Epilog
Drei Monate. Drei ganze Monate war es nun her, dass ich mich in meiner einsamen Festung zurück gezogen hatte. Niemanden ließ ich an mich heran, redete mit keinem so richtig.
„Ah", hörte ich ihn stöhnen - vor Schmerz.
Mein Alltag wurde grausam, blutig und ohne Erbarmen. Mit einer schnellen und schwungvollen Drehung erhob ich mein Bein und knallte meinen Fuß gegen sein Gesicht, wobei ein ekliges Knacken ertönte und er voller Wucht auf den Boden prallte. Eben war er noch auf seinen Knien und bettelte um Gnade. Ich nahm die Zügel meiner Geschäfte fester in die Hände und kämpfte mich durch das wilde Geschehen der Straßen. Morgens in der Firma, nachts auf den Straßen. Es lenkte mich ab und war eine Art Therapie für mich. Für die, die mir in die Hände fielen, war es ihr Tod. Durch das Überarbeiten war es einfacher, denn so musste ich an nichts denken, sondern lediglich nur mich auf mein Geschäft konzentrieren. Mit einer Hand griff ich hinter mich, umschloss das kalte Metall, holte es hervor, entsicherte meinen Revolver und mit einem sauberen Schuss in seinen Hinterkopf setzte ich seinem Leben ein Ende. So einfach war es! Wer er war, was er getan hatte interessierte mich nicht mehr sonderlich. Ein Grauen ging durch die Straßen, jeder fürchtete den skrupellosen Boss, welchen niemand zur Gesicht bekommen hatte. Gerüchte gingen herum, dass es keiner aus seinen Zwängen lebendig heraus schaffte.
Blutverschmiert marschierte ich aus der Halle, lief zu meinem Wagen, setzte mich hinein und fuhr nach Hause. Es war nun egal, wie ich dort ankam, denn keiner wartete auf mich. Ich konnte mit diesen mit Blut befleckten Klamotten ins Haus, in mein Zimmer und mich erst dort sauber machen. Geduldig wartete ich. Ich wartete bis ich ihn fangen konnte, denn die Rechnung stand noch offen. Mein Ziel war es nur noch ihn gefangen zu nehmen und mit bloßen Hände sein Leben auszulöschen, denn seit geraumer Zeit raubte er mir jeglichen Frieden, den ich haben könnte, ohne dass ich eine Ahnung davon hatte. Tief in meiner Rachsucht und den Gedanken versunken kam ich an, parkte einfach wild in der Einfahrt und lief in mein Zimmer. Die Treppen hoch gestiegen, den Korridor entlang gelaufen kam ich auch schon an, betrat das Zimmer und lief direkt ins Bad. Der Raum sah einfach nur chaotisch aus, überall lagen Sachen herum. Noch nie war ich so unordentlich gewesen, aber ich erlaubte auch niemandem, in mein Zimmer zu gehen. Keiner sollte es betreten! Den blutigen Anzug schmiss ich auf den Boden, wo sich schon etliche Klamotten gesammelt hatten und stieg unter die Dusche. Kaltes Wasser prasselte auf mich. Meine Haut brannte durch die Kälte, aber ich wollte es so, denn das bewies mir, dass ich noch am Leben war, wie schwachsinnig das auch klingen mochte.
Die Sonne war schon längst untergegangen, die Nacht passte sich perfekt meiner Stimmung an. In letzter Zeit war ich fast nur noch nachts unterwegs, denn ich fand in diesem Bett - wohlgemerkt alleine - keine Ruhe, an Schlaf war erst recht nicht zu denken. Rot sammelte sich das Wasser an meinen Füßen, als das vertrocknete Blut sich von meiner Haut löste. Nach meiner Dusche zog ich mir eine Jeans und ein Shirt an. Danach ging ich auch schon los. Wie jede Nacht fuhr ich in das Pub im nahe liegenden Dorf. Hier kannte mich niemand, außer dass sie mich in diesen Monaten neu kennengelernt hatten. Ich wurde ja auch mittlerweile zum Stammgast und ließ jedes Mal ordentlich Trinkgeld liegen, sodass der Besitzer sich immer freute, wenn er mich durch die Schwingtüren eintreten sah. Und so geschah es auch heute.
Das Gesicht des fetten Mannes hellte sich auf, als ich die Tür aufstieß, zu ihm lief, mich auf einen der hohen Hocker hinsetzte und ihm zunickte.
„Abend", grüßte er mich, wobei sich sein Doppelkinn bewegte, „das gleiche?"
Mit einem Nicken meinerseits bestätigte ich ihm meine Bestellung, woraufhin er ein Glas nahm, dieses mit einer braunen Flüssigkeit füllte und auf dem Tresen zu mir schob. In einem Zug leerte ich das Glas und schob es wieder in seine Richtung.
„Gib mir 'ne Flasche", meinte ich, als er gerade dabei war, nochmal nachzufüllen.
Er zuckte mit seinen Achseln und schob das Glas samt der Flasche wieder vor mich. Ich trank diese aus und ordnete auch schon eine nächste an. Nach wenigen Stunden legte ich betrunken eine gute Summe auf die Bartheke und schlenderte aus dem Lokal. Wie jede Nacht sah ich Carlos und Brian vor der Tür auf mich warten - sie konnten es nicht lassen. Brian stieg aus und bevor er zu meinem Wagen lief, kam er auf mich zu und holte sich die Schlüssel aus meiner Hosentasche. Ich konnte nichts dagegen tun, da ich kaum bei Sinnen war. Brian fuhr ohne weitere Worte mit meinem Wagen davon. Ich sah ihm noch lange hinterher, obwohl er nicht mal mehr sichtbar war. Carlos kam ausgestiegen zu mir und hielt mich am Arm fest.
„Wie lange willst du hier noch herum stehen?", fragte er mich.
Ich hatte nichts darauf zu erwidern und ließ mich von ihm zum Auto ziehen. Als wäre ich ein kleines Kind half er mir, mich in den Wagen zu setzen. Danach lief er auch schon zur Fahrerseite und fuhr los. Meinen Kopf lehnte ich an die kühle Scheibe und sah auf die vorbei ziehende Landschaft.
„Ich habe einiges heraus gefunden, willst du immer noch nichts wissen?"
Was wollte er schon wieder von mir? Von wem sollte ich etwas wissen wollen? Niemand interessierte mich! Niemand! Ganz einfach.
„Wenn du nicht so stur wärst, dann müsstest du auch nicht so sehr leiden!", erhob er leicht seine Stimme. „Du bist so ein Dickkopf!"
Leid? Es lief doch alles super. Was hatte er für Vorstellungen, als ob ich leiden würde. Der Gedanke entlockte mir einen kleinen Kicher. Des weiteren ignorierte ich ihn und sah weiterhin aus dem Fenster, als wir auch schon da waren.
„Schlaf deinen Rausch aus. Morgen reden wir!"
Mit diesen Worten verschwand auch schon Carlos. Ich schlenderte zum Eingang und begab mich nach oben. Ins Bett wollte ich nicht, nicht seit... egal! Die Couch war gemütlich, sie war perfekt. Die Augen geschlossen sank ich schon in einen Tiefschlaf.
Es war Wochenende, in die Firma ging ich nicht, also musste ich mir für heute eine andere Beschäftigung finden. Mit der Zeit gingen mir zwar die Ideen aus, aber auf den Straßen gab es genug Bastarde, die beseitigt werden mussten, was in letzter Zeit zu meiner Lieblingsbeschäftigung wurde. In dem Moment wurde die Tür aufgeschlagen und meine glorreichen Pläne für den Tag wurden unterbrochen.
„Na, schon wach?", redete Carlos auch schon los. „Heute entkommst du mir nicht mehr! Dein Theater reicht mir so langsam! Dein Vater hat auch keine Geduld mehr, der Mann ist am Ende. Ich kann ihn kaum noch davon abhalten, herzukommen."
Nein! Nein! Ich wollte nichts über ihn wissen, es nervte mich schon, dass Carlos wusste, wo er war, aber mir immer noch nichts sagte! Schnaubend stand ich auf, als mir etwas schwindlig wurde, der Kater machte sich langsam bemerkbar. Als ich gerade aus dem Zimmer laufen wollte, hielt er mich auf.
„Nein!", packte er mich an meinem Arm. „Du wirst zuhören."
„Lass mich los!", brüllte ich ihn an und versuchte mich loszureißen. „Nimm deine Hände weg, Carlos, ich will dir nicht wehtun!"
„Du wirst jetzt dich brav hinsetzen und dir anhören, was ich zu sagen habe."
Er drückte mich wieder zurück auf die Couch und setzte sich auf den Tisch. Die Lage war einfach zu vertraut, dass es mein Herz schmerzen ließ. Erinnerungen fielen über mich ein, wie ich auf dem Tisch saß und sie unschuldig und hübsch wie sie war auf der Couch. Etwas drückte auf meine Brust, legte sich tonnenschwer darauf.
„Ich will nichts von ihm hören, Carlos!", versuchte ich erneut aufzustehen, aber er reagierte reflexartig, sodass ich erneut gezwungener Maßen saß.
„Ladislao, ich habe alles überprüft, es kann nicht möglich sein, es kann einfach nicht wahr sein, was du gelesen hast, was sie da schreibt!"
Er versuchte mir das seit Tagen einzureden, aber ich glaubte ihm nicht, denn alles war offensichtlich und klar.
„Ich habe alle möglichen Aufnahmen überprüft und ihre Erzählungen treffen in keinster Weise zu, Ladislao", erzählte er weiter. „Du musst mir doch glauben. Wann habe ich dich je hintergangen oder angelogen?"
Wollte ich das? Wollte ich Glauben daran schenken?
„Du weißt doch, wie Alfonso zu ihr stand. Wie kannst du dir vorstellen, dass er so etwas machen würde? Und das einem Menschen, welchen er wie seine eigene Tochter sah. Ladislao, denk endlich mal logisch! Sie wollte sich doch schon immer rächen, das ist ihr teuflischer Plan."
Ich sagte nichts, starrte weiterhin vor mich in die Leere. Wie konnte ich mich vergewissern? Wie sollte ich das schaffen? Wie sollte ich diesem... meinem... diesem Mann je wieder in die Augen sehen?
„Dein Vater hat ihr nicht weh getan, das ist ihre Rache. Verstehst du es nicht, dass sie mit dieser Aktion nur euch, insbesondere dich, zerstören wollte? Sie wollte schon immer Selbstmord begehen, ihr Bonus dabei war nur, auch noch euch zu schaden. Sie..."
„Es reicht!", schrie ich ihn an. „Es reicht."
Meine Tonlage beruhigte sich wieder, aber mein innerer Vulkan brodelte, wollte alles verwüsten und nieder brennen, die ganze Welt in Schutt und Asche legen.
„Alfonso mag ein grausamer Mensch sein, ohne Skrupel und Empathie, aber er ist ganz sicher ein Mann seiner Ehre. Das weißt du auch."
Carlos stand auf und verließ das Zimmer. Zurück blieb ich. Den ganzen Tag lang machte ich nichts anderes als die Luft vor mir anzustarren. Die Stunden vergingen, ehe mein Hals ganz trocken wurde. Aus Gewohnheit lief ich zum Tresen an der Wand. Jedoch war da nichts mehr übrig, da ich auch keine der Hausangestellten ins Zimmer hereinließ. Somit war ich gezwungen nach unten zu gehen. Im Wohnzimmer setzte ich mich auf das Sofa.
„Wasser!", brüllte ich ein Mal durch das ganze Haus, aber es schien mich niemand zu hören.
Wozu bezahlte ich diese ganzen Gören in diesem Haus? Genervt stand ich auf, schenkte mir selber was ein und trank in großen Schlucken das Wasser aus. Gerade als ich mich wieder auf das Sofa setzte, nahm die Post meine Aufmerksamkeit auf sich. Auf dem Tisch lagen unzählige Briefe, welche ich in die Hand nahm und durch den Stapel ging. Irgendwelche Einladungen, Rechnungen und Schreiben vom Unternehmen. Geistesabwesend blätterte ich weiter, als mir eine Einladung ins Auge stach, eine Beerdigung. Von wem sie wohl war? In letzter Zeit hatte ich eindeutig zu viele Tote gesehen, ob ich noch einen hübsch verpackten sehen wollte? Als ich den Namen des Verstorbenen sah, fielen mir fast schon die Augen aus den Höhlen. Schockiert starrte ich das Blatt in meinen Händen an. Seraphine Ferista war tot. Sie war tot und als angeblicher Geschäftspartner wurde ich eingeladen...
***
„Mrs Carbone, so langsam ist es an der Zeit ihre Präsenz anzukündigen, so wie es Miss Ferista wollte", erinnerte mich Theodore an die Tatsachen, an den gut ausgeheckten Plan.
Seraphine war mittlerweile tot und nun wusste ich auch warum. Spätestens dann als ich ihre haarlose Haut gesehen hatte. Diese Frau überraschte mich immer wieder aufs Neue. Mit einem Nicken schickte ich den Butler weg und sah weiterhin aus dem hohen Fenster des Schlosses in den Hintergarten. Es war unfassbar, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Von damals auf heute. Die Straßen wurden mein Zuhause, der Boden mein Bett, die Nacht meine Decke. Vergessen wie eine Ratte, verdammt zu einem Leben in einer Gasse. So sah mein Leben noch vor nicht allzu langer Zeit aus und nun war ich eine Frau der Macht, eine Frau, die ein ganzes Imperium leitete.
So langsam ging die Sonne unter, die Nacht kündete sich an. In wenigen Tagen war die Beerdigung und bis dahin musste ich mich als die Erbin bekannt geben, denn die Öffentlichkeit hatte noch keine Ahnung. Würden sie mich als Ladislaos Frau erkennen? Warum machte ich mir Gedanken darüber? Was sollte schon passieren, falls doch? Nichts...
Nadja und Camilla, so wie auch Carlos, versuchten mich immer wieder zu erreichen. Einige Male telefonierte ich mit Camilla und Nadja. Mich finden konnten sie nicht, dafür hatte ich gesorgt. Ich, die Ratte von damals, konnte einen Mann wie Carlos von mir fern halten. Von Ladislao selber hatte ich nichts gehört und das war auch gut so. Nicht einmal eine Scheidung hatte er eingereicht, genauso wenig wie ich. Wollte ich ihn noch? Ich wusste es nicht, zu lange war es nun her.
Die Tage verstrichen, ehe der große Moment kam, die Beerdigung. Viele Menschen wurden eingeladen, von den angesehenen Unternehmern bis hin zu den gefragten Familien hohen Ranges. Als Familienangehörige sprach jeder mir gegenüber sein Beileid aus, obwohl ich auch dabei viele fragwürdige Blicke zu sehen bekam, da sich die ganzen Leute wunderten, woher ich plötzlich aufgetaucht war. Wir tischten jedem die gleiche Lüge auf, dass ich mich im Ausland, in einem anderen Staat bisweilen aufhielt und nun gekommen war, um mein Erbe anzunehmen, was streng genommen nicht ganz so falsch war. Seraphine belehrte mich in diesen wenigen Monaten. Ich sträubte mich anfangs dagegen, aber es war nun mal unausweichlich. Wer diese Gelegenheit gehen ließ, müsste dumm sein. Abgesehen davon, brauchte ich diesen Wohlstand für meine Mutter, meinen Bruder und mich. Für meine Familie, denn die Feristas waren das für alles, was sie mir und meiner Mutter angetan hatten, uns schuldig. Einen kleinen Bruder hatte ich dazu gewonnen. Der Kleine, den wir damals aus dem Haus rennen sahen, war Barbaras zweites Kind. Als ich ihr offenbart hatte, wer ich war, fiel sie mir weinend um den Hals. Ich durfte endlich mütterliche Fürsorge genießen, sie war wunderbar. Ich lernte meine Mutter kennen und durfte ihre Stärke und Tapferkeit bewundern. Egal was sie durch gemacht hatte, sie kämpfte weiter - für ihren Sohn und nun auch für ihre Tochter, von der sie immer dachte, dass Seraphine sie umgebracht hätte. Sie erinnerte sich ungern an diese Zeit, als sie erst von Joel und dann auch noch von Seraphine gefangen genommen wurde. Nichts desto trotz war sie auch Seraphine dankbar, denn durch sie wurde sie wieder clean und nach meiner Geburt wurde sie frei gelassen. Von da an änderte sich ihr Leben. Sie war noch so jung, gerade mal achtzehn, als Seraphine sie gehen ließ. Finanziell ging es ihr immer noch nicht gut, sodass sie sich noch jahrelang prostituieren ließ, wodurch sie ungewollt schwanger wurde und keine Ahnung hatte, von welchem Kunden. Jedoch nach ihrer Schwangerschaft ließ sie diesen Job, da sie auch mittlerweile älter wurde. Als ich mit Snake vor drei Monaten an ihre Tür klopfte, arbeitete sie als Putzkraft, denn sie wollte Carl, ihren Sohn, meinen Bruder, aus dieser Welt heraus halten. Carl war momentan zwölf. Ich freute mich, dass ich nicht allzu viele Jahre aus seinem Leben verpasst hatte.
„Mein Beileid, Miss Ferista", kam ein anderer Gast zu mir und holte mich aus meinen Gedanken heraus.
„Mrs Carbone, bitte", schüttelte ich seine Hand. „Vielen Dank."
Seine Augen weiteten sich, als er mich überrascht anstarrte. Ja, so sah meistens die Reaktion der Leute auf den Namen aus, aber ich hatte in keinster Weise die Intention, meine Identität zu verbergen. Jeder durfte ruhig wissen, dass ich Ferista Blut in mir und Carbone als Nachnamen trug. Neidisch, ängstlich, voller Furcht und überrascht blickten sie mir ins Gesicht. Ich stand mit Snake vorne am Sarg. Somit konnte jeder sein tiefstes Bedauern aussprechen. Die eigentliche Zeremonie war schon vorbei, als ich die ganze Zeit vor mich hin geträumt hatte. In dem Sinne wurde es keine normale Trauerfeier, sodass die Angehörigen Reden hielten, denn ich hielt es einfach nicht für angemessen. Was sollte ich schon sagen? Der Redner der Kirche hatte das schon perfekt hinbekommen, ich hatte dem nichts hinzuzufügen.
Gerade war ich mit dem Rücken zu den Leuten gedreht, als ich meinen trockenen Hals befeuchtete und einen Schluck Wasser zu mir nahm. Wieder zu ihnen blickend wollte ich dem nächsten schon die Hand reichen, als ich den vertrauten Geruch und die entgegen gestreckte Hand wahrnahm. Ich erstarrte zu einem Eiszapfen. Anscheinend geschah das gleiche mit meinem Gegenüber, denn seine Hand sank und er atmete erschrocken ein.
Ich traute mich nicht, meinen Blick zu heben. Das Herz pochte in meinem Brustkorb, mein Blut rauschte nur so durch meinen Körper.
„Ich... du...", stotterte er.
„Vielen Dank, dass Sie gekommen sind", übernahm Snake die weiteren Leute und drückte mich etwas weiter hinter sich, sodass auch er mir folgte und wieder vor mir stand.
„Was, was machst du hier?", fragte er mich.
„Das gleiche könnte ich dich fragen."
„Seraphine ist tot", lautete seine Antwort, als würde das alles erklären.
„Das habe ich auch schon mitbekommen", schnaubte ich verächtlich.
Endlich brachte ich es über mich und sah in seine Augen. Sie verschlangen mich, nahmen mich in ihren Bann. Dieses helle Blau würde jeden aus der Bahn werfen. Wie sehr hatte ich es vermisst, mich in diesem Blau zu verlieren.
„Ich hatte Recht", wisperte ich.
„Womit?", fragte er gleich nach.
„Sie... sie ist... war meine Tante."
Seine eisigen Augen froren noch mehr ein. Erschrocken starrte er mich an.
„Deine Tante?"
Ich nickte nur daraufhin. Seine Augen weiteten sich in diesem Moment noch mehr, als ihn die Erkenntnis traf, denn Seraphine hatte nur einen Bruder, welcher sein größter Alptraum und Erzfeind war.
„Joel...", hauchte er entsetzt und schluckte ein Mal kräftig.
„Wir sollten später reden, es ist gerade nicht an der Zeit", leitete ich einen Themenwechsel ein und es gelang mir sogar.
Ladislao nickte und setzte sich in Bewegung. Wie gerne würde ich ihn an der Hand nehmen und mit ihm weglaufen. Einfach weg. Aber nein. Ich hatte nun Verpflichtungen und eine Familie. Er hatte ebenso nichts gesagt, was uns zwei betraf.
Seraphines Leichnam wurde verbrannt und die Urne begraben. Allmählich leerte sich der Friedhof, die Leute gingen. Mit Snake stand ich am Grab und blickte auf den kleinen Platz, in dem sich nun die einst mächtige Frau befand. Das war das unausweichliche Ende, der letzte Halt, Endstation. Meine Mutter wollte nicht kommen, da sie es nicht für angemessen hielt und sie bestimmt auch keine Gefühle für Seraphine übrig hatte. Wir lebten alle zusammen im Schloss, ich hatte sie gleich zu mir geholt, denn ich konnte nicht in dem Luxus baden und sie in dieser ekligen Bude lassen. Carl war fasziniert und total enthusiastisch, als er das erste Mal das Schloss betrat. Ich spürte plötzlich, wie sich jemand von hinten annäherte und wusste auch schon, wer es war, denn ihn konnte ich immer und überall spüren.
„Ich lasse euch alleine", meinte Snake, als er sich dann entfernte.
Ladislao stellte sich neben mich und wir schwiegen. Ein angenehmer, kühler Wind wehte über den einsamen Friedhof.
„Joel ist dein Vater?"
Es klang nicht nach einer Feststellung, sondern eher nach einer Frage, als würde er noch die Hoffnung hegen, dass es doch eine andere Option gäbe.
„Hast du mit deinem Vater gesprochen?", stellte ich ihm die Gegenfrage.
Er schwieg, was mich überhaupt nicht überraschte, denn das konnte er gut, Schweigen oder auch Verschweigen.
„Carlos hat das Tagebuch eingehend studiert. Was sie erzählt trifft einfach nicht die Tatsachen. Er hat auch die ganzen Aufnahmen im Haus durchforstet - nichts. Alfonso hat sich kaum zu diesen Zeiten in dem Flügel des Hauses aufgehalten."
„Du klingst nicht so als wärst du hundertprozentig überzeugt", vermutete ich.
„Man wird den Schock und die Vorstellung nicht schnell los, aber wir schaffen das, auch wenn es nicht so einfach ist."
„Das ist es nie", hauchte ich. „Ich habe meine Mutter gefunden."
In dieser Sekunde flog sein Kopf in meine Richtung, wo wir doch gerade beide das frische Grab vor uns anvisierten.
„Das freut mich sehr."
„Einen Bruder habe ich sogar."
„Es scheint, als hättest du dein Leben gefunden. Alles, wonach du dich gesehnt und gesucht hattest", meinte er.
Dass ich das gefunden hatte, was ich suchte, war richtig, aber das, wonach ich mich sehnte, war komplett was anderes. Jedoch sagte ich nichts.
„Was ist dein nächstes Ziel?", stellte er mir eine Frage, die mich überraschte. „Du bist nun so gar mächtiger als ich. Was möchtest du machen?"
Ich sah zu ihm auf, in seine wunderschönen Augen. Er erwiderte meinen Blick mit einem strengen Gesichtsausdruck, wie er es immer tat. Eine Kälte, die in seine Augen eingeschrieben stand und die Augenbrauen zusammengezogen, beinahe wie konzentriert. Ich wusste nicht, wie lange wir uns so in die Augen sahen, aber so schnell wollte ich damit auch nicht aufhören. Seine einzigartigen Augen wollte ich mir einprägen, falls ich sie nicht mehr sehen sollte, denn ich konnte keineswegs einschätzen, wie es nun weiter gehen sollte.
„Und?"
„Was und?", lautete meine Gegenfrage.
„Möchtest du mir nicht antworten?"
„Ich... weiß nicht, wie es weiter gehen soll."
„Du bist nicht zurück gekommen und jetzt verstehe ich auch, warum", meinte er nach einer Weile gleichgültig. „Zu sehr warst du damit beschäftigt, dich an dein neues Leben zu gewöhnen. Wozu solltest du denn noch zu mir, wenn du hier mehr hast."
Seine Worte ergaben in erster Linie keinen Sinn für mich. Nachdem ich es jedoch verdaut hatte, setzten sich die Worte in meinem Kopf zusammen.
„Was?!", schrie ich plötzlich entsetzt auf. „Was redest du da? Du hast mich heraus geworfen, hast dich nicht einmal darum erkundigt, wo ich hin bin!"
„Und?", entgegnete er. „Musstest du deshalb unbedingt hier her kommen!? Hunderte Kilometer weiter weg?"
„Du hast noch nicht mal nach mir gefragt oder gesucht!"
„Nein, wieso denn auch? Dem Anschein nach geht es dir doch super, mit deinem Ex-Lover zusammen könnt ihr nun die Welt regieren!"
Ich traute meinen Ohren nicht. Dass er es tatsächlich wagen konnte!
„Halt, ist er überhaupt noch Ex?"
Provozierend blickte er mir in die Augen. Durch das ganze Brüllen hatte ich gar nicht bemerkt, dass wir mittlerweile so dicht aneinander standen und uns anfunkelten.
„Ich bin ein treuer Mensch!", brüllte ich zurück und machte einen Schritt weiter auf ihn zu.
Ladislao mahlte mit seinem Kiefer und senkte seinen Kopf nach unten, sodass wir auf Augenhöhe waren. Voller Wut und Energie sah er mich aus seinen eisigen Augen an. Gefühle brodelten hinter diesen. Sein Blick huschte kurz nach unten und dann wieder zu meinen Augen.
„Treu?", hauchte er an meine Lippen.
Er war mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Dieser brannte auf meiner Haut, entfachte das Feuer in mir, welches so lange still stand.
„Und du?"
„Versteht sich", war seine Antwort.
Was sollte das heißen? Sein Blick ging immer wieder auf und ab, verschlang mich, nahm mich mit in eine andere Welt, katapultiere mich in ein Gefühlschaos. Wut, Sehnsucht, Liebe und so vieles mehr. Es schmerzte in mir so sehr, dass ich ihn endlich wieder fühlen wollte, aber ich konnte nicht über meinen eigenen Schatten springen und den ersten Schritt wagen. Das musste er schon selber tun.
„Du raubst mir meinen Schlaf. Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich, sehne mich nach dir."
Seine Stimme war nur noch ein Hauchen, seine Worte Balsam auf meinen Wunden.
„Ich betrinke mich jeden Tag, damit ich in einen Tiefschlaf versinke und nichts mehr träume oder zumindest mich daran nicht mehr erinnere."
Seine Hände legten sich an meine Wangen und strichen über diese, als er mit seinem Gesicht näher kam. Mein Herz pochte, meine Haut stand unter Flammen, ein Kribbeln erfasste mich. In meinem Magen spielte es verrückt, ich fühlte mich wie benebelt, als wäre ich nicht ganz bei Verstand und würde schweben. Und dann fanden wir unsere Erlösung, unseren inneren Frieden, als er mit seinen Lippen meine einnahm und sie sachte, voller Gefühl liebkoste.
„Habe in den letzten Monaten jeden Tag jemanden umgebracht, jeden verdammten Tag mich betrunken, mich in die Arbeit gestürzt, nur um nicht davon zu träumen, das zu wünschen."
Sein Kuss wurde umso intensiver, mit seiner Zunge drang er durch meine Lippen, massierte meine.
„Und du willst wissen, ob ich treu war?"
Ladislaos Hände wanderten nach unten, griffen mich an meiner Hüfte, drückten meinen Körper an seinen, als er mich weiterhin hart und fordernd küsste, mit den Zähnen über meine Lippen fuhr, fest an ihnen sog und mir die Luft zum Atmen nahm.
„Du bist meine Frau! Meins!"
Er packte mich grober und fester, presste mich an sich.
„Wir sollten hier weg", brachte ich es gerade so hervor, während unserem Kuss.
„Willst mir dein neues Zuhause zeigen?", trennte er unsere Münder und lehnte seine Stirn an meine.
„Unser Zuhause", wisperte ich zurück und legte meine Hände an seine bärtigen Wangen.
Ich hatte es vermisst, ich hatte alles an ihm vermisst.
„Ich möchte dir noch meine Mutter und meinen kleinen Bruder vorstellen."
„Vielleicht sollten wir erst unseren Hunger stillen, ich kann es kaum noch aushalten", biss er leicht an meinen Kinn.
Ich legte etwas den Kopf in den Nacken und schloss für einen friedvollen Moment die Augen, als er mich weiter am Kinn küsste.
„Das klingt plausibel", lautete meine Antwort, als er mich auch schon an der Hand nahm und wir zu seinem Wagen liefen.
An anderen Tagen hätte ich ihm vielleicht nicht so schnell verzeihen, aber heute war alles anders. Es hatte sich viel in mir verändert, seitdem ich Seraphine und meine Mutter kennen gelernt hatte und ich hatte eines realisiert: Das Leben war einfach zu kurz und kostbar.
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THE END
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