Kapitel 1: Die Vorstadt-Legende
Der Garten des Hawkes-Hauses war gerade verwildert genug, um einem jeden Spaziergänger klar zu machen, dass es leer stand, jedoch ohne dabei allzu verwahrlost zu wirken - ein Zeichen der Hoffnung des Eigentümers, es doch noch irgendwann verkaufen oder wenigstens vermieten zu können.
Seit Mortimer sich erinnern konnte, war die georgianische Villa, die am Ende der Straße thronte, wie eine alternde Königin, unbewohnt und jeder im Oxforder Vorort Summertown hatte mindestens eine Theorie, warum.
An diesem Sonnabend allerdings stand ein Wagen vor dem Hawkes-Haus, Möbelpacker trugen geschäftig Kisten und Koffer ins Haus und ein Hausmädchen hatte sich daran gemacht, die blinden Fenster wieder zu säubern.
„Sieh nur, Vater, da zieht wer ins Gruselhaus!", fasste Mortimers Tochter Sophie die Situation ebenso treffend wie lautstark zusammen.
„Sophie!", tadelte Clementine sie sofort. „Sowas sagt man nicht. Das ist doch kein Gruselhaus."
„Ich find's aber gruselig, Mutter. Da wohnt bestimmt ein Gespenst drinnen!"
„Unsinn, Sophie, es ist ein Haus wie jedes andere auch. Es stand nur lange leer", beharrte Clementine, die nichts davon hielt, ihren Kindern derartige Schauergeschichten zu erzählen.
„Außerdem...", meinte Mortimer nun schmunzelnd und nahm seine Erstgeborene auf den Arm, „...hören die meisten Leute nicht gern, dass in ihrem Haus Gespenster wohnen. Darum darf man das nicht laut sagen."
Clementine seufzte. „Ach, Morty, nun erzähl du ihr doch nicht auch noch solche Geschichten. Es ist nur ein altes, leerstehendes Haus, weiter nichts..."
„Natürlich, Liebes, weiter nichts..."
Der Sarkasmus in Mortimers Stimme verriet Clementine, dass er an ihre Worte dachte, nachdem sie das Haus selbst vor nunmehr sechs Jahren besichtigt hatten: „Natürlich ist es ein schönes Haus, hübsch groß, aber solch große Häuser brauchen auch viel Personal und das können wir uns nicht leisten. Außerdem werde ich unsere Kinder bestimmt nicht in einem Haus aufziehen, in dem es eventuell spukt!" Sie errötete bei dem Gedanken an ihre Inkonsequenz.
„Gespenster hin oder her", sagte Mortimer in bestimmtem Ton, „wir wollen mal sehen, ob wir die neuen Bewohner des Hawkes-Hauses finden können. Es wäre nur höflich, wenn wir uns vorstellen. Schließlich sind wir jetzt Nachbarn."
Die erste Bewohnerin des Hauses war schnell gefunden; eine rundliche Dame mit dunkler Haut und indischen Gesichtszügen stand am Gartentor, wachte mit Argusaugen über die Kisten und Koffer und wies die Träger genau an, wo sie was davon abzuliefern hatten, während ihr dunkelgrünes Gewand im aufkommenden Wind flatterte.
„Die Frau trägt ja komische Sachen...", flüsterte Sophie ihrem Vater ins Ohr, als sie sich ihr näherten.
„Das ist ein Sari, Sophie, das tragen die Frauen in Indien. Und jetzt sei bitte nett und sag 'Guten Tag', ja?", flüsterte Mortimer zurück und Sophie tat, wie ihr geheißen.
Die Dame blickte erschrocken von einer Liste - wohl die Inventur des Hausrates -, die sie gerade aufmerksam studiert hatte, auf.
„Guten Tag, Ma'am", sagte auch Mortimer und lüpfte kurz seinen Hut. Auf eine angedeutete Verbeugung verzichtete er, da er Sophie noch immer auf dem Arm trug.
„Einen sehr schönen guten Abend, Sahib", antwortete die Frau mit jenem breiten, melodischen Akzent, der den Einwohnern Indiens zu Eigen war.
„Verzeihen Sie, Ma'am", fuhr Mortimer lächelnd fort. „Ich sehe, Sie sind sehr beschäftigt und will Sie nicht lange aufhalten, aber ich konnte nicht umhin, mich zu wundern. Könnte der Herr des Hauses wohl einen Moment entbehren um seine neuen Nachbarn kennen zu lernen?"
„Es tut mir schrecklich Leid, Sahib, aber Shree St.Claire ist nicht mit uns nach England gefahren", erklärte die Inderin und presste sich verlegen ihre Inventurliste an die Brust. „Aber wenn Sie möchten, können Sie Kumari Rhea und Kumari Phoebe treffen."
„Was ist denn ein Kumari?", fragte Sophie mit der nonchalanten Neugier, die man Kindern ihres Alters gerade noch wohlwollend verzieh.
„Das ist in Indien eine junge Dame. So wie man bei uns ‚Miss' sagt", erklärte Clementine, die mittlerweile auch herangetreten war und das Gespräch bisher schweigend verfolgt hatte.
Sophie sah ihren Vater zweifelnd an, als glaube sie den Worten ihrer Mutter nicht recht.
„Deine Mutter hat wie immer ganz recht, Sophie", bemühte sich Mortimer, diese Zweifel zu zerstreuen. Zu der Inderin gewandt fügte er hinzu: „Es wäre uns eine Freude, die beiden jungen Damen kennen zu lernen. Nicht wahr, Liebes?"
Clementine und Sophie - die sich gleichermaßen angesprochen fühlten - nickten zustimmend.
„Natürlich nur, wenn Sie nicht zu beschäftigt sind", meinte Clementine.
Die Inderin lächelte breit. „Einen Moment, bitte, Sahib", sagte sie und wuselte geschäftig davon.
Etwas irritiert blickten Mortimer und Clementine ihr nach, keiner von ihnen hatte erwartet, einfach so stehen gelassen zu werden.
Kurze Zeit später kehrte die Inderin in Begleitung zweier junge Damen zurück, die wohl noch keine 20 sein mochten. Auf den ersten Blick waren sie nur anhand ihrer Kleidung zu unterscheiden - eine von ihnen war wie die ältere Inderin in einen Sari gehüllt, während die andere sich offenbar bereits mit der englischen Mode gut gestellt hatte und ein leuchtend zinnoberrotes Kleid trug - denn beide trugen die selbe, dunklen Haarpracht zur Schau und besaßen äußerst ähnliche Gesichtszüge, die ebenfalls etwas indisches an sich hatten.
Mortimer war sich sicher, dass es sich dabei um Zwillinge handelte, doch bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass die Dame im roten Kleid ein klares Paar moosgrüner Augen besaß, während die Augen ihrer mutmaßlichen Schwester ebenso klar, aber von der Farbe dunkler Bronze waren.
„Ah", rief die junge Frau im Sari aus. „Das sind also die Leute, die du uns vorstellen willst, Tantchen Anjali?"
Ihre Schwester blickte sie tadelnd an. „Bitte verzeihen Sie, meine Schwester steckt mit ihren Manieren noch in Indien fest", entschuldigte sie sich dann bei Mortimer.
„Oh, aber nicht doch! Es ist doch ganz verständlich, dass man eine Weile braucht um sich anzupassen. Schließlich mag Indien britisch sein, aber es gibt dennoch viele Unterschiede und Sie haben sicherlich lange dort gelebt." Er lächelte gönnerhaft.
"Wir wurden in Indien geboren", warf das Mädchen im Sari ein, während Mortimer sich auf seine guten Manieren besann.
Er reicht den beiden Damen die Hand. „Wenn ich mich dann vorstellen darf, Mortimer Crawford, das ist meine Frau, Clementine, Sophie, unsere kleine Prinzessin", Sophie winkte bei diesem Worten mit äußerst vornehmer Miene. „und unser jüngster Nachwuchs noch unbekannten Namens." Er wies auf Clementines deutlich ausgeprägten Schwangerschaftsbauch. „Wir wohnen am anderen Ende der Straße."
„Wir freuen uns wirklich sehr Sie kennen zu lernen", erklärte das Mädchen in dem zinnoberroten Kleid und stellte sich als Rhea St.Claire vor.
„Ich bin Phoebe. Auf gute Nachbarschaft!", verkündete ihre Schwester.
„Wir würden Sie hinein bitten, aber das Haus ist leider noch nicht für Besucher hergerichtet", erklärte Rhea mit einem peinlich berührten Lächeln.
Einen Moment lang standen alle da und wussten nicht recht, was als nächstes zu sagen sei, aber gleichfalls war niemand ernstlich gewillt, das Gespräch bereits zu beenden.
„Nun", meinte Mortimer schließlich und räusperte sich. „Darf man fragen, was sie nach Summertown führt?"
„Natürlich dürfen Sie. Unser Vater meinte, es würde uns gut tun, eine Weile hier in England zu verbringen, um ordentliche Umgangsformen zu lernen und Kontakte in der Gesellschaft zu knüpfen", erklärte Rhea lächelnd.
Phoebe biss sich derweil auf die Unterlippe um sich von einer vorlauten Antwort abzuhalten.
Umgangsformen und Kontakten. Ha! Ihr Vater war vielmehr der Meinung, dass es höchste Zeit für seine Töchter war, einen wohlhabenden, englischen Gentleman zu heiraten.
„Unter uns gesagt", fuhr Rhea fort und errötete. „Ich hoffe auch, hier einen passenden Ehemann zu treffen."
„Oh, da werden Sie gewiss keine Probleme haben. Soweit ich weiß sind noch einige gute Partien zu haben", meinte Clementine mit einem Lächeln und die Umstehenden lachten - bis auf Phoebe - herzlich.
„Haben sie auch schon Heiratspläne, Miss Phoebe?", wollte Mortimer wissen.
Phoebe sah zu Boden. „Um ehrlich zu sein...", begann sie etwas verlegen. „Ich glaube, ich bin noch nicht so weit, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ich möchte lieber auf Reisen gehen und die Welt sehen."
Mortimer lachte. „Aha, eine Abenteurerin also. Aber glauben Sie mir, es reist sich viel angenehmer, wenn man angenehme Gesellschaft hat." Er warf einen liebevollen Blick auf Clementine.
„Vater?", meldete sich Sophie zu Wort. „Wenn man auf Abenteuer gehen will, muss man doch mutig sein, oder?"
Mortimer sah seine Tochter etwas irritiert an. „Manchmal schon, ja..."
„Das ist gut, dann kann Miss Phoebe schon mal Mutig sein üben!" Sophie sah aus, als sei sie äußerst zufrieden mit dieser Schlussfolgerung.
Auch Phoebe blickt das Mädchen irritiert an. „Wie kommst du denn darauf, Sophie?"
„Na, wegen dem Gespenst!", erklärte Sophie als wäre es die offensichtlichste Tatsache der Welt.
„Ein Gespenst?" Rhea runzelte die Stirn.
„Verzeihen Sie, Sophie ist überzeugt, dass es in dem alten Hawkes-Haus spukt", bemühte sich Clementine rasch zu sagen und sah ihre Tochter strafend an.
„Allerdings muss man sagen, dass unsere kleine Sophie da bei weitem nicht die Einzige ist. Ich fürchte, Ihr neues Heim hat eine äußerst grausame und blutige Vergangenheit und Sie wissen sicherlich, wie die Leute so sind", schritt Mortimer zur Sophies Verteidigung.
„Mortimer, nun mach den Damen doch keine Angst!" Clementine warf ihrem Gatten den selben strafenden Blick zu, der zuvor schon Sophie getroffen hatte.
Er störte sich nicht sonderlich daran. „Ach, früher oder später hätten sie doch ohnehin davon erfahren." Er wandte sich wieder an Rhea und Phoebe. „Es war allerdings sicher nicht meine Absicht, sie zu ängstigen."
Rhea winkte ab. „Wie es scheint, werden wir uns wohl oder übel mit der Vergangenheit dieses Hauses arrangieren müssen. Es kann nicht schaden, sie zu kennen."
„Wissen Sie viel über das Haus?", wollte Phoebe wissen und ihre Augen blitzten hell auf.
„Ich fürchte, ich weiß nichts genaues, nur, was man sich eben so erzählt. Aber dazu ist hier am Gartenzaun die falsche Zeit und der falsche Ort. Warum kommen sie nicht nächste Woche einmal zum Abendessen vorbei? Dann ängstige ich sie gerne mit all meinem Halbwissen." Er zwinkerte.
Rhea zögerte einen Moment, doch Phoebe schien geradezu begeistert von der Idee.
„Wir würden uns sehr freuen", sagte sie eilig. „Wann wäre es ihnen denn recht?"
„Wie wäre es gleich nächsten Sonntag? Dann haben sie Zeit, sich ein bisschen einzufinden", schlug Clementine vor.
„Und ein bisschen mit den Geistern des Hawkes-Hauses auf Tuchfühlung zu gehen!" Phoebe lachte ausgelassen, während Rhea leicht die Augen verdrehte.
„Ich wünsche Ihnen eher von Herzen, dass die Geister Ihnen nicht allzu viele Probleme machen", meinte Mortimer in einem plötzlichen Ernst, der Rhea einen Schauer über den Rücken jagte. „Nun denn, wir wollen Sie nicht länger aufhalten. Sie haben sicherlich noch viel zu tun."
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