Kapitel 3: Das Abendessen
Dies konnte er in der Tat.
„Nun, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, besitzt das Hawkes-Haus eine äußerst blutige Geschichte. Es heisst, darin ginge der Geist von Simon Hawkes, dem einzigen Sohn des Erbauers, um. Mr. Hawkes war, nach allem, was man hört, kein angenehmer Zeitgenosse. Trank und prügelte wohl seine Frau und seine Kinder. Fürchterlich, nicht?", begann Mortimer seine Ausführungen während des Desserts.
„Schrecklich", stimmte Rhea betreten zu. „Und so ein gewalttätiger Mensch soll nun in dem Haus spuken?"
Phoebe stocherte in ihrem Zitronenmelissen-Kuchen und versuchte keine taktlosen Kommentare von sich zu geben.
„Oh ja", Mr. Crawford klang viel zu heiter für eine Aussage wie diese. „Es heißt nämlich, dass Mrs. Hawkes ihren Gatten in einem Akt blinder Rache vergiftete. Ein Verdacht, der nie wirklich bestätigt werden konnte, aber das ist nun einmal, was man damals vermutete und sie wissen sicher, wie die Leute eben so sind. Aus bloßen Vermutungen werden im Laufe der Zeit nur allzu oft handfeste Tatsachen.
Wie auch immer, Mr. Hawkes wurde also tot im Flur des ersten Stocks aufgefunden. Und damit nahm der Spuk seinen Anfang. Zu Beginn waren es offenbar nur kleinere Unannehmlichkeiten: Ein paar eisig-kalte Luftzüge, selbst bei geschlossenen Fenstern und an warmen Tagen, einige grundlos zuschlagende Türen, gelegentliches Wispern in der Nacht... Ängstige ich Sie zu sehr, Miss Rhea? Sie sind ja ganz blass", unterbrach sich Mortimer und blickte Rhea mit besorgtem Blick an.
„Für einen Moment haben Sie ja richtig geschlottert", pflichtete Mrs. Crawford ihrem Gatten ebenso besorgt bei.
Auch Phoebe sah bestürzt aus.
„Es geht schon wieder... Ich war nur in Gedanken", murmelte Rhea und klang dabei matter als sie eigentlich bereit war, zu zeigen. Es war bereits zweimal vorgekommen, dass sie des Nachts aufgewacht war, weil sie fror. Aus dem Wissen heraus, dass Englands Wetter generell kühler war als das Klima Indiens, hatte sie es jedoch als ungewohnt, aber normal abgetan. Nun war sie sich plötzlich nicht mehr so sicher darüber. „Bitte, erzählen Sie weiter."
„Sind Sie sicher? Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn Sie heute Nacht meinetwegen nicht schlafen könnten."
„Ach, ich habe sie doch darum gebeten", erwiderte Rhea. Innerlich schauderte sie, wenn sie daran dachte, was wohl noch alles ans Tageslicht kommen würde, aber sie nahm sich vor, sich nicht davon einschüchtern zu lassen.
„Nun, wie Sie meinen, aber - bitte - Sie dürfen mich jederzeit aufhalten, wenn es Ihnen zu viel wird. Also wo war ich noch gleich...?"
„Bei kleineren Unannehmlichkeiten nach Mr. Hawkes Ableben", half Phoebe ihrem Gastgeber auf die Sprünge.
„Ach ja... Alsbald begannen kleinere Gegenstände zu verschwinden - wie Mrs. Hawkes Brillantohrringe - während andere auftauchten. So stand eines Morgens Mr. Hawkes Rasierzeug wieder auf der Waschschüssel, obwohl Mrs. Hawkes es - je nachdem wen man danach fragt - hatte verkaufen oder zumindest für immer wegräumen lassen.
Zunächst dachte man an einen makabren Scherz oder vielleicht das Unverständnis der Kinder, die ihren Vater trotz allem zurücksehnten.
Doch wenn es ein Scherz war, so wurde der Schelm, der ihn spielte seiner wohl einfach nicht müde." Mortimer machte eine Kunstpause und Phoebe nutzte diese um das Wort zu ergreifen.
„Sagen Sie", begann sie mit einem kecken Lächeln, „die Familie scheint in reichlich..." sie versuchte, ein passendes Wort zu finden, „...haarsträubenden Verhältnissen gelebt zu haben. Ist Ihnen zufällig bekannt, warum die Witwe nicht einfach mit ihren Kindern fort gezogen ist?"
„Das ist wirklich eine ganz exzellente Frage, Miss Phoebe", antwortete Mortimer, sichtlich erfreut über die kritische Einstellung, die sie an den Tag legte.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung", fügte er dann trocken an. „Vielleicht hofften sie, diese Phänomene würden wieder aufhören, vielleicht wusste Mrs. Hawkes nicht wohin oder vielleicht war sie einfach nur unglaublich stur.
Fest steht nur, dass Elisabeth Hawkes wohl zu lange in dem Haus blieb. Denn eines Morgens fand man sie tot in der Halle. Offenbar war sie die Treppe hinunter gestürzt und hatte sich dabei das Genick gebrochen. Aber die Familie mochte nicht an einen Unfall glauben."
„Das ist ja fürchterlich", murmelte Rhea, versuchte aber, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass all das schon lange zurück lag, in der Hoffnung, es helfe gegen die beachtliche Bestürzung, die sie ergriffen hatte. Dennoch wurde ihr bei dem Gedanken, jeden Abend auf dem Weg in ihr Schlafzimmer an zwei Stellen, an denen jemand verstorben war, vorbei zu kommen, unsäglich flau im Magen.
„Ich nehme an, damit ist der Spuk noch nicht zu Ende?", fragte Phoebe mit interessiertem, aber weiterhin etwas geringschätzigem Unterton.
„In der Tat, er wurde sogar immer schlimmer, denn nun geht offenbar auch Elisabeth Hawkes Geist in dem Gemäuer um. Einige der Nachmieter wollen sie sogar gesehen haben.
Sehen Sie, die Hawkes-Kinder wollten auf keinen Fall in dem Haus bleiben und versuchten, es zu verkaufen, was bei zwei Todesfällen junger, gesunder Leute und innerhalb von recht kurzer Zeit natürlich nicht ganz einfach war.
Schließlich gelang es ihnen, es zumindest zu vermieten. Es ist wohl unnötig zu sagen, dass keiner der Mieter es besonders lange darin aushielt. Manche hielten nicht einmal einen Monat durch. Diejenigen, die länger standhielten, berichteten sogar von fliegenden Gegenständen wie Kissen und Tellern." Mr. Crawford unterbrach sich unvermittelt. „Sagen Sie, Sie haben nicht zufällig derartiges beobachten können?" Seine Augen blitzten mit unverhohlener Neugier.
Rhea und Phoebe waren einen Moment lang sprachlos. Was für eine Frage!
„Natürlich nicht!" Phoebe fand als erste die Worte um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. „Allein die Idee ist lächerlich, vollkommen absurd, finden Sie nicht?"
„Es gibt so viel Lächerliches und vollkommen Absurdes auf der Welt, dass man ganze Bücherregale damit füllen könnte. Und tagtäglich entdeckt der Mensch mehr davon. Ein paar fliegende Untertassen würden mich nun wirklich nicht überraschen", erklärte Mortimer gemäßigt, doch mit einem gewissen Ausdruck von Bedauern in den Augen.
„Sie beschäftigen sich wohl sehr ausführlich mit... derlei Dingen?", versuchte Rhea, die Wogen etwas zu glätten.
„Viel zu ausführlich für einen Mann seines Alters." Clementine hatte dem Gespräch bislang schweigend gelauscht. Einerseits, weil sie ihren Gatten nicht hatte unterbrechen wollen, andererseits aus schlichter Müdigkeit.
Mortimer beschloss, die Aussage großzügig zu überhören, wusste er doch, dass Clementines Worte - wenngleich man sie bei oberflächlicher Betrachtung als Spott missverstehen konnte - keineswegs böse gemeint waren.
„Letztlich bin ich nur ein einfacher Kaufmann; fasziniert von den Dingen, die jenseits des Horizonts liegen", erklärte er mit einem Ausdruck, der Rhea beinah etwas wehmütig erschien, während Clementine ihn nachsichtig lächelnd anblickte.
„Nun, die Nachmieter jedenfalls", nahm er seine Erzählung, nachdem er sich einen Moment lang gesammelt hatte, erneut auf. „berichteten nicht nur von gespenstischen Vorgängen und Erscheinungen, sondern auch die mysteriösen Todesfalle im Hawkes-Haus nahmen zu. Eine Mieterin, angeblich eine äußerst lebenslustige Person, wurde im Foyer gefunden, erhängt am Lüster, ohne dass eine Leiter oder eine andere Möglichkeit gefunden wurde, wie sie den Strick dort oben angebracht haben konnte. Ein anderer erstickte in seinem eigenen Bett unter einem Kissen - angeblich war niemand sonst im Haus, als es er starb. Und einer weiteren Dame, die den Fehler machte, zu lange in dem Haus zu wohnen, wurde der Schädel eingeschlagen, wie man hört. Es heißt auch, dass einige einfach verschwanden und niemals wieder gesehen wurden."Rhea erschauderte erneut. „Das klingt als wäre es regelrecht lebensgefährlich, in dem Haus zu wohnen... Als wäre das Haus selbst bösartig..." Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her.
Phoebe hingegen schien von all dem nur mäßig beeindruckt. „Ach, kommen Sie, nun erzählen Sie aber wirklich nur Schauermärchen! Selbst wenn es Geister gibt, wie sollten sie Dinge bewegen oder jemanden töten? Sie haben keine Körper mehr."
„Ich wage nicht darüber zu urteilen, was davon wahr ist und was nicht. Ich erzähle Ihnen nur, was ich selbst gehört habe. Um ehrlich zu sein, hatte ich nie zuvor das Vergnügen, einen Bewohner des Hawkes-Hauses persönlich kennenzulernen. Es stand leer, solange ich zurückzudenken vermag", gab Mr. Crawford zu. „Dennoch bitte ich Sie," an dieser Stelle sah er Rhea und Phoebe eindringlich an. „auf sich aufzupassen und, sollte es notwendig sein, dürfen Sie selbstverständlich zu jeder Zeit auf meine Hilfe hoffen."
„Bitte zögern Sie nicht, diese Hilfe einzufordern", pflichtete Clementine ihrem Ehemann bei und legte die Hand auf Rheas Arm, „Mortimer mag ein Fantast sein und Sie mit seinen Geschichten erschrecken, weil er es manchmal etwas übertreibt, aber er will stets nur das Beste für die Menschen in seinem Umfeld. Wirklich, es gibt keinen fürsorglicheren Mann als ihn."
Rhea nickte dankbar.
„Gibt es denn keine Angaben darüber, wie man dem Spuk beikommen könnte?", wollte sie dann wissen.
Phoebe verdrehte die Augen. Unfassbar, dass Rhea das wirklich glaubte. Sie unterdrückte ein Seufzen.
„Nun, ein Patentrezept gibt es - wie so oft - nicht", meinte Mr. Crawford nach einem Moment, „Aber ich glaube, ich habe ein paar Berichte zu diesem Thema. Wenn Sie möchten, suche ich Sie gerne für Sie heraus."
„Das wäre sehr freundlich von Ihnen", antwortete Phoebe bevor Rhea etwas sagen konnte und erntete einen irritierten Blick. Sie mochte es lächerlich finden, aber wenn es irgendeine Maßnahme gab, die ihre Schwester beruhigen konnte, würde es bestimmt nicht schaden, sie eben anzuwenden.
Während Mr.Crawford in sein Arbeitszimmer eilte um die Berichte zusammenzusuchen, setzten Rhea und Phoebe sich mit Mrs. Crawford in den Salon. Man sprach - sehr zu Phoebes Erleichterung - über Triviales: Das Leben in Indien und die Gegensätze zu England, Clementines Schwangerschaft und Rheas Suche nach einem Gatten.
Schließlich kehrte Mortimer mit einem dünnen, in dunkelrotes Leder gebundenen Journal zurück. Das Etikett auf dem Einband verriet in enger, betont sauberer Schrift, dass es darin um „Heimsuchungen" ging. Phoebe konnte nicht anders als sich zu fragen, wie viele solcher Journale zu unterschiedlichen Themen Mortimer wohl noch in seinem Studierzimmer aufbewahrte.
„Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen die betreffenden Stellen nicht ordentlich herausgeschrieben habe, aber angesichts der Dringlichkeit und der späten Stunde", wie auf Befehl schlug die Standuhr im Foyer ein Uhr, „schien es mir das Beste, Ihnen die entsprechenden Seiten einfach zu markieren", erklärte er nicht ohne ein wenig Verlegenheit. „Ich hoffe sehr, dass diese Informationen Ihnen helfen können."
Mit fast schon feierlicher Miene übergab er Rhea das Journal.
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