkt hatte, wie ich in dieses Zimmer kam und wann Ladislao mich alleine ließ? Ich nahm mein Handy in die Hand und sah, dass es noch relativ früh am Morgen war. Mich im Bad frisch gemacht zog ich mir einige Sachen an und wählte dabei alles in schwarz. Über meiner engen Jeans trug ich eine lockere Bluse mit einem V-Ausschnitt, aber darunter hatte ich mir ein T-Shirt angezogen, dass man mein Dekolletee nicht sah.
Im Haus suchte ich nach irgendwem, aber fand im ersten Moment niemanden und beschloss deshalb nach Camilla zu suchen. Sie wüsste bestimmt, wo die alle waren. Als ich in die Küche trat sah ich eine weinende Marina, die von Camilla und Nadja getröstet wurde. Marina kannte Angelie schon seit Jahren, sie musste sie sehr vermissen.
„Wie geht es dir?", fragte ich sie, als ich zu ihr trat und kam mir dabei sehr bescheuert vor.
Wie sollte es der armen Frau auch gehen?
„Das war meine Schuld", schluchzte sie augenblicklich los und brach zusammen, sodass sie sich kaum auf ihren Beinen halten konnte.
Nadja und Camilla griffen gleich zu ihren Armen und hielten sie fest. Ich wollte nicht tatenlos da stehen und schob einen Stuhl zu ihr, damit sie sich setzen konnte.
„Ich habe sie so tief enttäuscht", weinte sie weiter.
Sie tat mir leid. Vor ihr hingekniet hielt ich ihre Hände und versuchte sie irgendwie zu trösten.
„Gib dir keine Schuld, wir hätten es nicht wissen können."
Beim Trösten war ich einfach keine Hilfe, ich konnte das überhaupt nicht.
„Ich war der letzte Mensch, dem sie noch vertraut hatte und ich hab sie einfach nur enttäuscht", wiederholte sie abermals.
Ich hatte Angst um sie, da sie auch nicht mehr die jüngste war. Die beiden Frauen an ihrer Seite versuchten sie zu trösten und beim besten Willen bekamen sie das tausend Mal besser hin als ich.
„Sie hatte etwas erfahren, was sie nicht wissen sollte und das ist allein meine Schuld", schluchzte sie erneut erschütternd los. „Ihr Vater ist gestorben und dann kamen da diese Anwälte."
Wir konnten sie gerade so verstehen, da sie immer wieder wegen ihrem Schluchzen schlucken musste.
„Ihr Vater ist gestorben und das Erbe... das Kind... mein Kind."
Marina brabbelte einzelne Wörter, die wir nicht ergänzen und sinnvoll zusammenknüpfen konnten.
„Was? Was sagst du da?!", brüllte Ladislao hinter mir, sodass wir alle abrupt zusammenzuckten.
Wann war er aufgetaucht? Ich stand von meiner Hocke auf und stellte mich neben Camilla.
„Ich... ich... es tut mir so leid", weinte Marina noch stärker.
„Erzähl mir alles, hörst du? Alles!", knirschte er wütend.
Seine Stimme duldete keine Widerrede. Marina schüttelte ängstlich ihren Kopf und sah uns durch ihre verheulten Augen hilfesuchend an.
„Sag schon, was weißt du? Was ist passiert?", schrie Ladislao dieses Mal lauter.
„Janko ist tot und da kamen diese Männer. Ich dachte, es wäre besser, wenn sie gleich dabei ist und alles mithört."
Sie brach ab und fing laut an zu weinen. Ich hatte noch nie einen Menschen so stark weinen sehen. Ihre Augen waren knallrot, die Nase rümpfte sie immer wieder, versuchte mit einem durchnässten Tuch die Flüssigkeiten aufzufangen.
„Sie hat das mit Sandro erfahren."
Jetzt weinte sie umso mehr. Wer war Sandro? Ich verstand gar nichts mehr und erneut wurde mir vor Augen geführt, dass ich keineswegs ein Teil dieser Familiengeschichte war.
„Was... was redest du?", stotterte Ladislao.
„Ich... ich war noch so jung damals. Heute würde ich das doch niemals machen."
Marina konnte kaum noch einen anständigen Satz zustande bringen, sie schluchzte, weinte und wimmerte.
„Wie konntest du zulassen, dass so etwas passiert?", brüllte Ladilao die arme Frau erneut an.
Das erste Mal sah ich ihn so wütend und aufgebracht.
„Für was habe ich dich hierher geholt, hm?!", brüllte er erneut los. „Du warst der einzige Mensch, mit dem sie noch sprach. Wie konntest du so blöd sein und sie in dieses Gespräch einweihen? Hast du nun komplett den Verstand verloren?!"
Mittlerweile war Ladislao vor ihr und rüttelte sie stark an ihren Armen. Seine großen Hände bohrten sich in ihre Oberarme, was Marina noch mehr zum Weinen brachte. Ich musste irgendetwas tun, er würde sie noch mit bloßen Händen zerquetschen.
„Ladislao", legte ich meine Hände an seinen Oberarm, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.
Jedoch brachte das nichts, er bemerkte mich nicht einmal und verletzte weiterhin mit seinen Worten Marina, schrie sie an, wie sie doch so dumm sein konnte.
„Hör auf!", schrie ich ihn an, da er mich sonst nicht zu hören schien.
Augenblicklich legte sich seine Aufmerksamkeit auf mich, ehe er Marinas Arme los ließ und aus der Küche stürmte. Scheiße! Als ich ihm hinterher rannte, hielt mich Alfonso an der Treppe oben vor der Eingangstür auf.
„Lass ihn, er wird schon", meinte er nur und führte mich ins Wohnzimmer.
Alfonso schenkte mir ein Glas Wasser ein und überreichte mir dieses.
„Keine Sorge mein Sohn kommt klar, er ist stark", meinte er mit einem stolzen Lächeln im Gesicht. „Ich werde ihn später bringen lassen, Carlos weiß mit ihm umzugehen. Wir sollten uns um die Beerdigung kümmern."
Er hatte Recht. Wir mussten Angelie angemessen verabschieden. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich jetzt in ihr Zimmer gehen und es leer vorfinden würde. Es war seltsam, wenn ein Mensch plötzlich weg war. Einfach so, wortwörtlich vom Erdboden verschluckt. Vor unserer Abreise war sie noch in ihrem Zimmer, einsam und verloren. Wir trugen alle Mitschuld. Ich habe mich ebenso wenig um sie geschert. Sie ließ auch niemanden an sich heran! Aber verdammt, das war doch keine Ausrede.
„Wir haben es alle verbockt, sowas von", sagte ich an Alfonso gewandt.
„Ja, wir haben alle Fehler gemacht", blickte er traurig auf seine Hände. „Ich erinnere mich noch daran, wie sie damals war, als wir sie noch neu kennen lernten."
Seelisch blickte er vor sich hin und hatte ein Schmunzeln um seinen Mund. Die Haut faltete sich leicht um seine Mundwinkel. Er war für sein Alter noch sehr gut in Form, trotz dessen ließ die Zeit doch ihre Spuren auf seiner Haut.
„Sie war dickköpfig und kämpferisch. Eine wunderschöne junge Frau. Wir haben sie zerstört, obwohl wir ihr eigentlich nur helfen wollten. Sie sah das nur nie."
Alfonso knotete seine Hände auf seinem Schoß und blickte darauf. Es sah so aus, als würde er nichts mehr sagen wollen und ich beließ es dabei, fragte nicht weiter nach. Nach einer halben Stunde standen wir auf, um uns um die Beerdigung zu kümmern. Alfonso meinte, er würde Carlos losschicken, um nach Ladislao zu suchen und dass ich mir keine Sorgen um ihn zu machen bräuchte, er hätte vieles alleine überstanden. Das mag zwar richtig sein, aber ich wollte nicht, dass er irgendetwas noch alleine verarbeiten musste, er hatte mich. Von nun war ich immer an seiner Seite und das wollte ich ihn auch so spüren und wissen lassen.
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