Kapitel 8: Ende

Sie fand ihre Schwester im Salon mit einem Buch auf den Knien. Als sie den Raum betrat, sah Phoebe von ihrer Lektüre auf.

„Du bist ja ganz bleich, was ist passiert?", wollte sie besorgt wissen.

„Komm mit!", antwortete Rhea, fasste ihre Schwester bei der Hand und zog sie einfach mit sich.

Als die beiden jungen Frauen aber in Rheas Zimmer kamen, fanden sie alles ganz gewöhnlich. Der Spiegel war ungebrochen, ohne den geringsten Riss warf er Rheas völlig verwirrtes Gesicht zurück.

„Aber... Ich... Der Spiegel...", stammelte sie. „Er war gesprungen!"

„Du hast den Spiegel zerbrochen?" Phoebe runzelte die Stirn und besah sich den Spiegel genauer. „Er ist doch ganz in Ordnung."

„Ich habe ihn nicht zerbrochen", beteuerte Rhea „Er wurde auf einmal ganz schwarz und dann ist er zersprungen. Einfach so. Knack!"

„Rhea, das ist doch lächerlich." Phoebe klopfte gegen den Spiegel. „Das sind nur deine Nerven!"

„Nein, es sind nicht nur meine Nerven! Wirklich! Es war alles genau so, wie ich's dir sage! In diesem Haus gehen Dinge vor sich..." Ihr stiegen die Tränen in die Augen.

Phoebe seufzte. Sie hatten das doch gerade erst besprochen.

„In Ordnung, weißt du was? Wir fahren weg. Nur für ein paar Tage. Wir könnten nach Bristol ans Meer fahren." Vielleicht würde das ihre Schwester etwas zur Ruhe kommen lassen.

„Bristol liegt nicht am Meer, du meinst Brighton." Rheas Stimme klang matt, aber Phoebe war froh, dass sie wenigstens noch beieinander genug war, um sie zu korrigieren.

„Dann eben Brighton." Sie zuckte mit den Schultern. Ob Brighton oder Bristol war doch völlig egal. „Wir mieten uns ein kleines Cottage und verbringen ein paar Tage am Meer. Vater hat sicher nichts dagegen. Ich telegraphiere ihm gleich morgen früh, ja?"

Rhe nicht. „Vielleicht hast du recht...", murmelte sie.

„Keine Sorge." Phoebe umarmte ihre Schwester. „Es wird bestimmt alles gut."

Rhea hatte Phoebe überzeugen können, in dieser Nacht bei ihr im Zimmer zu schlafen. Etwas, was sie zuletzt zu Kinderzeiten getan hatten. Während ihre Schwester friedlich neben ihr schlief und sehr undamenhaft schnarchte, lag Rhea wach. Ausnahmsweise hörte sie keine Geräusche und doch konnte sie nicht schlafen. Ihr müder Blick ging immer wieder nach dem Spiegel, als fürchte sie eine böse Schattengestalt könnte jeden Moment ihren hässlichen Kopf daraus hervorrecken.

Sie hoffte inständig, dass sie bald nach Brighton fahren konnten, obwohl der Badeort zu dieser Jahreszeit wohl eher scheußlich als erholsam sein musste. Aber je früher sie aus diesem Albtraum ausbrechen konnte, desto besser. Vielleicht konnte sie Phoebe so ja doch noch davon überzeugen, dass sie nicht verrückt war.

Rhea schlug die Augen auf; sie musste wohl doch für einen Moment lang Schlaf gefunden haben. Um sie herum war es seltsam dunkel, sie sah die Hand vor Augen nicht und es war totenstill.

Dann traf sie die Erkenntnis, dass sie sich nicht in ihrem Bett befand. Statt einer weichen Matratze fühlte sie eine harte, glatte Oberfläche unter ihrem Körper. Vorsichtig tastete sie nach den Seiten und stieß nahezu sofort auf Widerstand. Sie streckte die Hände aus - oder vielmehr, sie versuchte es, doch auch hier stieß sie sogleich auf eine Wand, bezogen mit weichem Stoff, genau wie zu den Seiten. Ein Sarg! Sie lag in einem Sarg.

Vorsichtig klopfte sie gegen das Holz und erzeugte so einen dumpfen Ton, als wäre dahinter nur feuchte Grabeserde.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Man hatte sie begraben! Wieso? Was war passiert? Und wann? War sie verstorben? Nein. Nein, das konnte nicht sein. Ihr Herz schlug, sie fühlte es deutlich in ihrer Brust.

Ihr hämmernder Puls wurde zum Taktstock für die Schläge, die sie gegen den Sargdeckel richtete und der panischen Tritte, doch die Hoffnung, aus diesem engen Gefängnis zu entkommen, schien vergeblich.

Bald schmerzten ihre Hände und Knie, ihr Nachthemd war zerrissen und Tränen rannen heiß über ihre Wangen. Sie hustete heftig.

War das nun das Ende? Sie öffnete die Lippen zu einem Schrei, der ihre Lungen brennen ließ. Mit aller Kraft schrie sie.

Rhea schreckte auf. Was für ein Albtraum! Verstörender als alles andere schien ihr, dass nicht sie es gewesen war, die lebend in einem dunklen Sarg zu sich gekommen war, sondern – wie ihr nun bewusst wurde – Phoebe. Rheas eigener Name hatte sich – zum Schrei ihrer Schwester verzerrt - ihre Kehle hinauf gedrängt, ihr Trommelfell zum Beben gebracht.

Hastig sah sie sich im Zimmer um, nur um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, dass es nur ein Albtraum gewesen war, der sie geweckt hatte. Doch das war es nicht.

Phoebe war nicht da. Und auf einen zweiten Blick fand Rhea, dass der Salzkreis um ihr Bett zu einem säuberlichen Haufen zusammengekehrt worden war.

Ein eisiger Lufthauch fegte durch den Raum, als hätte er nur darauf gewartet, dass Rhea das Salz erspähte. Korn für Korn wurde es weggeweht und Rhea vermochte nicht zu sagen, ob es in den Ritzen und Spalten des Hauses verschwand oder im schieren Nichts - aus der Wirklichkeit hinaus gefegt und in eine andere Welt.

Sie sprang aus dem Bett. Sie musste Phoebe finden, koste es, was es wolle. Sie rannte den Gang entlang.

„Du wirst sie nicht finden. Niemand wird sie finden. Sie ist bei mir."

Die Stimme klang seltsam hohl und schien ihren Ursprung direkt in Rheas Kopf zu haben.

Ein heftiger, eiskalter Windstoß warf die junge Frau zurück. Zitternd richtete sie sich wieder auf.

„Bitte!", rief sie in die Dunkelheit. „Bitte tun sie meiner Schwester nichts! Lassen Sie sie gehen!"

Ein gehässiges Lachen erklang, von dem Rhea nicht sagen konnte, ob es außerhalb ihres Kopfes wahrnehmbar war.

„Was gibst du mir dafür?"

Rheas Brust bebte. „Alles", hauchte sie. „Alles. Wenn sie nur lebt."

Die Stimme - Rhea war sich sicher, dass sie Mr. Hawkes gehörte - schwieg einen Moment lang, der Rhea ewig vorkam, als wöge sie den Preis für Phoebes Leben ab.

„Ein Leben für ein Leben. Ihres gegen deins. Kommen wir ins Geschäft?"

„Und sie lebt noch?", vergewisserte Rhea sich. Sie misstraute den scheinheiligen Unterton in Mr. Hawkes Stimme.

„Sie lebt, darauf hast du mein Wort. Noch. Du solltest dich rasch entscheiden, Mädchen, sonst ist es aus mit deinem Schwesterchen. Und das willst du doch nicht."

„Sie werden sie in Ruhe lassen!", forderte Rhea.

„Auch darauf mein Wort. Keinen Finger lege ich an sie."

Die Stimme klang höhnisch, aber welche andere Möglichkeit blieb Rhea? Sie schluckte trocken.

„Was muss ich tun?"

Phoebe hatte aufgegeben, gegen ihr hölzernes Gefängnis zu schlagen und zu treten. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, sie konnte kaum noch atmen.

Und mit einem Mal hatte sie eine Müdigkeit ergriffen, derer sie sich kaum zu widersetzen vermochte. Doch sie fühlte, dass sie sich nicht davon übermannen lassen durfte.

Sie musste wach bleiben.

Sie musste kämpfen.

Ihre Augen fielen zu, ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte.

Sie musste wach bleibe

Sie musste kämpfen.

Immer wieder hallten ihre Worte durch ihren Kopf, der sonst wie leergefegt war.

Oben in der Halle des Hawkes-Hauses rannen Rhea die Tränen über's Gesicht, als sie die raue Hanfschlinge um ihren Hals legte.

Phoebe kämpfte mit jedem Augenblick schwerfälliger darum, die Augen trotz der Finsternis offen zu halten. Sie hätte Rhea glauben sollen. Der Gedanke flackerte Matt in ihrem Geist auf.

„Verzeih mir, Rhea", hauchte sie kaum hörbar.

Sie konnte nicht länger wach bleiben. Ihr Kampf war verloren.

„Entschuldige, Phoebe", wisperte Rhea.

Der Lüster in der Halle schaukelte, als sie vom Geländer sprang.

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