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Alice fuhr aus dem Schlaf. Aufrecht und mit verspannten Schultern saß sie in ihrem großen Himmelbett. Mit den Händen bedeckte sie die Augen, bemüht die Tränen zurück zu halten.
Der Alptraum kehrte in regelmäßigen Abständen zurück und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Wie wunderschön jener Sommertag begonnen hatte - und wie bitter sein Ausgang gewesen war.
Als Alice die Augen öffnete nahm sie ein lautes Rumpeln wahr, das aus den unteren Räumen des Hauses stammen musste. Ebenso drangen tiefe Stimmen zu ihr herauf. Das war ungewöhnlich. Zu dieser Zeit befand sich außer den Hausangestellten und ihrer Mutter niemand mehr im Haus. Und die Hausangestellten würden niemals so einen Lärm veranstalten. Gerade als Alice sich zum Rand des Bettes begeben wollte, hörte sie einen spitzen Schrei, gefolgt von einer lauten Auseinandersetzung.
Sie verstand nicht jedes Wort, aber ganz eindeutig schrie eine männliche Stimme etwas von einer letzten Frist. Erschrocken blieb Alice sitzen und zog ihre Decke ein wenig höher. Fast so als könnte sie sich darunter verstecken, sollte die Notwendigkeit dazu bestehen. Dann hörte sie schwere Schritte, die den Flur zu durchschreiten schienen.
Nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, wurde es still im Haus. Alice stieß den angehaltenen Atem aus. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie ihn überhaupt angehalten hatte. Vom Alptraum erschöpft und von den gehörten Ereignisse verwirrt, ließ sie sich zurück in die Kissen sinken und zog die Decke, die sie fest umklammerte, noch ein Stück höher.
Wer war hier im Haus gewesen und hatte es gewagt, derartig die Stimme zu erheben? Welchen Grund sollte es dafür geben? Alice war unruhig und aufgewühlt. Ein leichtes Zittern durchfuhr sie, als ihre Gedanken zum Alptraum zurückkehrten.
Sie hatte die Kontrolle verloren und einen hohen Preis dafür bezahlt. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie hielt sie tapfer zurück. Weinen änderte jetzt auch nichts mehr am Ausgang dieser Geschichte.
"Lady Alice, verzeihen Sie. Es ist an der Zeit aufzustehen. Lady Keats wünscht in wenigen Minuten mit Ihnen zu sprechen," sprach ihre Zofe Helena als sie voller Tatendrang ihr Zimmer betrat und geschwind zu den Fenstern eilte um die schweren Vorhänge aufzuziehen.
Das grelle Licht der Mittagssonne schien herein. Während Alice die noch immer aufsteigenden Tränen hinunterkämpfte, hatte Helena bereits ein fliederfarbenes Tageskleid mit weißem Spitzenbesatz aus dem Schrank genommen.
"Kommen Sie, Lady Alice. Ich helfe Ihnen in das Kleid und mache Ihnen das Haar, damit Sie Lady Keats beim Frühstück Gesellschaft leisten können."
Alice bemerkte, dass Helena keinen Blickkontakt zu ihr halten konnte.Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen und stieg aus dem Bett. "Vielen Dank, Helena. Das ist sehr freundlich von dir. Hat Mutter gesagt, worum es geht?"
"Mir gegenüber hat sie nichts erwähnt, Mylady, außer dass es wichtig sei und nicht lange warten könne." Hastig drehte Helena sich wieder mit dem Rücken zu ihr.
Nachdem Alice das Kleid übergestreift hatte, ließ sie sich auf den gepolsterten Hocker vor ihrem Frisiertisch fallen und betrachtete Helena prüfend im Spiegelglas. Sie fragte sich, was ihre Mutter mit ihr besprechen wollte und runzelte besorgt die Stirn.
"Lady Alice", schalt Helena sie im Spaß, "Sie wissen doch, eines Tages werden Sie davon Falten bekommen. Ihre Haut bleibt nicht für immer so jung." Mit flinken Händen bändigte sie Alices rotblondes Haar und band es geschickt zu einem festen Knoten hoch.
"Wohl kaum. Ich glaube, ich bin Mutter sehr ähnlich. Und obwohl sie diesen grimmigen Gesichtsausdruck zu einem ihrer Standardgesichtsausdrücke hinzuzählen kann, scheint ihre Haut nicht eine Falte aufzuweisen." Alice zwinkerte Helena zu. Sie liebte Helena über alles und vertraute ihr schon seit ihrer Jugend all ihre Geheimnisse an. Im Gegenzug ließ sie sich die ein oder andere freundschaftliche Zurechtweisung gefallen.
"Wir sind fertig, Mylady. Lady Keats wartet im Frühstücksraum auf Sie."
Alice erhob sich vom Stuhl, drehte sich einmal vor dem Spiegelglas, warf einen letzten fragenden Blick zu Helena, und strich dann auf dem Weg zur Tür ihre Röcke glatt. Während Alice die Treppe hinab stieg, fragte sie sich, warum ihre Mutter nach ihr rufen ließ.
Selbst wenn Alice das Frühstück verpasst hätte, nahmen sie doch auf jeden Fall den Lunch gemeinsam ein. Alice' Vater würde wohl mit geschäftlichen Dingen außerhalb des Hauses zu tun haben, aber ihr Bruder Jeffrey leistete ihnen häufig Gesellschaft. Vielleicht hatte Mutter etwas nur mit ihr zu besprechen.
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