Kapitel 21

Ich schlief sehr unruhig. Ladislao fehlte mir. Wir hatten schon morgens, aber er war immer noch nicht da. Klar, schließlich meinte er auch, dass er die Nacht nicht kommen würde. Dennoch wünschte ich mir, dass er wenigstens am Morgen da wäre. Ich schlug meine Augen auf, legte mich auf meinen Rücken und breitete meine Arme aus. Die Lampe hing elegant von der Decke herunter. Sie war mit Kristallen geschmückt, in denen sich das weiße Licht zerlegte. Ein wunderbares Schauspiel. Ach, was denke ich nur!

Es passierte so viel, aber irgendwie auch nichts. Heute hatte ich auf nichts Lust. Weder wollte ich etwas lesen noch trainieren. Oder auch sonst etwas. Ich lungerte im Bett noch, bis ich Hunger bekam. Mein Magen knurrte.

Mich selbst zwingend stand ich auf, machte mich kurz frisch und lief in die Küche. Camilla oder Nadja waren im Moment nicht da, da wir schon mittags hatten und die Frühstückszeit um war. Ich stellte mich an die Theke und machte mir selbst was zu essen. Vertieft in meine Arbeit bekam ich nichts mehr um mich herum mit. Körperliche Arbeit zu verrichten tat manchmal sehr gut, wenn man einfach nicht mehr denken, sondern nur tun und handeln wollte. Die Gedanken legten sich für einen Moment still, das Essen nahm meine ganze Konzentration in Anspruch. Es tat wirklich gut.

„Oh, hätten Sie mir doch nur Bescheid gegeben", erschrak mich plötzlich eine überraschte Stimme.

Ich drehte mich um und erkannte Rebecca.

„Bitte, setzen Sie sich. Ich mache das geschwind fertig."

„Nein", kam es ungewollt barsch von mir. „Ich mache das schon. Kümmere dich um deine Arbeit."

Ich bemerkte die Putzsachen neben ihr auf dem Boden, die sie wahrscheinlich eben dort abgestellt hatte. Sie wollte noch etwas erwidern, aber ich schnitt ihr das Wort ab. Konnte man nicht einfach mal selber was tun? In Ruhe? War das zu viel? Sie gab sich geschlagen und ging ihrer Arbeit nach.

Nachdem ich gegessen hatte, begab ich mich ins Wohnzimmer. Was sollte ich nur tun? Gerade als ich mich hingesetzt hatte, wurde die Tür geöffnet und Ladislao kam herein. Ich stand auf, um ihn zu begrüßen, aber er bemerkte mich nicht. Er sah ziemlich fertig aus und lief schlendernd die Treppen hoch. Ich ging ihm nach bis er im Zimmer ankam.

„Was ist los?", fragte ich ihn, als ich die Tür hinter mir schloss.

Er drehte sich abrupt um und sah mich lange an. Was war nur los? Wir sahen uns einfach nur in die Augen. Sein müde dreinschauender Blick ließ mich selbst fragen, was er wohl die ganze Nacht gemacht hatte.

„Was ist passiert?"

„Nichts", kam es von ihm. „Ich bin nur sehr erschöpft."

Irgendwie konnte ich ihm nicht ganz glauben.

„Wo warst du?", trat ich einen Schritt auf ihn zu.

„Hatte einiges zu erledigen."

„Und was genau?"

Wieso verriet er mir nichts? Die ganze verdammte Nacht war er weg.

„Läuft das so in einer Beziehung?", fragte er kichernd, als würde er es nicht ganz glauben können. „Man stellt seinen Partner zur Rechenschaft, fragt ihn nach seinem Tag, was er gemacht hatte und wo er war."

Er wirkte seltsam, einfach nur komisch. Was sollten diese Fragen?

„Tut mir leid, ich erlebe das zum ersten Mal", erklärte er.

Er wandte sich ab und zog vor mir seine Sachen aus, welche er anschließend auf dem Boden liegen ließ. In seinen Boxer Shorts lief er zur Couch und setzte sich hin. Ich setzte mich zu ihm und legte eine Hand auf seinen Unterarm.

„Gab es Stress bei der Arbeit?"

„Welche Arbeit?", lachte er.

„Ich weiß ja nicht. Erzähl du es mir."

Ladislao sah mich daraufhin lange an, lange und abschätzend.

„Snakes Onkel hat vieles vermasselt. Einige Verträge sind hängen geblieben, manche Summen nicht ausgezahlt. Es war seine Aufgabe mit einem unserer Feinden eine Kooperation aufrecht zu erhalten."

„Warst du die Nacht mit ihm?", fragte ich ihn, als er nicht weiter redete.

„Mit Snake?"

Ich nickte ihm nur bejahend zu.

„Ja, so in etwa. Snake und ich haben versucht neu zu verhandeln. Natürlich auch deren Verluste zu begleichen. Immerhin war Brandon mein Mann. Das ist gar nicht gut, denn sie könnten nun alles verlangen. Wir warten auf eine Antwort."

Ladislao lehnte sich zurück und atmete hörbar aus.

„Wer sind diese Leute?", stellte ich meine nächste Frage.

„Ferista, diese Schlange. Ich hasse diese Frau!"

Er schnaubte verächtlich und spannte sich augenblicklich an. Ich sah, wie seine Hände zu Fäusten wurden.

„Wer ist diese Familie? Kennst du sie persönlich?"

Auf meine Fragen hin schwieg er wieder, aber das war ja nichts Neues mehr, denn er schwieg immer erst und legte sich die richtigen Worte zurecht, bevor er antwortete.

„Als ich noch ein Kind war, war das alles noch nicht so friedlich. Kaum zu glauben, damals warst du noch nicht einmal geboren."

Ladislao lächelte mich warm an. Mein Herz schmolz bei diesem Anblick. Er strich mir eine Strähne hinters Ohr und streichelte meine Wange.

„Diese abscheuliche Familie wollte nie Bündnisse schließen, sondern die alleinige Macht. Aber wie soll man über so ein großes Gebiet alleine Macht haben? In so einer Welt? Sie verstanden das nicht. Nachdem die Eltern tot waren, übernahm der Sohn. Er wollte das Werk seiner Eltern weiterführen, jedoch auf eine brutalere Art. Er erklärte jedem den Krieg, der nicht schon unter seiner Herrschaft stand. Damals gab es nur das reine Chaos auf den Straßen. Von jedem floss das Geld kreuz und quer."

Er legte eine Pause ein und ich ließ erst mal alle Informationen sacken.

„Manche der Bar- und Clubführer zahlten sogar für beide Seiten eine Art Tribut für ihren Schutz, damit ihre Läden nicht überfallen wurden", fuhr er fort. „Joel Ferista, dem Sohn, gefiel das ganz und gar nicht. Er sollte der einzige Herrscher sein. Somit sah er die Lösung darin, uns auszulöschen."

Ladislao schluckte einmal hart. Ich sah ihm an, dass die folgenden Erinnerungen ihm weh taten.

„Was ist dann passiert?", flüsterte ich.

„Ein Überfall in unserem damaligen Haus. Meine Mutter tot. Mein Vater, der Joel mit bloßen Händen erwürgt. Thronfolgerin Seraphine Ferista."

Er zählte das alles kalt und unberührt auf. Als hätte er gelernt, damit umzugehen, als wäre das alles nicht weiter ein Bestandteil seines Schmerzes.

„Der kleine Junge, der mit acht Jahren zwei Morden zusieht."

Ich war nur noch perplex und wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Wie versteinert saß ich neben ihm und sah auf meine Hände. Ladislao sah mich an. Er packte mich behutsam, setzte mich quer auf seinen Schoß und schloss mich in seine Arme, wobei er seinen Kopf in meinen Nacken vergrub.

„Das alles ist jetzt vorbei. Wir schlossen ein Abkommen mit Seraphine. Wie sehr ich sie auch hasse, war sie trotzdem schlauer als der Rest ihrer Familie. Die Gebiete wurden sinnvoll aufgeteilt, unser Handel nochmal verschärft. Danach bekam für eine lange Zeit niemand sie zu Gesicht. Sie regierte im Hintergrund."

„Wieso?", schoss es aus mir heraus.

„Da gibt es verschiedene Spekulationen", antwortete er mir. „Welche davon wahr ist oder ob eine wahr ist, weiß keiner so genau. Sie war einfach von der Bildfläche verschwunden. Ich glaube, dass sie das nur zu ihrer Sicherheit getan hatte."

Ladislaos Vermutung klang im Grunde genommen sinnvoll. Nach allem, den Tod ihrer Familie, war es äußerst sinnvoll, dass sie untertauchte.

„Was ist das für ein Handel?", ging ich wieder auf das eigentliche Thema zurück.

„Drogen, Schwarzmarkt, Edelwaren, historische Waren, Waffen, einfach alles. Es gibt genug skurrile Sammler. Jeder meiner Verbündeten ist in einem Gebiet spezialisiert, aber Drogen verkauft so ziemlich jeder."

Total überrascht, dass er mir alles so offensiv erklärte, nickte ich.

„Was habt ihr für ein Verhältnis zu den Feristas?", fragte ich, da ich diesen Teil immer noch nicht ganz verstanden hatte.

„Na ja, um es mal kurz zu fassen", versuchte er mir zu erklären. „Mit ihnen, da sie auch ein weltweit agierendes Unternehmen haben, waschen wir sozusagen unser Geld rein. Wir betreiben eine Art Schattenhandel. Brandons Aufgabe war es den Geldfluss als legal darzustellen, als hätten wir irgendwelche Geschäfte gemacht. Anscheinend hat er uns beide dabei beklaut."

So langsam verstand ich die Sache. Aber das alles war immer noch eine fremde und viel zu spekulative Welt für mich.

Wir blieben noch weiter in der Postion. Ich saß auf seinem Schoß, er vergrub sein Gesicht in meinen Nacken. Sein Atem strich angenehm auf meine Haut. Kaum merklich sog er immer wieder meinen Duft ein. Wie so oft schon.

„Magst du meinen Geruch?", stellte ich intuitiv die Frage.

„Natürlich", lachte er leicht und atmete umso deutlicher nochmal meinen Duft ein. „Du riechst schön. Irgendwie nach Zuhause, wie komisch es auch klingen mag."

„Danke", hauchte ich.

So etwas Schönes hatte noch nie jemand zu mir gesagt.

***

Wir erwarteten eine Tochter. Kaum zu glauben, unser geheimer Liebesbaum erntete Früchte. Wir besuchten einige Male James' Schwester für die Kontrolle. Wir gingen immer dann, wenn die Praxis geschlossen hatte und mussten weiterhin in dieser kleinen Stadt bleiben, da wir so in der Nähe seiner Schwester waren und die Geburt nahte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dieses Kind in diesem Tumult unserer Flucht großziehen sollte. Ernsthafte Sorgen und Angst plagten mich.

Meine Tür wurde im Moment aufgemacht und Marina trat herein. Ihr ging es mittlerweile etwas besser. Sie bekam gute Nachrichten von ihrem Sohn. Er wollte sie zwar immer noch nicht sehen, aber sie bekam von den Ärzten und Angestellten in der Suchtfachklinik mit, dass er nun rein war und nicht mehr Drogen nehmen konnte. Er wurde anscheinend ruhiger und sträubte sich nicht mehr so strikt gegen die Therapie. Ich freute mich für sie. Marina hatte das alles nicht verdient. Wieso mussten immer nur die guten Menschen so sehr leiden?

Ich verbrachte etwas Zeit mit Marina und so konnte ich jetzt weiterschreiben, nachdem sie wieder weg war. Sie wusste nichts explizit von meinen Tagebüchern. Ob sie jemals in diese hineingeschaut hatte, wusste ich nicht. Aber ich mutete so etwas ihr nicht zu. Sie war nicht eine Person, die die Privatsphäre anderer verletzte.

Wie dem auch sei, meine Ängste wuchsen von Tag zu Tag. Ebenso erhöhte sich das Risiko, dass Ladislao mich fand, da wir seit Langem am selben Ort waren. Ich wollte zwar nicht immer gleich an das schlimmste denken, aber genau das war schon zuvor mein Fehler gewesen und diesen wollte ich nicht noch einmal begehen.

An einem Tag saßen wir gemeinsam in unserem Zimmer in dem einzigen Motel dieser Stadt. Ich lief etwas im Raum herum, da mein Rücken beim Sitzen schmerzte. Zwar war Stehen auch nicht eine gute Alternative, aber es lenkte mich etwas ab, wenn ich aus dem Fenster sah. Ich wollte mich gerade abwenden, als mir etwas auffiel. Schwarze Wagen näherten sich genau auf unser Motel zu.

„James!", schrie ich panisch.

Er sprang sofort auf und eilte zu mir.

„Was ist los?", stützte er mich. „Hast du Schmerzen oder... ?"

„Nein", unterbrach ihn. „Wir sollten gehen. Pack die Sachen oder vergiss die Sachen lass uns abhauen!"

So langsam liefen mir Tränen herunter. War es schon so weit? War unser Glück wieder einmal zur Verdammnis verurteilt?

„Was ist los?", fragte er mich erneut.

Ich deutete aus dem Fenster heraus. James sah die sich immer nähernden Autos und fluchte vor sich hin.

„Scheiße, wir müssen hier sofort aufbrechen."

Er fing an, ein zwei Kleidungsstücke einzupacken und hetzte durch den Raum. Ich konnte nichts tun. Einfach gar nichts.

„Los, Babe! Gehen wir!"

Ohne weiter Zeit zu verschwenden lief ich aus dem Raum. Unser Wagen stand auf dem Parkplatz des Motels. Wir checkten aus und liefen schnell zu diesem. Hektisch gingen wir zum Wagen und stiegen ein. In dem Moment kamen die schwarzen Wagen an. Was ich sah, verschlug mir nur die Sprache. Bewaffnete Männer stiegen aus drei Fahrzeugen aus. An ihrer Spitze Ladislao.

Bück dich!", packte James meinen Kopf und drückte ihn herunter.

Ich konnte nicht mehr klar denken. Wir konzentrierten uns nur auf die neu kommenden Fahrzeuge. Keiner von uns regte sich. Immer mehr Türen wurden zugeschlagen.

Ladislao lief mit seinen Männern ins Motel. In dem Moment startete James den Motor und wir fuhren hastig weg. Ich spornte James an, schneller zu fahren.

Hätten wir das nur nicht getan. Wäre es besser, wenn Ladislao uns direkt erwischt hätte? Hätte er mein Kind vielleicht verschont? Mein Herz zog sich bei der Erinnerung zusammen. Wie sollte ich etwas aufschreiben, woran ich nicht mal mehr denken konnte?

Alles geschah blitzartig. Schnell. Plötzlich erschien hinten am Horizont eine Schar aus schwarzen Fahrzeugen. Ich erkannte diese wieder.

„James!", brüllte ich. „Sie haben uns im Visier. Sie kommen uns nach."

„Bleib ruhig, meine Angelie", versuchte er mich zu beschwichtigen, „wir schaffen das."

James nahm kurz meine Hand in seine und drückte diese. Danach konzentrierte er sich wieder voll und ganz auf die Straße. Die schwarzen Punkte hinter uns kamen immer näher. Oder bildete ich mir das nur ein?

Plötzlich ratterte unser Auto. Die Steuerung verlief nicht mehr so geschmeidig. Irgendwelche Meldungen erschienen auf dem Bildschirm, die wir jetzt erst realisierten.

Das System warnte uns vor einem falschen Reifendruck, so wie kaputten Bremsbelägen. Ich wurde umso panischer und drehte vollkommen durch, schrie irgendetwas um mich, redete wirres Zeug. Hyperventilierte fast schon. Lag das vielleicht an meinen schwangeren Hormonen?

„Beruhige dich endlich!", schrie mich James an.

„Was sollen wir machen?", rief ich zurück.

Der Wagen drehte komplett durch. Er schlug dauernd seltsam auf. Ohrenbetäubende, klirrende Geräusche drangen zu unseren Ohren. James versuchte immer mehr ihn unter Kontrolle zu halten. Die Steuerung machte kaum noch mit. Das Lenkrad ließ sich nicht mehr richtig drehen. Die Reifen waren platt. Wir durften nicht anhalten, nicht langsamer werden. Anscheinend war jemand von Ladislaos Leuten schon da gewesen, um uns jegliche Flucht und Weiterfahrt unmöglich zu machen.

Ich schrie um mich, schrie James an, der mich versuchte zu beruhigen. Ein einziges Chaos. Wir beide konnten nicht mehr klar denken. Wir waren ausgeliefert, dennoch wollten wir nicht aufgeben.

Danach kam auch schon der entsprechende Moment. Der Moment, der mein Leben von Grund auf noch ein weiteres Mal veränderte.

Eine scharfe Kurve. Platte Reifen. Nicht mehr funktionierende Bremsen. Ich bekam kaum noch etwas mit. Ein Kreischen, ein Rutschen. Überschläge. Ich verlor den Sinn für die Schwerkraft. Ich fühlte mich schwerelos. Ein konstanter Ton in meinen Ohren. Wir flogen in unserem Fahrzeug, drehten Kreise, überschlugen uns. Das Blech verformte sich. Autoteile, die uns einquetschten. Metallischer Geruch, der einen bitteren Geschmack hinterließ. Enge... Keine Bewegung... Danach nur noch Schwärze...

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