Kapitel 24

Ohne es zu merken konnte sich unser Leben von einer Sekunde zur anderen ändern. Hatten wir es verdient, das zu erleben? Geschah es uns recht? Oder mussten wir durch etwas, was wir so nicht verdient hatten?

Nach dem Unfall wachte ich in einem Krankenhaus auf. Wäre ich das nur nicht. Es war der schlimmste Moment in meinem Leben. Ich kannte keine einzige Situation, keinen einzigen Tag, an dem es mir beschissener ging wie in diesem Moment. Dieses Gefühl würde ich niemals vergessen, dazu hatte es mich zu sehr gebrandmarkt. Zu gut erinnerte ich mich daran, wie verzweifelt ich mich gefühlt hatte, einfach nur verloren und hoffnungslos. Dieser Moment der Realisierung. Am Tag zuvor floh ich noch vor meinem größten Alptraum und am Tag danach holte mich dieser gnadenlos ein.

Keiner konnte es verstehen, niemand würde es nachvollziehen können. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich eine psychische Therapie ablehnte. In dem Augenblick, als ich im Krankenhaus meine Augen öffnete und merkte, dass so ziemlich absolut nichts mit mir in Ordnung war, was noch wie gestern in meinen Knochen haftete, holte mich die bittere Realität ein und zog mir den Boden wortwörtlich unter den Füßen weg.

Das Bett zog mich an diesem Tag so fest in sich, dass ich mich extrem schwer fühlte. Im nächsten Moment sollte dies mir noch klarer vor Augen geführt werden. Ich spürte unterhalb meines Kreuzes nichts mehr. Ich wollte aufstehen, wollte mich bewegen, aus dem Raum stürmen, den Grund erfahren, wieso mein Bauch auf einmal so flach war. Aber nichts davon konnte ich verwirklichen. Ich sah hinab und sah auf meine schlappen Füße. Eine Bandage lag um meinen Beinen, und etwas fixierte meine Beine in dieser Position, jedoch war nicht ich das.

Niemals könnte ich diesen Moment vergessen, als es mir dämmerte, dass ich meine Beine nicht spürte. Nicht einmal die dicke Bandage oder das Bett unter mir. Nichts. Einfach gar nichts.

Ein Schrei ertönte, markerschütternd. Mein Hals brannte und ich bemerkte, dass ich schrie. Plötzlich stürmten Leute in weißen Kitteln herein. An mehr erinnerte ich mich nicht. Ich wusste nur noch, wie ich am nächsten Tag aufwachte und mit den bitteren Tatsachen konfrontiert wurde. Dass mein Kind nicht mehr in mir war, konnten sie zwar nicht verheimlichen, aber dass ich auch James verloren hatte, erfuhr ich in den darauf folgenden Tagen von Marina, die mich regelmäßig besuchen kam und die meiste Zeit über mit mir im Krankenhaus war.

Nun lagen diese grausamen Tage hinter mir, aber sollte ich sie deshalb vergessen können? Nein, im Gegenteil, sie markierten einen für's Leben. Unvergessliche Momente und Tage, die einen bis ans Ende seiner Zeit begleiteten. Noch heute trieben mir diese Erinnerungen einen Schauer über den Rücken.

Das Schlimmste an allem war, dass die Schuldigen sich nicht für schuldig hielten, dass sie keine Reue zeigten. Klar, Ladislao kam regelmäßig zu mir und bettelte um Gnade und Verzeihung. Niemals zeigte er Reue. Nein, dafür war er zu stolz. Hätte ich ihm überhaupt verziehen, wenn ich wirklich gesehen hätte, dass er reuevoll sich entschuldigte? Die Antwort war klipp und klar: Nein. Was er mir angetan hatte, war nicht etwas, was mit der Zeit heilen oder in Vergessenheit geraten könnte.

Innerhalb weniger Tage hatte ich zwei Menschen verloren, die damals mein Leben ausmachten, mir überhaupt einen Grund gaben, zu kämpfen. Mit einem Schlag wurde mir das genommen.

Mein Geliebter hatte nicht einmal einen angemessenen Abschied bekommen. An seine Beerdigung erinnerte ich mich, als wäre sie gerade gestern passiert. Marina überredete Ladislao, bis heute wusste ich nicht, wie sie das geschafft hatte, dass ich zu seiner Beerdigung durfte. Ich saß still da und betrachtete die Prozedur, als wäre ich auf einer fremden Beerdigung. Keine Worte fielen, nicht einmal seine Schwester redete. Mit ihr waren noch weitere zwei Gäste anwesend. Nämlich James' beste Freunde. Sie hatten uns auch sehr bei unserer Flucht geholfen, aber bisweilen wusste das Ladislao nicht. Wahrscheinlich würde er dann auch sie umbringen wollen. Die Beerdigung war das letzte Mal, dass ich dieses Anwesen verlassen hatte. Seit dem Tag hatte ich kein Fuß außerhalb dieses Gefängnisses gesetzt.

James' Freunde sprachen mir und seiner Schwester gegenüber ihr Beileid aus, so dass am Ende nur noch wir zu zweit da standen und auf das nun geschlossene Grab herab sahen. Marina stand weiter abseits, wartete auf den Moment bis ich signalisieren würde, dass sie mich zum Wagen rollen sollte.

„Wie konnte das nur passieren?", fragte mich Anissa, James' Schwester, weinend.

Ich konnte auf ihre Frage keine Antwort geben, denn es gab keine. Niemals würde ich den dummen Fehler begehen und sie in irgendeiner Weise mit den Carbones konfrontieren. Zwar wusste sie, dass wir wegen meinem Ex-Mann auf der Flucht waren, aber sie wusste nie, um was es sich genau handelte.

„Ein Unfall", krächzte ich, da ich seit langem kein Wort über meine Lippen gebracht hatte.

Sie fing umso heftiger an zu weinen, kniete vor mir sich hin und griff nach meinen Händen, die auf meinem Schoß lagen.

„Es schmerzt so sehr", flüsterte sie. „Wie hältst du es aus? Wie kannst du nur so ruhig bleiben?"

Laut schluchzte sie los und legte ihren Kopf auf unsere Hände. Ich spürte ihre Tränen auf meiner Haut. Keine Worte legten sich in meinem Kopf zusammen, die ich hätte sagen können, damit sie Trost fand. So gerne hätte ich sie in irgendeiner Weise beruhigen wollen, aber es gelang mir nicht. Ich fühlte mich schuldig, schmutzig und einfach nur nutz- und machtlos, wie ausgeliefert. Anissa weinte immer mehr und ich ließ sie, denn zumindest das würde ihr in dem Moment helfen. Ich gewiss nicht, denn nicht einmal mir konnte ich helfen. Wie eine Hülle ohne Leben und Emotion, saß ich da auf meinem Rollstuhl und ließ die trauernde Frau weinen, damit wenigstens sie sich beruhigen konnte, wenn auch nur etwas. Ihr Schluchzen riss mein gebrochenes Herz noch mehr an.

„Hör auf", brachte ich über meine trockenen Lippen hervor und entzog eine Hand aus ihrem Griff, damit ich ihr über ihren Kopf streicheln konnte. „Mach es nicht schlimmer als es schon ist."

So langsam ebbte ihr Schluchzen ab, jedoch rannten dafür umso mehr Tränen über ihre Wangen und verfingen sich in unseren Händen.

„Wie soll ich nur weitermachen?"

Pscht", machte ich. „Du wirst zu trotz besser Leben. Für ihn und für deine Nichte."

In Gedanken fügte ich noch mich selbst zu der Liste, da mir durchaus bewusst war, dass ich nicht mehr lebte. Wo ich nun stand, war mehr als offensichtlich. Wenigstens sie sollte weitermachen können. Das hatte sie verdient. Sie war ein herzensguter Mensch mit einer endlosen Liebe für all ihre Mitmenschen. Die Welt brauchte solche Menschen wie sie. Und genau aus diesem Grund musste sie weitermachen. Sie musste einfach.

Wir blieben noch lange dort und versuchten aneinander Kraft zu geben. Nach gefühlter Ewigkeit ging sie und es fing langsam an zu dämmern. Ich starrte immer noch wie eine wahnsinnige das Grab vor mir an. Wieso hatte ich überlebt? Wieso war ich momentan nicht neben ihm? Es wäre dann so viel einfacher für mich gewesen. Irgendwann verabschiedete auch ich mich von ihm und versprach, dass ich mich beeilen würde. Aber davor hatte ich noch eine Rechnung offen.

Seit diesem Tag hatte ich Anissa nie wieder gesehen. Sie hatte zwar mehrmals versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen, aber ich wollte ihr das nicht antun. Sie sollte nicht zusehen, wie ich von Tag zu Tag immer mehr starb. Sie sollte nicht sehen, wie elendig es mir ging. Ich ließ sie im Unklaren, aber ändern konnte ich daran nichts mehr.

***

Als ich aufwachte war es draußen dunkel, das Mondlicht erhellte die Finsternis und ein leichter angenehmer Wind hauchte durch das offene Fenster ins Zimmer. Meinen Arm angewinkelt legte ich eine Hand unter meinen Kopf, sah auf die Decke meines Zimmers und lauschte Crystals regelmäßigem Atem. Den Kopf in ihre Richtung gewandt sah ich zu ihr, wie sie ihren Kissen fest umklammert hielt, wobei sie auf dem Bauch lag und ihre schwarzen Haare sich auf dem Bett ausweiteten. Die Bettdecke umschmeichelte ihre Hüfte, weshalb ihr Rücken entblößt war. Mit der Zeit, die sie hier verbracht hatte, sah sie immer gesünder aus, hatte mehr auf ihren Rippen.

Ihr Duft haftete noch von den vergangenen Stunden an mir. Noch nie kam es vor, dass ich mit einer Frau mehrmals schlief, weil ich sie wollte. Meistens war der Grund einfach, dass ich mich mehrmals befriedigen wollte und ganz sicher nicht wegen meiner Begierde dieser Frau gegenüber. Aber bei Crystal war es anders, es hatte sich vollkommen angefühlt. Ich hatte nicht genug bekommen, denn meinetwegen konnte ich sie gleich nochmal nehmen, aber ich hatte Angst, dass ich sie verschrecken würde. Mich etwas seitlich gelegt konnte ich sie besser betrachten, auch wenn ihr Gesicht nicht in meine Richtung gewandt war, wollte ich dennoch ihren nackten Rücken ansehen. Meine Finger glitten durch ihr weiches, langes Haar. Sie war wunderschön. Mein Schatz war wunderschön.

Dieser Tag hatte mich geprägt, so schnell würde ich ihn niemals vergessen wollen und können. Erneut fragte ich mich, wie ich sie nur verdient hatte, wie mir das Schicksal nach all dieser schlimmen Zeit solch ein Geschenk parat hielt. Würde ich endlich mein Glück finden? Hatte ich es verdient, glücklich zu sein, Glück zu empfinden? Diese Frage konnte ich mir beim besten Willen nicht beantworten, denn insgeheim wusste ich, dass ich dies eben nicht tat. Nein, ich hatte kein Glück der Welt verdient. So simpel war die Antwort, aber konnte man diese sich auch wirklich eingestehen? Ein Mensch, gleich nebenan, litt meinetwegen Höllenqualen und ich sollte nun glücklich werden? Wie ironisch das Leben doch war. Aber sollte ich tatsächlich einsam sterben? Wegen meiner Vergangenheit meine Zukunft in den Ruin treiben? War dies die gerechtere Art und Weise?

Crystal bewegte sich, drehte sich im Schlaf um, sodass ich ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie schlief tief und fest weiter. Mein Blick glitt von ihrem Gesicht weiter herunter auf ihre Brüste, die sich bei jedem Atemzug senkten und hoben. Schön, war das einzige Wort, welches mir in dieser Sekunde in den Sinn kam.

Die Decke umklammert zog ich sie ihr weiter hoch und bedeckte ihre Nacktheit. Gerade als ich meinen Arm wieder zurück legen wollte, griff sie nach meiner Hand drehte sich etwas von mir weg, sodass ich sie umarmen musste und sie meine Hand umklammerte, indem sie diese an ihre Brust drückte. Ich rückte näher an sie heran, ihr nackter Rücken schmiegte sich an meine Brust. Den freien Arm schob ich unter ihr Kissen, sodass sie nun in meinen Armen lag und ich sie festhalten konnte. Ein zufriedenes Seufzen entkam ihr.

Was passierte hier? Ich wollte dieses Mädchen nie wieder hergeben, keiner sollte ihr was Böses wollen, niemand durfte ihr wehtun! Unbewusst, in meinen Gedanken vertieft, stärkte ich den Druck meiner Arme um ihr, zog sie schon fast in mich hinein. Noch nie hatte ich dermaßen das Gefühl, eine Person beschützen zu müssen, oder mich um jemandes Wohlergehen zu sorgen. Meiner Kleinen sollte es gut gehen, sie sollte alles bekommen, was sie wollte. Ich würde schon dafür sorgen, dass sie glücklich wurde, so wie sie mir diese Freude gab. Es war das Mindeste, was ich für sie tun konnte, nachdem sie mich so glücklich gemacht hatte und dies auch weiterhin tun würde. Das wusste ich. Ich war mir sicher, dass sie Wert auf mich legte, dass ich ihr etwas bedeutete, da sie sich wirklich um mich Sorgen machte. Es war schön zu wissen, dass man erwartet wurde, dass eine Seele da war, die einen ohne Fragen zu stellen unterstützte, der man tatsächlich trauen konnte. Auch wenn es naiv von mir war ihr zu vertrauen, tat ich es, warum auch immer. Sie verheimlichte mir etwas, das wusste ich genauso wie, dass sie mich niemals hintergehen würde. Die Sache mit Snake beschäftigte mich sehr. Was war ihr Verhältnis zueinander? Carlos hatte auch nicht mehr heraus gefunden, als dass eine „Cry" für Snake gearbeitet hatte, aber war das auch wirklich meine Crystal?

Die Betrüger waren nun beseitigt, für's Erste natürlich. Meine Gedanken schweiften zu den leeren und toten Augen, die mich letzte Nacht alle angesehen hatten. Im Nachhinein konnte ich selber kaum fassen, was ich alles angestellt hatte, aber es musste so sein. Dieses Leben hatte ich mir nicht ausgesucht. Manchmal wünschte ich mir in eine normale Familie geboren zu sein. Sie musste nicht einmal reich sein. Nein, ein sich liebendes Elternpaar, vielleicht ein oder zwei Geschwister.

Würde Crystal mal Kinder wollen? Ich wollte keine...

Ah, was dachte ich nur. Ich wurde schlimmer als diese verträumten dummen Frauen, die mich dauernd versuchten zu kontaktieren. Als würde ich mir eine von diesen Schlampen aussuchen, vor allem nachdem ich meine Kleine gefunden hatte. Keine konnte ihr das Wasser reichen.

Kurz drückte ich sie an mich und küsste sie hinter ihrem Ohr. Der Duft ihrer Haare stieg mir in die Nase und erfüllte mein Inneres mit Frieden. Ein Schmerz durchfuhr meine Brust, als ich daran dachte, wie sie heute morgen mir vorgeworfen hatte, mich mit anderen Frauen vergnügt zu haben. Wie naiv sie doch war, dass sie überhaupt so etwas denken konnte. Aber woher sollte sie es auch wissen, dass ihr Verlobter eine Schar aus Menschen umgebracht hatte? Wie würde sie darauf reagieren? Wenn ich mehr von ihrer Vergangenheit gewusst hätte, dann könnte ich sie wahrscheinlich auch besser einschätzen diesbezüglich. Leider Gottes hatten wir keine Ahnung. Ich musste nochmal mit Carlos reden, es konnte ja nicht sein, dass wir einfach absolut nichts über sie heraus fanden. Das war schwachsinnig. Verheimlichte er mir etwa irgendetwas? Oder war er auf der Spur und sagte noch nichts? Ich kannte Carlos und seine Arbeitsweise. Er würde niemals ohne Belege und Beweise mir seine Gedanken oder sein Wissen mitteilen. Wenn ich später aufstand, würde ich mit ihm reden, aber jetzt wollte ich die Ruhe und meinen Engel in meinen Armen genießen, ihren Duft einatmen, als wäre er mein Sauerstoff. Ich schloss meine Augen und hielt sie fest.

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