Kapitel 4: Mortimers Journal - Teil 1

Das Hawkes-Haus schien Rhea auf dem Heimweg immer überragender und dunkler zu werden, bis sich nur mehr ein schwarzer, bösartiger Koloss voller Gefahren aus dem leichten Nebel erhob.

Vor der Tür blieb sie zögernd stehen, als wagte sie nicht, dieses Domizil der Niedertracht zu betreten. Als sie über die Schwelle trat, presste sie Mortimers Journal an ihre Brust. Die wohlige Wärme des crawford'schen Wohnzimmers und der leichte Duft nach Mandarinen der Clementine umwehte, waren noch nicht ganz verflogen, aber dennoch schien Rhea, sie tauchte in eisigkaltes Wasser, sobald sie die Halle betreten hatte.

Sie unterdrückte einen erschrockenen Aufschrei, als kalter Klumpen hing er in ihrer Kehle, nahm ihr fast den Atem.

Phoebe schien nichts davon zu bemerken. Im Bestreben, ihre Schwester von düsteren Gedanken abzulenken, plapperte sie schon die ganze Zeit munter drauf los, schwärmte noch immer von dem vorzüglichen Kuchen und den wunderbaren Kokosmakronen, die es zum Tee gab und von der kleinen Sophie und ihrem jüngeren Bruder Victor, die beide so adrett anzusehen waren, als wären sie geradewegs aus einem Modejournal gestiegen.

Ohne darauf zu achten verabschiedete sich Rhea hastig ins Bett, ließ ihre Schwester etwas ratlos zurück, die nicht erwartet hatte, derart rüde unterbrochen zu werden.

Aber Rhea gedachte nicht im Mindesten zu schlafen.

Mit einer Decke um die Schultern setzte sie sich an ihren Sekretär, riss mit fahrigen Bewegungen ein Streichholz an und entzündete die Leselampe.

Selbst das goldene Licht der kleinen Lampe erschien ihr ebenso unnatürlich kalt wie der Rest des Hauses.

Ihre Hand zitterte, als Rhea sie auf den Buchdeckel legte. Für einen Moment schloss sie die Augen. Das Journal lag unter ihren kalten Fingern und Rhea genoss die Wärme, schöpfte neue Kraft aus ihr, obwohl sie ihr angesichts der Kälte im Haus ebenso seltsam erschien.

Endlich - sie vermochte selbst nicht zu sagen, wie lange sie so da gegessen hatte - schlug sie das Journal auf.

Auf der ersten Seite fand sich ein filigranes Muster aus Linien, Kreisen und Schnörkeln, dessen Bedeutung Rhea nicht verstand, jedoch bewunderte sie die Geduld, mit der Mr. Crawford es zu Papier gebracht haben musste.

Vielleicht eine Art Schutzzauber, überlegte sie. Zuzutrauen wäre es Mr. Crawford ja durchaus gewesen.

Rhea beschloss, ihn danach zu fragen, wenn sie ihm das Journal zurück gab und sich stattdessen auf das eigentliche Problem zu konzentrieren. Entschlossen blätterte sie zur ersten Seite, die mit einem Lesezeichen markiert war.

Mr. Crawfords Aufzeichnungen schienen in der Art eines Tagebuchs geführt zu sein. Auch hier war die Schrift betont sauber, als wäre er die Schreibarbeit nicht gewöhnt. Der erste Eintrag, den er als von Interesse betrachtete, war mit dem 12. April datiert und lag bereits einige Jahre zurück.

William, mein lieber Freund aus North Carolina, berichtete mir unlängst von einem bemerkenswerten Fall in New Bern.

Mr. John Cooper und seine Gattin Angelica, hatten ein Haus gekauft, dessen früherer Besitzer, einem Mr. Robert Montgomerey, verstorben war. Schon Bald sahen Mr. und Mrs. Cooper sich einer Reihe von unangenehmen Spukerscheinungen gegenüber.

Rhea überflog die detaillierte Aufzählung dieser Erscheinungen nur halbherzig - davon hatte sie bereits mehr als genug gehört – aber aufmerksam genug um zu verstehen, dass der vorherige Hausbesitzer wohl in dem Haus umging, augenscheinlich alltägliche Tätigkeiten verrichtete und nur allzu oft Eigentum der Coopers zerstörte.

Nun mutet es wohl durchaus ein wenig seltsam an, dass Mrs. Cooper, ein äußerst zierliches Fräulein, sich eines Abends der ruhelosen Erscheinung Mr. Montgomereys mit bemerkenswerter Furchtlosigkeit näherte und ihn so höflich es ihr möglich war ansprach:

„Verzeihen Sie, Mr. Mongtomerey?", sagte Mrs. Cooper William zufolge. „Es tut uns wirklich leid, sollten John und ich Sie stören. Es war nicht unsere Absicht, in ihr Heim einzudringen. Aber sehen Sie, wir haben dieses Haus gekauft und es ist nun auch unser Heim."

„Gekauft?", soll die Erscheinung hallend geantwortet haben. „Aber ich wohne doch hier!"

Mrs. Cooper scheint mir eine aussergewöhnlich scharfsinnige junge Dame zu sein, verstand sie doch sogleich, dass Mr. Montgomerey sich seines eigenen Ablebens nicht recht bewusst zu sein schien.

Nun ist es sicherlich nicht ganz einfach, jemandem mit dem gebotenen Respekt zu sagen, dass er verstorben ist, aber ich muss anerkennen, dass Mr. Cooper diese surreale Situation bemerkenswert gut meisterte.

"Das ist nun sicher schwer für Sie", sagte sie William zufolge. „und ich wünschte, ich müsste Ihnen das nicht mitteilen, aber ich fürchte, Mr. Montgomerey, ich fürchte, dass Sie verstorben sind."

„Verstorben? Ich?" Mr. Montgomerey war angeblich ganz schockiert von dieser Eröffnung - eine wie ich finde durchaus verständliche Reaktion. Mrs. Cooper berichtete William, er, Mr. Montgomerey, sei ganz bedrückt zu Boden gesunken. „Aber das kann doch nicht sein... ich bin doch hier", murmelte er verwirrt.

"Ich fürchte es ist leider so.", sagte Mrs. Cooper mit bewundernswerter Gelassenheit, aber dennoch mit all der Einfühlsamkeit, die den Damen zu eigen ist. „Ohne respektlos erscheinen zu wollen, aber mein Mann John und ich, wir haben uns gefragt, ob es nicht vielleicht besser für Sie wäre, ins Jenseits zu gehen." Als sie aber sah, wie niedergeschlagen Mr. Montgomerey ob der Nachricht seines Todes noch war, fügte sie rasch hinzu: „Aber wenn Sie noch eine Weile bleiben möchten, sind Sie uns als Gast herzlich willkommen. Ich bitte Sie nur, kein Porzellan mehr zu zerschlagen."

William berichtete mir höchst zufrieden, dass dieses Gespräch das KLima im Hause Cooper erheblich verbesserte. Zwar ist der Geist von Robert Montgomerey noch immer zugegen, doch können sich die Coopers laut William nun gut mit ihm arrangieren.

Rhea musste beinahe lachen. Ein übernatürlicher Hausgast, was für eine kuriose Vorstellung. Dann betrachtete sie einen Moment lang gedankenverloren den Lampenschirm. Ob sich die Geister des Hawkes-Hauses wohl auch durch ein vernünftiges Gespräch zur Ruhe bringen ließen? Rhea bezweifelte es.

Im Gegensatz zu „ihren" Hausgeistern war Mr. Montgomerey ja im Grunde genommen friedlich gewesen.

Sie blätterte zur nächsten Textstelle. Der Bericht stellte sich als gut zwei Jahre alt heraus.

Unter dem Datum des 11. März erfuhr sie von Mr. Percival Knowles aus Bristol, der in einem neugebauten Haus diverse Spukaktivitäten erlitt.

Mr. Knowles beschloss, es mit reinigendem Räucherwerk zu versuchen. Er verbrannte eine großzügige Mischung aus Salbei, Zeder und Rosmarin um das Haus zu reinigen und fand, dass die unerwünschte Aktivität alsbald in nicht geringem Maße zurück ging.

Allerdings zeigten die Geister sich als beharrlich und der Spuk nahm einige Tage später erneut zu.

Bei Mr. Knowles aber schien es sich um einen ebenso beharrlichen Mann zu handeln. Mit einem Lachen gab er an, er sei eben einfach Tag für Tag wieder mit dem Räucherwerk durch alle Räume des Hauses gepilgert. Den Geistern sei es wohl irgendwann zu bunt geworden.

Er gab an, noch immer einmal in der Woche zu räuchern, aber die unerwünschten Aktivitäten sind seither nicht wieder aufgetreten.

An dieser Stelle begann Mr. Crawford, sich darüber auszulassen, wie interessant dieser nämliche Fall doch sei, da es sich um ein neues Haus handle und darüber zu sinnieren, warum Mr. Knowles mit dieser Methode Erfolge erzielte.

Rhea nahm sich vor, Tantchen Anjali zu bitten, es noch einmal mit Räuchern zu versuchen. Der erste Versuch, den sie unternommen hatte, schien relativ erfolglos geblieben zu sein, aber Mr. Knowles' Fall zeigte schließlich, dass es manchmal einfach eine Geduldsprobe war.

Sie gähnte, übersprang den letzten Absatz und blätterte zum nächsten Bericht, der mit dem 6. Oktober des letzten Jahres datiert war.

Unten in der Halle schlug die Uhr halb drei.

Aus dem wilden, aber regnerischen Schottland erreichte mich Nachricht von meiner liebsten Freundin CeCe.

Rhea runzelte ob des ungewöhnlichen Spitznamen die Stirn.

Sie wusste von Mr. und Mrs. Jones und ihren drei Kindern aus Edinburgh zu berichten.

Die Familie war unlängst in ein kleines Stadthaus gezogen, das sie zu einem äußerst günstigen Preis hatten mieten können.

Alsbald stellten sich jedoch heftige Spukerscheinungen ein, unter denen insbesondere die Kinder zu leiden hatten.

Erneut überflog Rhea die Details der Erscheinungen lediglich.

CeCe, wissend um frühere Fälle, wie denjenigen des Ehepaars Cooper aus North Carolina und Mr. Knowles drüben in Bristol, riet der Familie zunächst, es ebenfalls mit einem Gespräch oder dem Räuchern des Hauses zu versuchen.

Zwar gingen die Phänomene zurück, jedoch nur in geringfügigem Maße.

In dem Bestreben, noch nicht zu brachialen Methoden zu greifen, aber dennoch den Schaden für die Familie zu begrenzen, schlug CeCe vor, die Geister zunächst einfach mit einer Salzbarriere aus den Schlafgemächern fern zu halten.

Auch regte sie an, dass jedes Familienmitglied einen kleinen Beutel mit Dingen, die einen emotionalen Wert besitzen und ihnen im Falle eines Falles ein Trostspender zu sein vermochten und einer kleinen Prise Salz füllen sollte.

(Der Versuch des jüngsten Sohnes Phineas, einen lebenden Frosch, den er gedachte, als Haustier zu halten, in seinen Beutel zu stecken, konnte CeCe gerade noch verhindern – Phineas begnügte sich schließlich mit einem aus Holz geschnitzten Fröschchen.)

Die Wirkung dieser Maßnahme auf Geister und eventuelle andere Entitäten darf trotz den Schützenden Qualitäten des Salzes sicherlich bezweifelt werden, nicht aber der beruhigende Effekt, den sie auf die Familie Jones hatte.

Wenn nichts anderes, so beruhigte es sie immerhin und wirkte der Angst, die naturgemäß mit derlei Phänomenen einhergeht. Eigentlich ist diese Angst auch grundverkehrt, da es Geister gibt, die sich an ihr nähren und so der Spuk sogar noch schlimmer werden kann.

Rhea seufzte. Keine Angst... Das war leichter gesagt als getan...

Die reinigende Wirkung des Salzes jeden Falls zeigt sich rasch als effektiv. Salzbarrieren an Türen und Fenstern verwehrten den Geistern zunächst den Zutritt in die Schlafgemächer, nach einer Ausweitung und erneutem Räuchern zum ganzen Obergeschoss und schließlich gelang es sogar, die ungeliebten spektralen Gäste ganz aus dem trauten Heim der Jones' zu verdrängen.


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