Kapitel 2: Erste Anzeichen
Rhea hätte es nicht zugegeben, aber Mr. Crawfords Andeutungen bezüglich des Hauses hatten sie nervös gemacht und die teils neugierigen, teils mitleidigen Blicke der anderen Nachbarn trugen nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte.
Anjali Kapoor, die zugleich Haushälterin und Gouvernante war - hatte zwar versucht, das Haus mittels duftendem Räucherwerk und einigen, in ungeübtem Sanskrit, gemurmelten Gebeten von bösen Geistern zu reinigen, aber dennoch zuckte Rhea bei jedem unerwarteten Geräusch leicht zusammen.
Ihr war des Nachts, als höre sie Schritte, als ginge jemand ruhelos auf dem Flur vor ihrer Schlafzimmertüre umher.
Ganz bestimmt war es nur Anjali, die nicht schlafen könnte, sagte sie sich, aber sie wagte nicht, nachzusehen.
Auch hütete sich Rhea, das Thema gegenüber Anjali und Phoebe anzusprechen. Ihre Schwester würde es sicherlich nur zum Anlass nehmen, sie zu ärgern. Es war ja eigentlich auch albern, sich in ihrem Alter noch derart von ein paar dummen Schauermärchen ängstigen zu lassen.
Oder vielleicht war es sogar Phoebe selbst, die vor Rheas Zimmer auf- und abging und sich einen makabren Scherz erlaubte, sich vorzustellen, wie Rhea verängstigt lauschte.
Ja, bestimmt war es Phoebe, das sah ihr ziemlich ähnlich.
Rhea versuchte, die Sache zu ignorieren, aber als sich nach einigen Tagen auch noch ein leises Wispern und gelegentliches Stöhnen zu den Schritten gesellten, hatte sie die Nase gründlich voll von diesen Kapriolen.
„Sag mal, wird dir das nicht langsam langweilig?", wollte sie am Morgen wissen, als sie sich zu Phoebe an den Frühstückstisch setzte.
„Auch dir einen wunderschönen guten Morgen, liebste Schwester", meinte ihre Schwester mit tadelndem Unterton. „Ich habe leider nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst. Wärst du wohl so freundlich, mich aufzuklären, was mir langweilig werden soll?"
„Du weißt genau, wovon ich spreche! Dass du hier so frisch und scheinheilig sitzen kannst, nachdem du fast eine Woche lang jede Nacht an meinem Zimmer vorbei läufst um mich zu ängstigen, ist wirklich erstaunlich!" Rheas Gesicht wurde zornesrot. Das war doch nicht zu fassen! Als wäre es nicht schon unreif genug, was Phoebe da trieb, hatte sie jetzt auch noch den Nerv es frech zu leugnen? „Und jetzt fängst du auch noch an, zu flüstern und zu stöhnen um den Geist zu mimen. Das ist doch wirklich der Gipfel! Wie kannst du dich nur so kindisch benehmen?"
Rhea steigerte sich derart in ihre Wut, dass sie Phoebes erst verwirrtes und dann zunehmend verärgertes Gesicht erst bemerkte, als ihre Schwester nun ihrerseits loswetterte.
„Sag mal, bist du verrückt geworden? Du kommst hier her, sagst nicht einmal Guten Morgen, schreist mich an und unterstellst mir, ich würde Nachts an deinem Zimmer vorbei laufen - was übrigens kein Verbrechen ist - und dazu flüstern und stöhnen und weiß Gott, was sonst noch alles. Und dann mokierst du dich auch noch darüber, dass ich nicht weiß, wovon du sprichst? Ja, das ist doch ganz vorbildlich und erwachsen!" Phoebe sprang mit hochrotem Gesicht auf. „Zu deiner Information: Ich war jede Nacht in meinem Bett. Ich habe weitaus besseres zu tun als sinnlos vor deinem Zimmer herumzulaufen. Du hörst doch Gespenster!"
Auch Rhea sprang auf. „Ach, willst du mir nun erzählen, dass es hier tatsächlich spukt?"
„Nein", gab Phoebe patzig zurück. „Aber Ich glaube, du hast dich von diesen albernen Schauergeschichten erschrecken lassen und hörst Dinge, die gar nicht da nicht!"
„Nun ist aber gut!", rief Anjali endlich, bevor die beiden sich noch wortwörtlich an die Gurgel gingen. „Sie benehmen sich beide nicht wie die feinen Damen, die Sie sind. Sie keifen wie kleine Kinder und Ihre arme Mutter würde sich schämen, wenn sie Sie so sähe." Sie fasste Rhea an den Schultern und drückte sie mit sanfter Gewalt zurück auf den Stuhl. „Sie sind gerade erst hier eingezogen. Natürlich ist alles noch ungewohnt und nach den unheimlichen Geschichten ihrer Nachbarn ist es verständlich, dass Ihre Fantasie mit Ihnen durchgeht. Aber es ist wirklich kein Grund, einfach jemanden zu beschuldigen. Ich mache Ihnen jetzt einen starken Tee und dann können wir in Ruhe darüber reden, ja?"
Die Inderin wuselte in Richtung des Musikzimmers davon und kam gleich darauf zurück, um in die Küche - wo sie eigentlich hin wollte - zu begeben.
Rhea konzentrierte sich nach der Schelte mit hochrotem Kopf darauf, ihren Toast zu buttern und vermied es tunlichst, ihre Schwester anzusehen.
Wann war sie nur so reizbar geworden? Rhea wusste es nicht, aber sie musste sich dringend wieder in den Griff bekommen.
„Hast du wirklich gedacht, ich wäre das?", wollte Phoebe nach einem langen Moment des Schweigens wissen.
„Ich hatte es zumindest gehofft", gab Rhea zögernd zu.
„Du glaubst aber nicht, dass hier tatsächlich Gespenster umgehen, oder?" Phoebes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das irgendwo zwischen mitleidig und etwas schadenfroh lag.
Ihre Schwester schwieg einen Moment und starrte auf die goldbraune, mit Orangenmarmelade bestrichene Oberfläche ihres Toasts.
„Himmel, du glaubst das wirklich, nicht wahr?", fiel Phoebe seufzend in die Stille, gerade in dem Moment, als Rhea die Selbstsicherheit gefunden hatte, doch etwas zu sagen.
„Es gibt in dieser Welt so vieles, was wir nicht verstehen. Ich weiß nicht, ob es wirklich Gespenster waren, die ich gehört habe, aber irgendetwas oder irgendjemanden habe ich gehört." Rhea wählte ihre Worte sorgfältig, wusste sie doch, dass ihre Zwillingsschwester eine wahre Spottdrossel sein konnte.
Phoebe verdrehte die Augen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du bist doch wirklich eine Gans..." Rhea täuschte sich, es war ganz bestimmt nichts. Das Haus war einfach nur alt, mehr nicht. Ein paar ungewohnte Geräusche in einem alten Haus, das man außerdem gerade erst bezogen hatte, waren doch nichts Ungewöhnliches. Dennoch besaß Phoebe genügend weibliches Feingefühl um zu erkennen, dass zumindest die Verunsicherung ihrer Schwester ganz und gar echt war.
„Das nächste Mal, wenn du dich ängstigst, rufst du mich, ja?"
„In Ordnung", murmelte Rhea, nahm sich aber vor, Mr. Crawford, bei dem für den heutigen Abend angesetzten Essen, nach den Gerüchten, die sich offenkundig um das alte Hawkes-Haus rankten, zu fragen. Vielleicht konnte er ihr mehr dazu sagen.
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