Kapitel 6: Silhouette im Rauch
Rhea überwachte Anjali, während sie erneut mit Räucherwerk von Raum zu Raum ging. Sie hatte die Inderin gebeten, besonders die Halle und den Flur des ersten Stocks umfänglich zu behandeln.
Grau-blaue, duftende Schwaden füllten den Gang und machten die Sonnenstrahlen, die durch das große Bogenfenster hereinfielen, sichtbar.
Tief atmete Rhea ein. Sie war noch immer fasziniert, wie gut man das Zedernholz herausriechen konnte und der Salbei war gleichsam intensiv, sodass sie ihn schon fast auf den Lippen schmecken konnte.
„Es riecht wie in einem alten Schrank..." Das war alles, was Phoebe dazu zu sagen hatte.
„Ach, komm, wenn es hilft ist das doch..:" Rhea sprach den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Moment fiel ihr Blick auf die Treppe und auf eine Stelle, die gänzlich frei von Rauch zu sein schien.
Der feine Rauch umgab die Silhouette eines Mannes. Er war nur für einen Moment zu sehen, gerade genug, damit Rhea ihn bemerkte.
Mit einem spitzen Schrei stolperte sie einige Schritte rückwärts, kam aus dem Gleichgewicht und hätte Phoebe nicht geistesgegenwärtig ihren Arm festgehalten, hätte sie wohl schmerzhafte Bekanntschaft mit den Eichendielen unter dem Läufer gemacht.
„Vorsicht! Was ist denn los?", wollte ihre Schwester alarmiert wissen.
„Hast du das nicht gesehen?", fragte Rhea weitaus lauter als notwendig gewesen wäre. Ihre Stimme klang ungewohnt schrill.
Phoebe musste die Gestalt auch gesehen haben. Sie musste!
„Was gesehen, Rhea?"
„Da!" Sie zeigte auf die Stelle. „Da war eine Gestalt... Ein Mann... Aber jetzt ist er... verschwunden... Er ist einfach verschwunden!"
Phoebe runzelte die Stirn. „Ein Mann? Bist du sicher?"
„Ja! Ja, ich bin sicher! Ich habe ihn doch gesehen!"
„Und dann ist er verschwunden?" Phoebe sah ihre Schwester zweifelnd an.
„Ja doch! Wenn ich's dir doch sage! Du musst ihn doch auch gesehen haben!", Rhea stiegen die Tränen in die Augen.
Phoebe fasste ihre Schwester bei den Schultern und sah sie eindringlich an. „Rhea, beruhig dich doch. Da war nichts, glaub mir. Du bist nur müde und dieser Mr. Crawford hat dir mit seinen wilden Geschichten Angst gemacht und jetzt spielt dir deine Fantasie einen Streich, das ist alles."
„Und ich sage dir, da war Etwas... Jemand", beharrte Rhea beinahe schon trotzig und vor Erregung zitternd.
Phoebe seufzt und beschloss, es mit einer anderen Taktik zu versuchen: „Selbst wenn, jetzt ist es fort, was auch immer es war. Vielleicht war es ein Geist und der Rauch hat ihn vertrieben."
Sie zog ihre Schwester in eine Umarmung. „Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier sicher, ich verspreche es dir."
Sie streichelte liebevoll Rheas Rücken.
Langsam beruhigte sich die junge Frau wieder, das Zittern lies nach.
Doch trotz Phoebes Versicherung, dass sie nichts zu befürchten hatte, zweifelte sie.
Obwohl sie protestierte, nahm Rhea Anjalis Nähkorb nach dem Abendessen in ihr Zimmer. Sie hatte nicht viel Ahnung vom Nähen - das war Arbeit für ein Hausmädchen -, aber es war ihr unangenehm, jemanden darum zu bitten. Sie wollte schließlich nur zwei kleine Beutel mit Salz in das Innenfutter ihres scharlachroten Lieblingskleides nähen. Wie schwer konnte das schon sein?
Es erwies sich als schwieriger, als Rhea zunächst gedacht hatte, aber schließlich war es geschafft.
Sie hängte das Kleid über den Paravent in ihrem Ankleidezimmer und ging, nachdem sie noch einmal die feinen Salzlinien am Fensterbrett und auf der Türschwelle kontrolliert hatte, ins Bett.
Trotz allem hatte sie ein mulmiges Gefühl.
Über die nächsten Tage nahmen die geisterhaften Geräusche, das Klopfen, die Schritte und die Stimmen, sowie die kalten Luftzüge, ohne benennbaren Ursprung beständig zu, doch Phoebe und Anjali schienen sie entweder nicht zu bemerken oder gekonnt zu ignorieren. Rhea hingegen fühlte sich stets beobachtet, wenn sie durch die Zimmer und Flure des Hawkes-Hauses wanderte.
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