Kapitel 7: Elisabeths Geist
„Weißt du, Rhea...", begann Phoebe eines Abends, als sie gemeinsam beim Abendessen saßen. „Tantchen und ich sind etwas besorgt um dich. Wir haben gedacht, es wäre eine gute Idee, auch einen Arzt zu konsultieren und nicht nur einen Freizeit-Geisterjäger."
Rhea sah ihre Schwester irritiert an. „Einen Arzt? Aber ich bin doch nicht krank."
„Und dennoch lebst du, wenn du ehrlich bist, in ständiger Angst. Sieh dich doch nur an! Du schläfst kaum noch, du kommst fast gar nicht mehr aus deinem Zimmer und seit Tagen trägst du dieses Kleid! Lass es doch wenigstens einmal waschen!"
Phoebe versuchte ihrer Schwester so schonend wie möglich beizubringen, dass sie nicht gerade nach Rosen duftete.
Rhea schwieg eine lange Weile. „Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?", sagte sie dann leise.
„Ich halte dich nicht für..."
„Aber ich bin nicht verrückt!", rief Rhea wütend und stand auf. Das Geschirr klirrte und Phoebe zuckte erschrocken zusammen als die Handflächen ihrer Schwester auf den schweren, dunklen Mahagonitisch niedersausten. „Ich weiß was ich gehört habe! Ich weiß, was ich gesehen habe! Und ich weiß, was ich gefühlt habe!" Rhea sank kraftlos auf ihren Stuhl zurück. „Warum glaubst du mir nicht?"
Phoebe seufzte. „Wie soll ich dir denn glauben? Weder ich noch Tantchen hören unerklärliche Geräusche, oder spüren kalte Luftzüge oder sehen seltsame Schatten und Silhouetten. Es könnte doch sein, dass... all das nur in deinem Kopf ist. Vielleicht könnte dir ein guter Nervenarzt besser helfen als zwei fingerbreit Salz auf deiner Türschwelle..."
„Du bist meine Schwester, mehr noch, mein Zwilling, du solltest mir einfach vertrauen."
Sie erhob sich schwerfällig und warf Phoebe einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie sich umwandte und sich auf den Weg in ihr Zimmer machte.
Ein Nervenarzt! Phoebe wollte sie wohl wirklich für wahnsinnig erklären lassen. Ihre eigene Schwester!
Als sie die Treppe hinaufstieg, fiel ihr auf einmal auf, dass die leichten Gardinen sich bauschten und flatterten, jedoch ohne, dass auch nur der geringste Luftzug zu spüren war. Im nächsten Moment formte sich hinter dem dünnen Leinenstoff der leichten Tagesgardinen die Gestalt einer Dame mittleren Alters in einem altmodischen, weißen Kleid mit Unterbrustband und Schultertuch. Das Mondlicht fiel durch die geisterhafte Gestalt auf den Boden und verlieh ihr ein geheimnisvolles Leuchten, während sie versonnen aus dem Fenster blickte; Eine Hand an das Fensterglas gelegt, als wäre das, was dahinter lag unerreichbar für sie und doch so sehnlichst gewünscht.
Nachdem sie den ersten Impuls, einfach wegzulaufen, unterdrückt und den anfänglichen Schrecken überwunden hatte, schien Rhea die Gestalt kaum bedrohlich, vielmehr überkam sie Mitleid.
„Pardon? Mrs. Hawkes?"
Die Gestalt blieb stumm, doch sie wandte sich Rhea zu und sah sie mit großen, aber trüben Augen an.
„Ich..." Rheas Herz schlug heftig gegen ihre Rippen, als wäre es ein Vogel in einem viel zu engen Käfig. Sie hatte Mr. Crawford Bericht über den Geist Mr. Montgomereys so oft gelesen, in der Hoffnung, sich so auf eine ähnliche Begegnung vorbereiten zu können. Doch hier stand sie nun, Aug in Aug mit dem Geist mit dem Geist der verstorbenen Mrs. Hawkes und ihr wollte nicht mehr einfallen, wie Mrs. Cooper das Gespräch in dem Bericht begonnen hatte.
„Ich wollte Sie nicht stören", brachte Rhea schließlich hervor. „Aber ich wohne jetzt hier und... wenn Sie sich entscheiden könnten, dieses Haus zu verlassen, wäre ich Ihnen sehr dankbar." Zweifelnd, ob das höflich genug war, stotterte Rhea etwas über die übernatürlichen Vorgänge im Haus zusammen und darüber, dass sie sich davon gestört fühlte um ihre Situation zu erklären.
Die Erscheinung bewegte die Lippen, doch kein Ton war zu hören. Mrs. Hawkes griff sich an die Kehle, ihr Blick hätte trauriger nicht sein können.
„Sie... können nicht sprechen?"
Mrs. Hawkes schüttelte den Kopf. Rhea runzelte die Stirn. diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht und sie war nicht sicher, was nun am besten zu tun war.
Mrs. Hawkes wandte ihren Blick derweil nach dem Flur zu ihrer Linken, auf dem durchscheinenden Gesicht ein Ausdruck von Besorgnis, als sähe sie etwas im Dämmerlicht der Gaslampen, was Rhea verborgen blieb.
Diese Miene veränderte sich zu schierer Furcht, als die Lampen in einem nicht spürbaren Luftzug zu flackern begannen und die Gardine sich erneut bauschte.
„Uhm... Mrs. Hawkes? Ist etwas nicht in Ordnung?", fragte Rhea nervös, obwohl sie wusste, dass der Geist ihr nicht antworten konnte.
Hastig drehte die Erscheinung sich zu ihr um und deutete ihr unmissverständlich, sich zu entfernen, ihre Lippen schienen stumm das Wort „Geh!" zu formen. Die Temperatur in der Halle fiel schlagartig um einige Grad.
Fröstelnd und erschreckt floh Rhea in ihr Zimmer, dankte still Gott, dass es in der entgegengesetzten Richtung lag.
Hastig griff sie nach dem Topf mit Salz, den sie vorsorglich auf ihren Nachttisch gestellt hatte und zog damit einen Kreis um ihr Bett, betete, dass er übelwollende Geister fernhalten würde.
Sie hörte das Klirren der Fensterscheiben, als bebte nicht nur ihr Atem, sondern auch die Erde selbst. Sie wickelte sich ihre Decke um die Schultern, denn es wurde noch immer beständig kälter. Der Spiegel ihrer Schminkkommode war beschlagen - sie war nicht sicher, ob dies den Gesetzen der Physik entsprach - und Stück für Stück erschienen darauf die Worte „Er wird dich holen."
Rhea schauderte, nicht wissend, ob es eine Warnung oder eine Drohung war.
Das Klirren der Fensterscheiben wurde lauter. Der Spiegel wurde dunkel und die Schrift verschwand, nur um sofort wieder neu zu erscheinen.
„Sie kann dich nicht retten."
Nicht nur die Worte, sondern auch die Schrift selbst waren anders.
Mit einem scheußlichen Knacken zersprang der Spiegel, Rhea fiel vor Schreck und von einem Schrei begleitet auf den Rücken.
Jetzt hatte ihr letztes Stündlein geschlagen, Rhea war sich sicher...
Aber nichts geschah.
Der Raum wurde wieder wärmer, der Spiegel wieder klar.
Zitternd und mit rasselndem Atem sah sie sich um und wartete einen langen Moment. Der Spiegel war noch immer von spinnennetzartigen Rissen durchzogen.
Als sich ihr Atem beruhigt hatte, wagte sie sich zögernd aus dem schützenden Salzkreis heraus und als noch immer nichts geschah, auch aus ihrem Zimmer. Der Flur war hell erleuchtet, die Lampen brannten, als wäre nie etwas gewesen. Sie atmete tief durch. Phoebe. Sie musste Phoebe finden. Der Spiegel war der perfekte Beweis dafür, dass sie nicht verrückt war!
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