Zuflucht

Im ersten Moment, da wollte er lügen. Sagen es wäre alles in Ordnung und dass es ihm gut gehen würde. Doch dieser Blick. Er ließ seinen Mund ganz trocken werden, als er zu diesen Worten ansetzen wollte. Es kam kein Ton über seine Lippen, er war unfähig etwas zu sagen. Er konnte keine Lüge aussprechen und somit die Wahrheit verbergen. Die Wahrheit, vor der er sich selbst versteckte. Vor welcher er floh, weil er wusste, das er es nicht ertragen könnte. Er konnte es einfach nicht, dessen war er sich bewusst. Deshalb tat er das auch, er floh. Er floh vor dem, was ihn verängstigte. In der Hoffnung, so könnte er dem realen entfliehen und müsste nicht sehen, was nur noch eine Frage der Zeit war. Er wollte und konnte das nicht, deshalb tat er das hier. Doch es schien keiner zu verstehen. Kein schien ihn zu verstehen. Er wusste auch nicht, wie er es erklären sollte. Wie er erklären sollte, dass ihm das alles hilft. Das es ihm hilft, ein unlösbares Problem lösen zu wollen und somit vor den Fakten floh. Seine Mutter würde sterben, dass wusste er. Das wussten sie alle. Und das war sein Problem. Er konnte so nicht zu ihr, das würde er nicht schaffen. Diese ganzen Gefühle erschlugen ihn schon jetzt. Wie sollte es dann erst werden, wenn er seine Mutter im Krankenhaus sah? Wie würde es sein, wenn das unausweichliche eingetreten war? Wenn sie starb?
Nein!
Er schüttelte dem Kopf. Diesen Gedanken wollte er nicht führen, egal wie klar es ihm war, dass er passieren würde. Daran wollte er nicht denken. Es war schlimm genug, dass es bald passieren würde. Sie hatte nicht mehr lange, dass wusste er. Sein Vater und Bruder hatten es ihm erzählt, Don sogar mehr mals. Er verstand einfach nicht, weshalb er versuchte etwas unlösbares zu lösen. Wahrscheinlich würde er es nie verstehen, etwas was Charlie ebenfalls nicht wollte. Er wollte, dass sein Bruder es verstand, doch wie sollte er es erklären? Die Zahlen, die Mathematik, sie gaben ihm in dieser Zeit eine Zuflucht. Sie ließen ihn die Realität vergessen, und die Tatsache, dass seine Mutter sterben würde. Etwas, dass ihn schon jetzt fertig machte, dabei lebte sich noch. Noch. Dieses kleine Wort, welches bewies, dass es bald endete. Und er könnte nichts dagegen tun. Niemand könnte das.
»Verdammt, Charlie! Mum stirbt und du versteckst dich in der Garage hinter deinen Formeln! Ist sie dir so egal?!«
Er zuckte zusammen und senkte den Blick. Noch länger konnte er seinen älteren Bruder nicht ansehen. Nicht noch länger diesen Wütenden Blick ertragen. Vergessen schien die erste Frage, wie es ihm ging. Sein leerer Blick und die Tatsache, dass er wohl seit Wochen scheinbar keinen Schritt aus der Garage gemacht hatte. Für einen Moment, hatte Charlie die Sorge um ihn bei Don gesehen. Doch jetzt war da wieder die Wut. Wut und unglaube, welche schon seit längerem dass einzigste war, was sein Bruder scheinbar an Gefühlen für ihn über hatte. Seitdem ihre Mutter krank wurde und er sich in die Mathematik flüchtete. Sein Bruder verstand es nicht und er selbst, wusste nicht wie er es erklären soll.
Das sein Bruder aber glaubte, ihre Mutter wäre ihm egal, verletzte ihn. Wie könnte sie ihm auch egal sein, nach all den Jahren. Sie war eine wundervolle Frau und Mutter. Er liebte sie, sehr sogar. Sie war doch seine Mutter. Und bald würde er sie für immer verlieren. Er konnte diese Tatsache nicht ertragen.
»Ist dir das wirklich wichtiger?!«
Dabei deutete sein Bruder auf eine der vielen beschriebenen Tafeln. War es nicht. Es war bloß seine Zuflucht, mehr nicht. Doch sprach er das nicht aus. Er sagte gar nicht. Ließ sich einfach weiter von seinem Bruder wütend anfahren. Seine Stimme würde bloß zittern, von der ganzen traue die er verspürte. Er müsste sich erklären, warum er das tat, wieso er keine Zeit mit seiner Mutter verbrachte. Und das könnte er nicht, dessen war sich Charlie bewusst. Er hatte es doch schon einmal versucht, war aber auf Granit gestoßen. So war es also einfacher. Er wollte sich darüber nicht mit seinem Bruder streiten, eigentlich wollte er gar nicht mit diesem streiten.
»Weißt du was? Vergiss es einfach! Wenn das hier vorbei ist, will ich dich nie wieder sehen. Ich will nichts mehr von dir hören! Für mich bist du gestorben, Charlie!«
Seine Augen weiteten sich und kurz darauf zuckte er zusammen, als die Tür hart ins Schloss fiel. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, als er sich zu seiner Tafel umdrehte und mit zittriger Hand weiter schrieb. Bald würde er seine Mutter verlieren und vor wenigen Sekunden hatte er seinen Bruder verloren. Nur weil er unfähig war, mit dem ganzen umzugehen wie ein normaler Mensch. Weil er die Mathematik nutze, und das alles irgendwie zu verarbeiten versuchte und es nicht ertragen könnte seine Mutter jetzt so zu sehen. Er will sie in Erinerung behalten, so wie es war, bevor der Krebs kam. Er würde sie so nicht sehen können, dass könnte er nicht ertragen. Damit würde er nicht zurecht kommen, genauso wenig wie damit, dass sein Bruder nichts mehr von ihm wissen wollte.
Charlie ertrug es einfach nicht und flüchtete zurück in die Mathematik, wo er sich sicher und wohl fühlte. Und wo er die Realität vergessen konnte.

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