Prolog
Regentropfen fielen wie schwere Säcke vom Himmel hinab und ließen kleine, fließende Bäche auf den grauen Straßen entstehen. Den dunklen Hut tief ins Gesicht gezogen lief der hochgewachsene und in Schwarz gekleidete Mann den Gehweg entlang.
Ohne auf die kommenden Automobile zu achten, überquerte er die Straße mit langen Schritten und stieg über eine durchweichte Zeitung, welche vom Wasser gen Boden gedrückt wurde. Die oberste Schlagzeile verkündete stolz den Sieg der englischen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1966. Doch für den düster wirkenden und ernsten Mann war dies kein Artikel, welcher einen kurzen Blick darauf wert gewesen wäre.
Von den vorbeirennenden Menschen, welche sich nahezu an ihre Schirme klammerten, ungesehen, lief er gezielt auf den Eingang des vor ihm liegenden Krankenhauses zu. Wassertropfen rutschten am glatten Leder seines dunklen Mantels hinab, als er vor dem weißen Gebäude zum Stehen kam und hinterließen eine kleine Pfütze zu seinen Schuhen. Mit genervtem Blick starrte er auf die schwarze Armbanduhr an seinem Handgelenk, während er ungeduldig mit dem rechten Fuß auf und ab wippte.
Mit einem leisen „Plopp" tauchte neben ihm ein hagerer, junger Mann auf, welcher ihm in den dunklen Sachen beinahe zum Verwechseln ähnlich sah. Lediglich sein Gesicht schien weniger Jahre erlebt zu haben und sein Ausdruck wirkte vielmehr unsicher und unterwürfig.
„Entschuldigen Sie, SS-104. Ich hatte den Seelenkoffer in der Zentrale liegen gelassen. Das wird nicht wieder vorkommen", sprach der junge Mann zu seinem Ausbilder und ging demütig in eine tiefe Verbeugung, um um Vergebung zu bitten.
„Das hoffe ich für Sie, SS-9927", sprach der Hochgewachsene verachtungsvoll und betrat das Krankenhaus ohne ein weiteres Wort. Der Schlanke folgte ihm wie ein Küken seiner Entenmutter durch die kühlen Gänge. Die Menschen blickten an ihnen vorbei und schienen sie nicht einmal mit Adleraugen sehen zu können.
„Hier ist es", sprach der Große mit tiefer Stimme, als sie vor dem Operationssaal angekommen waren. Eine Schar Personen in blauer Schutzkleidung stand niedergeschlagen um den OP-Tisch herum. Die Frau mittleren Alters, welche mit geöffnetem Bauch darauf lag, schlief dornröschengleich unter dem hellen Licht der Lampen, während im Hintergrund leise die Melodie eines Rockliedes erklang. Doch die zwei in Schwarz gekleideten Herren interessierten sich keineswegs für die Menschen, welche alles in ihrer Macht Stehende getan hatten, um ihre Patientin vor den lebensbedrohlichen Gefahren der inneren Blutungen zu retten.
„Sue Hastings. 34 Jahre alt. Tod durch Verletzungen nach Gewaltanwendung des Ehemannes", las der junge Mann laut von der Karte in seinen Händen vor. Nickend nahm der Ältere die Informationen zur Kenntnis und trat zu der angsterfüllten Frau, welche aus der hintersten Ecke des Raumes geschockt auf ihr lebloses Ebenbild blickte.
„Mrs. Hastings, es tut mir leid, Ihnen dies mitteilen zu müssen, doch sie verweilen nun nicht mehr unter den Lebenden."
Die Worte des kalten, ernsten Mannes sickerten langsam zu der zierlichen Gestalt hindurch, welche zu wimmern begonnen hatte.
„Ich bin tot?", fragte sie mit zitternder Stimme und musste mit ansehen, wie die Ärzte ihren Körper aus dem Raum hinausfuhren. Die Tür fiel ins Schloss und lediglich die drei unsichtbaren Gestalten blieben zurück.
„Ihr Mann hat Ihnen eine zerbrochene Weinflasche in den Bauch gestoßen", klärte der Alte sie auf und hielt dem Jüngeren seine offene Hand auffordernd entgegen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Sue Hastings nach unten, wo sie sogleich die große Wunde entdeckte und versuchte sie mit ihren zarten Händen zu bedecken.
In der Zwischenzeit hatte der Schlanke den schwarzen Koffer geöffnet und einen Gegenstand – so groß wie ein Fußball – herausgeholt. Von der Form her erinnerte er an einen Handspiegel, dessen viereckiger Rahmen bronzefarbig und antik aussah. Doch in der Mitte befand sich keinesfalls eine spiegelnde Fläche. Stattdessen schien er hohl zu sein, wie ein kleines Fenster, durch welches der große Mann nun die Frau betrachtete.
„Was ist das?", fragte sie verwirrt und wich schreckhaft einen Schritt nach hinten, als ein helles Licht aus dem Gegenstand entkam und über ihren Körper wanderte.
„Ein Anthropometrikon", beantwortete der Hochgewachsene ihre Frage kurz.
„Unter euch Menschen nennen wir ihn auch oft umgangssprachlich den Seelenspiegel", wagte der Jüngere anzumerken. „Er zeigt uns die wichtigsten Momente Ihres Lebens, Ihren Charakter, Ihre Fähigkeiten, die guten und schlechten Taten. Und-", er stoppte, als er die große, gelbe 97 sah, welche der Seelenspiegel ihnen anzeigte.
„Glückwunsch, aufgrund ihrer Person wurden sie zu 97 Prozent der Abteilung des Karmas zugeteilt." Strahlend blickte er die noch immer erstarrte und zitternde Frau an. In ihrem Kopf befanden sich nichts als Fragezeichen, sodass sie die Freude des schwarzgekleideten Mannes keineswegs nachempfinden oder gar verstehen konnte.
„Abteilung Karma?", fragte sie zögerlich mit ihrer hohen Stimme.
„Mrs. Hastings, ich muss mich für das Verhalten meines Kollegen entschuldigen. Er befindet sich in der Ausbildung zum Seelensammler und muss noch lernen, wie man euch Seelen das weitere Prozedere möglichst kurz gefasst und verständlich erklären kann."
Er warf einen schnellen und enttäuschten Seitenblick zu dem Schlanken, bevor er fortfuhr. „Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, verweilen Sie nicht länger unter den Lebenden. Ich bin SS-104 aus der Abteilung der Seelensammler. Wir sind hier, um den weiteren Pfad Ihrer Seele zu bestimmen und in die Wege zu leiten. Es gibt acht verschiedene Abteilungen, in welchen die verstorbenen Menschen nach ihrem Tod als unsichtbare Wesen weiter agieren können. Unser Anthropometrikon hat sie mit hoher Übereinstimmung der Abteilung Karma zugeordnet.
Sofern Sie damit einverstanden sind, dürfen Sie für weitere 150 Jahre Gott Yzandiel dienen, indem Sie die guten Menschen belohnen und die Bösen bestrafen. Karma sollte Ihnen als Mensch sicher ein Begriff sein. Nach Ablauf Ihrer Arbeitszeit wird Ihre Seele in der Seelenbibliothek für die nächsten einhundert Jahre sicher verwahrt und anschließend vernichtet."
„Vernichtet?", fragte die zerbrechlich wirkende Frau unsicher.
„Vernichtet klingt so negativ, was es jedoch keineswegs ist. Anders gesagt: Ihre Seele erlangt den Frieden und die Ruhe des unwiderruflichen Todes. Natürlich steht Ihnen die Entscheidung frei. Wenn Sie möchten, so bringen wir Ihre Seele auch sofort in die Seelenbibliothek."
Auffordernd blickte er nach unten in ihr nachdenkliches Gesicht, als erwarte er eine sofortige Antwort. Unsicher stotterte Sue vor sich hin, während sie zu Boden blickte und gedanklich die beiden Möglichkeiten durchging.
„I-Ich lebte mein Leben lang im Schatten der anderen. Mein Elternhaus war kein Zufluchtsort, kein sicheres zu Hause. Als ich meinen Mann kennenlernte, lief ich von dem einen Elend in das Nächste. All die Zeit hatte ich keine Möglichkeit zu leben. Ich hatte kein Glück, keine Freude und das wünsche ich niemandem auf der Welt. Von daher würde ich sehr gern anderen Menschen das geben, was sie verdienen."
„Sie nehmen den Job in der Abteilung Karma also an?", fragte nun der Jüngere der beiden Seelensammler, was die Frau nickend bestätigte.
Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht und im nächsten Moment wurde sie mit einem leisen „Swusch" in den Seelenspiegel eingesaugt und auf der anderen Seite als kleine, gelb leuchtende Kugel wieder ausgespuckt. Der dünne Mann öffnete sogleich den Seelenkoffer und verstaute die Seele von Sue Hastings neben den anderen gelben Kugeln, unter welchen in großen Buchstaben „Karma" zu lesen war. Die bunt leuchtenden Kugeln im Inneren warfen rote, blaue, gelbe Lichter an die Wand, bis der junge Mann die Tasche wieder schloss und verriegelte.
„Die nächste Seele übernehmen Sie, alles klar?", sprach der Ausbilder zum jüngeren Mann, welcher aufgeregt nickte. Gemeinsam verließen Sie den nun dunklen OP-Saal und begaben sich vier Etagen nach oben, wo soeben ein älterer Herr verstorben war.
Als sie sein Zimmer betraten, stand der Patient am Fenster, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und blickte seelenruhig nach draußen. Noch immer prasselten die Regentropfen auf die Erde und veranstalteten Wettrennen an den Fensterscheiben.
„Peter Walsh. 98 Jahre. Natürlicher Tod", las der junge Seelensammler erneut laut von der Karte in seinen Händen vor.
„Mister Walsh?", fragte er zögerlich, da der Greis sich nicht gerührt hatte. Vorsichtig ging er auf ihn zu, um ihn sachte auf die Schulter zu tippen. „Mister Walsh, i-ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie ... also Sie sind ... ähm ... Sie sind to-", stotterte er vor sich hin, bis der Verstorbene sich beinahe in Zeitlupe zu ihm drehte und ihn lächelnd anblickte.
„Ich weiß schon", sagte er verständnisvoll. „Ich werde mir kurz Ihr Leben mit diesem Spiegel hier anschauen, in Ordnung?" Ein weiteres Mal sendete das Anthropometrikon ein helles Licht aus, welches den älteren Herrn regelrecht zu scannen schien.
„Oh, SS-104, sehen Sie? Mister Walsh konnte keiner Abteilung zugeordnet werden. Es gibt keine Übereinstimmung", sprach der schlanke Seelensammler zu seinem Ausbilder, in der Hoffnung, er würde ihm in diesem Fall helfen.
„Nun denn. Sie wissen doch, was in solch einem Fall zu tun ist. Nicht einmal zehn Prozent der Menschen können sicher zugeordnet werden. Das haben Sie doch bereits im Unterricht gelernt, SS-9927."
Nickend bejahte er die Worte seines Anleiters.
„Mister Walsh, Sie können sich nun entscheiden, ob Sie die nächsten 150 Jahre Gott Yzandiel dienen und für ihn arbeiten oder ob Sie lieber den ruhigen, friedlichen Tod für die Ewigkeit wählen möchten. Da Sie aufgrund Ihres Charakters und Ihrer Taten keiner Abteilung sicher zugeordnet werden konnten, könnten wir Ihnen lediglich einen Job in der Verwaltung anbieten. Womöglich könnten wir Ihnen auch eine Stelle in der Abteilung Zufall einrichten. Jedoch kann ich dies nicht versprechen. Ich-"
Doch bevor der Jüngere dem Verstorbenen die weiteren Vorschläge unterbreiten konnte, hatte dieser ihn bereits mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht.
„Könnte ich in der Verwaltung meine Julia wiedersehen?", fragte er voller Hoffnung und mit glasigen Augen.
„Das tut mir leid, aber nein. Sollten Sie den Job annehmen, würden wir Ihre Erinnerungen an dieses Leben auslöschen. Selbst wenn Ihre Frau ebenfalls für Gott ... arbeiten würde, so könnten Sie einander nicht erkennen. Jedoch sehe ich hier gerade, dass Ihre Frau damals den friedlichen Weg gewählt hat."
„Ach, meine Julia", schwärmte der Greis lächelnd von der Vergangenheit. „Sie hat den richtigen Weg gewählt. Und ich werde ihr nun folgen", entschied sich der Alte für den Platz in der Seelenbibliothek.
„Wie Sie wünschen", sprach der Jüngere verbeugend. Abermals wurde die Seele des Menschen vom Seelenspiegel verschlungen und auf der anderen Seite in Form einer weißen Kugel ausgestoßen. Die beiden Seelensammler legten sie zu den anderen weißen Seelen im Seelenkoffer, womit ihre Arbeit im Krankenhaus für heute erledigt war.
„Was steht als nächstes auf dem Plan?", fragte der Hochgewachsene, woraufhin der Schlanke die Karten hervorholte, wobei ihm in all der Eile sogleich ein paar hinunterfielen.
„Oh, entschuldigen Sie", nuschelte er ergeben und sammelte sie hektisch wieder auf.
„Vor wenigen Minuten ist ein Autounfall auf einer Landstraße passiert. Zwei Tote", fasste er kurz zusammen.
Mit einem leisen „Plopp" verschwanden die beiden Fügungswesen aus dem Gebäude und tauchten keine Sekunde später mitten auf einer Kreuzung im strömenden Regen wieder auf. Ein gelber Alfa Romeo Guilia lag wie ein kleiner Käfer auf dem Rücken, während eine stinkende Rauchwolke unter der Motorhaube herauskam und gen Himmel stieg.
Die Straße war bis auf das Horrorszenario vor ihnen menschenleer. Keine Zeugen, keine Ärzte, die den beiden Opfern helfen könnten und noch nicht einmal Licht. Die Straßenlaternen in der nahen Umgebung schienen allesamt defekt zu sein. Doch für die zwei Menschen im Inneren des Autos kam jede Hilfe zu spät.
Ihre Seelen standen unweit von der Unfallstelle – Händchen haltend und schockiert von dem Anblick, der sich ihnen bot. Doch eine kleine Bewegung am Straßenrand ließ den jungen Seelensammler neugierig aufblicken. Sein Blick traf für einen Moment den einer Frau. Einer erschrockenen Frau, welche ertappt etwas Rotes hinter sich herschleifte. Als sie ihn bemerkte, löste sie sich in Sekundenschnelle auf.
Auch wenn die Welt um sie herum durch den Regen dunkel und grau gefärbt war, war sich SS-9927 sicher, dass die Frau einen orangen Blazer getragen hatte. War sie aus der Führungsebene gewesen? Was hatte sie hier getan? Und weshalb hatte sie ihn derart kalt und beinahe voller Zorn angeblickt?
Die Fragen rotierten in seinem Kopf wie in einem Karussell. Doch er wagte es nicht, seinen Ausbilder darauf anzusprechen und womöglich einen Tadel zu erhalten. Stattdessen holte er die Karten der verstorbenen Seelen hervor, um dem Großen das Pärchen kurz vorzustellen.
„Grace Holmes. 23 Jahre. James Holmes. 26 Jahre. Seit sieben Stunden ver-", er schluckte kurz, bevor er die tragischen Worte tatsächlich aussprechen konnte. „Seit sieben Stunden verheiratet. Tod durch Autounfall. Jedoch erscheint mir dies höchst merkwürdig", wagte er anzumerken. „Die Unfallursache fehlt. Und auch wenn wir uns hier umsehen, gibt es nichts, was solch einen Unfall herbeiführen hätte können."
Auch der Ältere blickte sich nun suchend um. Doch der Neuzugang hatte recht. Das Auto wies keinen Kratzer, keine Dellen und erst recht keine technischen Fehler auf. Sein Blick verfinsterte sich. Konnte es möglich sein, dass ein Fügungswesen unerlaubterweise für diesen Unfall verantwortlich gewesen war? „Schreiben Sie auf, dass es durch einen Wildunfall geschehen ist."
Mit großen Augen blickte SS-9927 seinen Ausbilder an. „Aber das stimmt doch gar nicht? Es gibt keinen Hinweis darauf", merkte er rechtsschaffend an und bereute seine Widerworte auch schon im selben Moment.
„Doch, die gibt es. Oder sehen Sie die riesige Delle nicht?", fragte ihn der Große und schnipste mit den Fingern, woraufhin sich das Blech sogleich nach innen wölbte. „Außerdem regnet es in Strömen. Da bauen Menschen schnell mal einen Unfall. Also dann, kümmern wir uns um die Seelen, bevor wir völlig durchweicht sind."
Mit großen Augen blickte der Jüngere SS-104 verständnislos nach, welcher sich zu dem zitternden Pärchen begab und Ihnen alles zu erklären begann. Doch Seelensammler 9927 befand sich nicht in der Lage, nachzuforschen oder die Entscheidung seines Meisters gar in Frage zu stellen. Daher notierte er sich „Wildunfall bei Regen" und stieß zu den dreien dazu, welche bereits in einer Diskussion verwickelt waren.
„Mrs. Holmes, außer Ihnen ist niemand verletzt worden", sagte SS-104 beruhigend zu der aufgewühlten Frau, welche am ganzen Leib zitterte.
„Aber da war doch eine Person, eine Frau. Sie stand urplötzlich auf der Straße. Ohne sie hätten wir den Unfall sicher niemals gehabt", beteuerte Grace flehend und wollte zu dem Auto stürmen, um nach weiteren Opfern zu suchen.
„Mrs. Holmes, Sie werden dort nichts finden außer zwei Körpern – Ihren Körpern. Und glauben Sie mir, das wollen Sie nicht wirklich sehen."
„A-Aber", wollte sich die empörte Frau weiter verteidigen, doch ihr Mann schloss sie in seine Arme, um sie von ihren Fluchtversuchen abzuhalten.
„Darling, bitte lass es", sagte er ruhig und liebevoll zu ihr. „Vielleicht war tatsächlich keiner da oder wir haben nur ein Tier gesehen. Es ist schließlich stockdunkel, verregnet und wir dazu hundemüde. Da kann man sich schon einmal irren", versuchte er sie zu überzeugen.
„Aber-", begann sie, doch die Erschöpfung über die gesamte Situation brachte sie zum Nachgeben. Geschafft legte sie ihren Kopf an die Brust ihres Mannes und genoss ein letztes Mal seine Nähe.
„Wie ich Ihnen soeben erklärt habe, können Sie sich gleich entscheiden, wie wir mit Ihren Seelen weiter verfahren sollen. Ich prüfe nun Ihre Zuordnung", sagte der Ältere und scannte die beiden verliebten Seelen mit dem Anthropometrikon. „Mrs. Holmes, Sie haben eine überaus hohe Übereinstimmung und konnten zu 98 Prozent der Abteilung Schicksal zugeordnet werden. Mr. Holmes, Sie könnten einen Platz in der Abteilung Zufall erhalten."
Unentschlossen blickte Grace zu dem schwarzgekleideten Mann empor.
„Können wir nicht in die gleiche Abteilung? Bitte, ich flehe Sie an", wimmerte sie und ergriff die Hand des Seelensammlers, welche so kalt war, als käme sie eben aus dem Frostfach. Beinahe angewidert von ihrem Flehen, ihrer Unterwürfigkeit und ihrer menschlichen Schwäche, welche diese Geschöpfe der Fähigkeit zu lieben zu verdanken hatten, entzog er ihr seine Hand.
„Wir müssen uns an die Regeln halten und können keine Ausnahmen machen. Wo kämen wir da hin, wenn sich jede Seele eine Abteilung aussuchen könnte, für welche sie nicht qualifiziert genug ist?", klärte der Ältere sie kopfschüttelnd auf.
„Außerdem werden Ihre Erinnerungen gelöscht, sodass Sie einander nicht wiedererkennen können. Sie beginnen einen neuen Job als Fügungswesen, ohne Erinnerungen, ohne die Fähigkeit zu lieben. Aber gerade als Schicksalswesen können Sie anderen Menschen Liebe und Geborgenheit schenken. Sie können Paare zusammenführen, zusehen, wie deren Liebe wächst."
Aussichtslos blickte Grace nach unten auf ihre Hand, welche mit der ihres Ehemannes ineinander verschränkt war.
„Meine liebste Grace", sprach James liebevoll zu ihr und nahm ihren Kopf sanft zwischen seine Hände. „Seit ich dich kenne, hast du dich immer für deine Mitmenschen eingesetzt. Du hast deine Schwestern mit wunderbaren Männern verkuppelt und jeden Liebesroman regelrecht verschlungen. Du liebst die Liebe! Du lebst ... lebtest für sie! Ich denke also, dass du es tun solltest. Du bist die perfekteste Schicksalsfrau, die ich mir nur vorstellen kann. Also hilf den Menschen, welche hier auf der Erde verzweifelt nach ihrem Seelenpartner suchen. Hilf ihnen, die große Liebe zu finden und mach die Welt somit zu einem etwas besseren Ort."
Gerührt blickte sie zu ihm hinauf. Wäre sie nicht bereits verstorben, so hätte sie nun sicherlich bitterlich geweint. Doch ihre Seele war nicht mehr in der Lage dazu, Tränen zu vergießen.
„Und was ist mit dir?", fragte sie schluchzend und legte ihre Hand an seine Wange.
„Ach, du kennst mich doch. Ich werde als Zufallswesen für etwas Chaos und Unordnung sorgen und mir bei dem ein oder anderen Menschen ein paar Späße erlauben", antwortete er ihr, was sie kurz zum Auflachen brachte.
„Die armen Menschen, sie tun mir bereits jetzt leid", gab sie kichernd zurück und schlang ihre Arme um seine Seelenhülle. „Ich will dich nicht verlieren, James", wich ihre Stimmung nun wieder fort von der Fröhlichkeit.
„Leider können wir nichts mehr an unserer Situation ändern. Grace, schau mir in die Augen. Du warst die beste Ehefrau, die ich mir jemals erträumt habe. Auch wenn gerade mal für wenige Stunden. Und doch würde ich diese wunderbar schöne und wenn auch kurze gemeinsame Zeit niemals für ein langes, einhundert Jahre andauerndes Leben ohne dich eintauschen. Du hast es perfektioniert. Und es macht mich unglaublich froh zu wissen, dass du in Zukunft anderen Menschen zu solch einer Liebe verhelfen kannst."
„Ich liebe dich", sagte Grace mit schmerzerfülltem Gesicht.
„Ich liebe dich auch und werde dich immer lieben, selbst wenn die Erinnerung an dich verblassen wird. Tief in meinem Herzen wirst du stets bei mir sein, Grace."
Die beiden Seelensammler blickten peinlich berührt dabei zu, als sich das Liebespaar vor ihnen ein letztes Mal zu küssen begann. Verlegen blickte der Jüngere zur anderen Seite der Straße, um dem unangenehmen Anblick zu entfliehen.
Erst als der Ältere sich kurz räusperte, ließen Grace und James voneinander ab und wurden vom Anthropometrikon in zwei kleine Seelenkugeln verwandelt. SS-104 verstaute die rote und die blaue Kugel im jeweiligen Fach des Seelenkoffers und wandte sich anschließend an seinen Lehrling.
„So, das wars für heute in der Menschenwelt. Jetzt bringen wir die Seelen hoch zur Erinnerungszentrale, machen den restlichen Papierkram und im Anschluss können Sie in ihren Feierabend gehen", klärte er den Schlanken auf, welcher zustimmend nickte.
Einen kurzen Teleportationssprung später befanden sich die beiden Männer im Himmelsjenseits – der Welt der Fügungswesen, welche sich weit über den Wolken im Unsichtbaren versteckte. Der große Raum ähnelte beinahe einer Fabrik, in welcher Förderbänder die farbig leuchtenden Seelenkugeln transportierten. SS-104 öffnete den Seelenkoffer, welcher beinahe randvoll gefüllt war.
Als Erstes holte er die grünen Kugeln heraus und legte sie nacheinander auf das äußerste Band. Automatisch sprang es an und fuhr die körperlosen Seelen, welche der Abteilung Glück zugeordnet worden waren, durch die Halle hindurch. Nach ein paar Metern wurden sie unter einem saugenden Rohr entlanggefahren, welches ihnen die Erinnerungen an deren Menschenleben entzog.
„Wo führt das Band die enterinnerten Seelen hin?", fragte der Jüngere seinen Ausbilder, welcher das Geschehen interessiert beobachtete.
„Sie kommen weiter in die Hüllenzentrale, wo sie ihre – für Menschen unsichtbare – Körperhüllen zurückbekommen. Anschließend geht es für sie direkt in den Unterricht, um ihre Aufgaben und unsere Regeln gelehrt zu bekommen", erklärte der Ältere und füllte die Papiere auf dem Klemmbrett in seiner Hand aus. Kurz zählte er die gesammelten Seelenkugeln des Tages und trug die jeweiligen Zahlen für die Verwaltung ein. Nach den grünen Kugeln folgten die braunen und lilafarbenen Seelen.
„Probieren Sie die nächsten Fächer", forderte SS-104 den Jüngeren auf, welcher daraufhin die blauen Kugeln auf das entsprechende Förderband ablegte.
Anschließend kümmerte er sich um die roten Seelen und dachte abermals an das junge Ehepaar zurück, welches ihn beinahe mitleidig hatte werden lassen. Doch er besann sich und erinnerte sich an die Grundregeln, welche er erst kürzlich in seiner Ausbildung zum Seelensammler gelernt hatte. Er durfte keine starken Gefühle wie Mitleid hegen. Die Geschichten der Menschen durfte er nicht zu nah an sich heranlassen und erst recht keine Personen bevorzugt behandeln.
In seinen Gedanken vertieft legte er die übrigen orangefarbenen Seelen auf dem schwarzen Förderband ab.
„Hey, SS-9927! Passen Sie doch auf! Das ist das falsche Band", fuhr der Ältere ihn laut an, woraufhin er seinen Fehler schlagartig und voller Entsetzen bemerkte. Hastig griff er nach einem Schalter an der Wand, welcher mit einem Schild „Nur im Notfall benutzen" gekennzeichnet war.
Ruckartig kamen alle Förderbänder zum Stehen und am Ende der Halle, kurz bevor die Förderbänder den Raum verließen, purzelten zwei Kugeln zu Boden. Er rannte eilig zu dem kleinen Unfall und legte die rote und die blaue Seelenkugeln, welche durch das plötzliche Stillstehen vom Band gerollt waren, zurück zu den anderen.
„Sind Sie denn überhaupt zu etwas zu gebrauchen?", schrie sein Ausbilder ihn regelrecht an. „Sie können die Kugeln doch nicht einfach zurück zu den anderen legen! Woher wissen Sie denn, ob die beiden bereits enterinnert wurden", schimpfte SS-104 und schüttelte nur missmutig den Kopf.
„Entschuldigen Sie, ich habe nicht darüber nachgedacht, ob den beiden Seelen bereits die Erinnerungen entzogen wurden", sagte der Jüngere peinlich berührt. Beschämt blickte er auf die roten Kugeln vor sich und überlegte fieberhaft, welche von denen er soeben vom Boden aufgehoben hatte. Doch es war vergeblich, da es einfach zu viele Kugeln waren.
„Nun gut, wir können nun nichts mehr daran ändern. Hoffen wir, dass die beiden bereits enterinnert wurden und uns somit keine Schwierigkeiten in der Zukunft bereiten werden. Ich hoffe, dass Ihnen klar ist, dass ich mich hiermit mitschuldig mache? Sollte jemand diesen Fehler aufdecken, könnten wir unsere Arbeit als Fügungswesen verlieren und ausgelöscht werden! Also sorgen Sie dafür, dass so etwas nie wieder vorkommt", sprach der Ältere ernst und trug auf seinem Klemmbrett ein, dass es keine unvorhersehbaren Zwischenfälle gegeben hatte.
Kleinlaut und voller Scham entnahm der Jüngere die orangefarbenen Kugeln vom schwarzen Förderband und legte sie anschließend auf dem orangenen Band ab.
Als der Seelenkoffer leer war und alle gesammelten Kugeln des heutigen Tages enterinnert und in die Hüllenzentrale weitergeleitet worden waren, gingen die beiden Seelensammler in ihren Feierabend.
*
Aufgeregt rutschte die junge Schicksalsfrau auf ihrem Stuhl hin und her. Ihre unzähmbaren, roten Locken hingen ihr wild über die Schultern und verdeckten ihr Nummernschild mit der Aufschrift S-203.
Sie hatte bereits als Erste das Klassenzimmer betreten und sich voller Tatendrang und Neugierde einen Platz in der vordersten Reihe gesichert. Mit der Zeit füllte sich der Raum mit anderen Schicksalswesen, welche sich laut quasselnd auf den leeren Stühlen niederließen. Doch keiner von ihnen wirkte auch nur ansatzweise so nervös und freudig gespannt wie die Rothaarige.
„Setzt euch bitte und stellt die Gespräche ein", sprach eine hochgewachsene Schicksalsfrau mit blondem Bob. Sofort legte sich eine Stille über die neue Ausbildungsklasse und alle Augenpaare richteten sich auf die Leinwand vor ihnen.
„Ihr werdet nun den Einführungsfilm sehen und könnt im Anschluss Fragen stellen. Passt gut auf. Ich möchte keine unnötigen Fragen beantworten müssen."
Mit diesen Worten startete sie leicht genervt das Video und ließ sich daneben auf einem Stuhl nieder, um nicht im Blickfeld der Auszubildenden Schicksalswesen zu stehen.
„Willkommen, Schicksalswesen", ertönte eine tiefe und zugleich seelenruhige Stimme aus den Lautsprechern. Sie vermochte es, ein Gefühl von Geborgenheit und Freundschaft zu vermitteln. Als würde man den Sprecher bereits jahrelang gut kennen. Ein alter Mann mit weißem Haar und liebevollen, braunen Augen erschien auf der Leinwand.
Das Schicksalsmädchen S-203 machte bei seinem Anblick große Augen und kam aus dem Stauen nicht mehr heraus. Er war es also, der Schöpfer der Welt, der Menschen und zudem der Schöpfer von ihrem Leben nach dem Tod. Gott. So würden ihn die Menschen wohl bezeichnen.
„Ich bin Yzandiel. Für manche von euch werde ich als alter, bärtiger Mann erscheinen. Andere sehen mich als eine weise, ältere Dame. Und ab und zu trete ich auch in der Gestalt eines Tieres auf. Eure persönliche Vorstellung von mir lässt mich für jedes Fügungswesen ganz einzigartig anders erscheinen. Ich werde euch in diesem Video nun kurz unsere Welt und eure zukünftige Arbeit vorstellen", sagte er lächelnd und im nächsten Augenblick bekamen sie eine bunte Übersicht aller Fügungswesen zu sehen.
„Gemeinsam lenkt ihr das Leben der Erdenbewohner und schafft ein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Es gibt acht Abteilungen in unserer Welt. Die Seelensammler habt ihr bereits nach eurem Menschentod kennengelernt, auch wenn euch die Erinnerung daran wieder genommen wurde. Sie sammeln die verstorbenen Seelen ein und ordnen sie entweder einer Abteilung zu oder bringen sie in die Seelenbibliothek."
Auf dem Bildschirm bekamen sie nun Wesen in orangefarbenen Uniformen zu sehen.
„Hier seht ihr die Kontrolleure in der Führungsebene. Sie sorgen dafür, dass sich alle Fügungswesen an die Regeln halten und ihre Aufgabe gewissenhaft und rechtmäßig erledigen. Wer dagegen verstößt, wird von ihnen festgenommen und in einem fairen Prozess verurteilt. Legt euch also lieber nicht mit ihnen an", sagte der Alte scherzhaft. Erneute wechselte das Bild und die Uniformen nahmen ein kräftiges Lila an.
„Einige der Verstorbenen bekommen einen Platz in der Verwaltung. Sie dokumentieren das Leben der Erdenbewohner und die Einmischung der Fügungswesen. Sie allein haben Zugang zu den Wissenden Hallen, in welchen die Taten aller Fügungswesen sowie das Leben aller Menschen in Form von Büchern aufbewahrt wird."
Das Bild wurde plötzlich dunkler und die Fügungswesen im Video trugen dunkelbraune Kleidung, welche sie bedrohlich und finster wirken ließen.
„Die Abteilung Pech sorgt für die negativen Momente im Leben der Menschen. Dafür eignen sich besonders gut ehemalige Menschen ohne ein Gewissen. Menschen mit schlechtem Charakter. Sie können das Pech zufällig verteilen oder aber auch gezielt an die Personen vergeben. Aber natürlich müssen auch sie sich an Regeln halten und dürfen die Menschheit nicht mit Pech überhäufen."
Die dunkle Stimmung wurde von einem saftigen Grün ersetzt und freudestrahlende Wesen blickten ihnen entgegen.
„Die Abteilung Glück beschäftigt sich genau mit dem Gegenteil. Sie verteilen glückliche Momente unter den Menschen und sorgen für einen Ausgleich. Sie können erkennen, welcher Mensch vielleicht ein wenig Glück gebrauchen könnte, wer es im Moment dringend nötig haben könnte. In ihrem früheren Leben waren sie meist sehr fröhliche, aufgewachte Menschen, die sich stets das Gute für die Welt wünschten."
Abermals wurden die Fügungswesen im Video ausgetauscht und gelbe Uniformen leuchteten den neuen Auszubildenden entgegen.
„Die Abteilung des Karmas sieht den Karmastand über den Köpfen der Menschen. Diejenigen mit schlechten Taten werden negative Dinge erleben und diejenigen mit positiven Taten werden vom Karma belohnt. Sie sorgen somit für etwas mehr Gerechtigkeit. Die nächste Abteilung scheint ohne jegliche Regeln zu arbeiten", hörten sie die beruhigende Stimme von Yzandiel sagen, als sie vor sich nun blaue Uniformen zu Gesicht bekamen.
„Die Abteilung Zufall sorgt für ein wenig Chaos auf der Welt. Sie können Pläne anderer Fügungswesen durchkreuzen und die Menschen etwas auf Trab halten. Sie sind mal hier und mal dort.
Doch für euch, meine lieben Neulinge, ist die Abteilung Schicksal die Interessanteste. Ihr wurdet hierfür ausgewählt, weil ihr allesamt das Herz am rechten Fleck getragen habt. Ihr seid emphatisch, romantisch und glaubt an die wahre Liebe. Eure Aufgabe ist es, die Menschen zusammenzubringen.
Über den Köpfen der Menschen könnt ihr in Prozent sehen, wie gut sie zu jemandem in ihrer Nähe passen. Und sollte diese Zahl über 85 Prozent sein, so dürft ihr frei entscheiden, ob ihr die Zwei zusammenbringen möchtet.
Doch auch ihr müsst euch an Regeln halten, damit die Welt nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Jede Woche werdet ihr einen Bericht abgeben, welche Paare ihr gefunden und zusammengebracht habt. Sobald ihr zwei füreinander bestimmte Personen ausgewählt habt, müsst ihr die Verwaltung davon in Kenntnis setzen. Ihr dürft nicht in die Pläne anderer Schicksalswesen eingreifen oder gar manipulieren.
Doch hütet euch vor euren eigenen Gefühlen. Die Menschen sind nicht eure Freunde, sie sind eure Arbeit und ihr solltet keine tiefere Bindung zu ihnen aufbauen. Habt ihr ein Paar zusammenführen können, so ist euer Job getan und die beiden benötigen keinerlei Aufsicht mehr. Ihr werdet von einer Liebe zur nächsten gehen. Und ich denke, dass es überflüssig sein sollte, zu erwähnen, dass ihr selbst keine Liebesbeziehungen eingehen dürft."
Verächtliches Lachen ging durch den Raum, als ob die Auszubildenden nicht glauben konnten, dass Yzandiel diese Regel überhaupt ansprechen musste. Sie waren schließlich übernatürliche, unsterbliche Wesen und Gefühle zu hegen, war für sie ein Fremdwort. Die Liebe war nur etwas für die Menschen.
Doch die rothaarige Frau in der ersten Reihe gab nur ein schwaches, unsicheres Lachen von sich. Weshalb waren all die anderen Schicksalswesen um sie herum so gefühlsarm? War die Vorstellung einer eigenen, wahrhaftigen Liebesbeziehung derart abnormal? Stimmte mit ihr etwas nicht, da sie bei dem Gedanken daran keinen Spott und keine Abneigung verspürte?
Doch S-203 merkte schnell, dass das Grübeln nichts brachte. Also wendete sie ihren Blick zurück nach vorn und versuchte zwischen all den anderen nicht aus der Menge zu stechen.
„Ihr seid jetzt Fügungswesen. Das menschliche Leben, deren Gefühle und ihre Schwächen habt ihr hinter euch gelassen. Ihr steht nun über den Dingen, seid stark, unzerstörbar, habt keinerlei Erinnerungen an euer altes Leben und habt nun die Chance, die Menschen so gut es geht durch ihr Leben zu führen. Es ist eure Pflicht, den Erdenbewohnern das zu geben, was auch ihr als Menschen erhalten habt.
Sollte sich jemand gegen dieses System auflehnen oder seine Pflichten und unsere Regeln verletzen, so wird im Prozess entschieden, welche Strafe ihm droht. Im schlimmsten Fall muss er ein letztes, langes Leben als Mensch voller Unglück und vielerlei Hindernisse durchstehen und wird am Ende mitsamt seiner Seele vernichtet."
Schockiert und angewidert von solch einem Leben als schwacher Mensch blickten die zukünftigen Schicksalswesen auf den Bildschirm. S-203 musste kurz den Kloß in ihrer Kehle hinunterschlucken, während der alte Mann im Video nun wieder ein freudiges Lächeln aufgesetzt hatte.
„Aber lasst euch davon nicht verunsichern. Solange ihr eure Arbeit gewissenhaft erledigt, habt ihr nichts zu befürchten und werdet nach eurer Arbeitszeit von 150 Jahren ordentlich belohnt. Also geht nun da raus, nutzt eure Kräfte für die Liebe und macht die Welt ein Stückchen besser", beendete er seine kleine Ansprache.
Keine zwei Sekunden später verschwand das Bild und die blonde Schicksalsfrau erhob sich von ihrem Stuhl, um das Video zu beenden.
„Habt ihr noch Fragen?", raunte sie und klang dabei noch immer genervt, als ob sie diese Einführung bereits zum tausendsten Mal durchführen würde und es leid war, den Frischlingen dieses Video zeigen zu müssen. Ein Junge in der hinteren Ecke hatte seinen Arm in die Höhe gestreckt und wurde mit einem Kopfnicken zum Sprechen aufgefordert.
„Wenn wir ein Pärchen mit einer Kompatibilität von 85 Prozent entdecken, könnten wir sie dann trotzdem mit jemand anderes zusammenbringen?"
Die Ausbilderin nickte kurz und antwortete ihm anschließend: „Ja, solltet ihr einen Partner mit einem noch höheren Prozentsatz finden, so könnt ihr auch diesen wählen. Je höher, desto besser."
„Gibt es auch 100-Prozent-Pärchen?", fragte eine älter aussehende Dame, ohne sich zu melden.
„Natürlich", antwortete die hochgewachsene Frau, welche vor der Klasse stand und sich bereits ihren Feierabend herbeisehnte. „Aber ich denke nicht, dass auch nur einer von ihnen hier in diesem Raum jemals ein solches Pärchen finden wird. Sie sind selten und kommen nur aller hunderten oder gar tausenden von Jahren vor. Noch mehr Fragen?"
Auffordernd ging ihr Blick durch den Raum, doch keine Hand erhob sich mehr.
„Dann werdet ihr nun eure Uniform erhalten und euch gleich morgen an eurem ersten Tag als Schicksalswesen erproben können."
Durch die hintere Tür wurden Kleiderstangen mit roten Outfits hereingefahren und je nach Größe an die Auszubildenden verteilt. S-203 sprang als Erste aufgeregt von ihrem Platz und wählte für sich ein rotes Kleid mit farblich passenden Lackschuhen.
Für einen kurzen Moment fühlte sie sich so lebendig und voller Vorfreude auf all die liebenden Menschen, als wäre sie selbst noch einer von ihnen. Doch bereits im nächsten Augenblick rief sie sich in Erinnerung, dass sie keinerlei solcher Gefühle mehr spüren konnte. Sie war nur noch eine Hülle, eine Arbeiterbiene im großen System.
Sie war wie Amor und bereit, die Liebe unter den Menschen zu verteilen.
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