Kapitel 7

„Man, wo ist es nur?", flüsterte Camilla frustriert, während sie alle Bücher aus ihrem Regal einzeln hervorholte und begutachtete. „Ob Rubi es sich ausgeliehen hat?", überlegte die Studentin laut und stürmte in den Flur ihrer Wohngemeinschaft hinaus.

„Rubi? Hast du mein Zellbiologie Buch genommen?", rief sie und öffnete, ohne anzuklopfen, die Tür zum Zimmer ihrer Freundin. Doch diese schien nicht da zu sein, da der Raum menschenleer war. Suchend blickte sich Camilla um. Ihre Augen wanderten über die Klamottenberge, herumliegende Schuhe, Hefter, Stifte, welche auf dem Boden verteilt waren. Kopfschüttelnd über Rubis Unordnung begann sie auf dem Schreibtisch zu suchen. Doch auch unter den leeren Chipstüten fand sie ihr Buch nicht.

„Es muss doch irgendwo sein", fluchte sie vor sich hin. Unbemerkt von der Menschenfrau trat das Schicksalswesen zu ihr in das Zimmer und ließ mit einem Fingerschnipsen einen kleinen, weißen Gegenstand vom Nachttisch hinunterfallen.

„Huch, was ist das denn?", fragte sich Camilla, welche die Serviette sogleich vor ihren Füßen entdeckt hatte. Stirnrunzelnd las sie die kurze Nachricht, welche mit einem Stift auf den Stoff geschrieben worden war.

„Falls du dich gern weiter unterhalten möchtest, schreib mir doch eine Nachricht. Ich warte, dein Jordan." Hinter seinem Namen hatte er einen grinsenden Smiley gemalt und seine Telefonnummer notiert. „PS.: für die Biologin noch eine Blume. Sie trägt quasi deinen Namen." Neben diesem kleinen Rätsel hatte er eine schöne Blüte gezeichnet, welche unzählige Kronblätter besaß.

Erneut kam ihr der Abend in der Bar in den Sinn. Hatten er und Rubi etwa miteinander geredet, als sie kurz auf der Toilette gewesen war? Woher sonst wusste er, dass auch sie Biologie studierte? Und woher wusste sie überhaupt, dass die Nachricht für sie bestimmt war? Ihr Name stand schließlich nicht auf der Serviette.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer stahl sich in Camilla an die Oberfläche. Sie konnte nicht verhindern, dass sie urplötzlich den unsinnigen Gedanken hegte, dass er die Nachricht für sie, für Camilla geschrieben hatte.

„Aber was hat es mit der Blume auf sich? Sie trägt quasi deinen Namen", wiederholte sie seine Worte leise und überlegte. Gab es eine Blume, welche Rubi hieß?

Schlagartig war die Suche nach dem Buch aus ihrem Kopf verschwunden. Die Serviette nahm jeden ihrer Gedanken ein und ließ sie - ohne weiter an die anstehende Prüfung nachzudenken - zur Bibliothek der Universität fahren. Mit dem Fahrrad war sie auf schnellstem Wege angekommen und lief keine halbe Stunde später suchend zwischen den hohen Bücherregalen entlang.

Sie konnte all die Bücher quasi riechen, während sie über den Teppichboden schlich und darauf bedacht war, möglichst leise zu sein, um die anderen Studenten nicht zu stören. Mit dem Finger fuhr sie über die Buchrücken entlang und genoss die Ruhe in dieser Abteilung.

„Physiologie der Pflanzen, Einheimische Pflanzen, Mikroskopie von Pflanzen", las Camilla die Titel der Wälzer flüsternd vor. Ihre Augen flogen förmlich über sie wie ein Raubvogel auf Beutesuche. Ihre Hand stürzte sich geradezu auf das Buch, als sie „Pflanzen Enzyklopädie" in der untersten Reihe vor sich erkannte. Sie packte es sich unter dem Arm und suchte einen freien Platz, an welchem sie sich setzen und in Ruhe schmökern konnte.

Ziellos blätterte sie die unzähligen Seiten durch und staunte über die verschiedenen Blüten, welche in Form von Zeichnungen und bunten Fotos dargestellt waren. Am Ende des Buches fand sie ein Register über alle Pflanzengruppen und stoppte mit dem Finger, als sie den Namen ihrer Mitbewohnerin entdeckte.

„Hibiscus syriacus Rubis", las sie stumm. Also gab es tatsächlich eine Blüte mit ihrem Namen. Enttäuschung machte sich in ihr breit, doch sie wollte unbedingt noch sicher gehen, dass ihre Hoffnung völlig aussichtslos war. So schnell sie konnte, blätterte sie bis zum Kapitel der Hibiskus Pflanzen. Verwundert blickte sie auf das Bild, welches keinerlei Ähnlichkeiten mit der gemalten Blume auf der Serviette hatte. Jordan hatte keinen Hibiskus gezeichnet.

Wie in Trance blätterte sie weiter durch das Buch. Anderen Zuschauern wäre bei der Geschwindigkeit sicher übel geworden, in welcher sie die Seiten umschlug. Sie fühlte sich wie Sherlock Holmes, welcher ein neues Rätsel zu lösen hatte.

Urplötzlich stoppte sie und schlug ihre Hand hinunter, um die interessante Seite nicht wieder zu verlieren. Mit offenem Mund starrte sie auf die Zeichnung, welche eindeutig die Blume auf der Serviette zeigte. Ihre Augen wanderten zum lateinischen Namen, welcher sie erschrocken vom Stuhl plumpsen ließ. Peinlich berührt setzte sie sich wieder auf und blickte kurz in alle Richtungen. Doch scheinbar hatte keiner ihren kleinen Sturz bemerkt, welchen sie mit einem leisen Quieken noch etwas untermalt hatte.

Camilla war nicht fähig, ihre Mundwinkel hinunterzuziehen. Die Freude über ihre kleine Entdeckung ließ sie unentwegt grinsen und ihr Herz sogleich ein paar Takte schneller schlagen. Erneut las sie den Namen der Pflanze, da sie es noch immer nicht wahrhaben wollte.

„Camellia japonica."

Immer und immer wieder flogen ihre Augen über die Buchstaben, welche „quasi ihren Namen trugen" – so wie Jordan es geschrieben hatte.

Also war die Serviette doch für sie gedacht?

Ein Geflecht aus Verwirrung und Unverständnis entstand in ihrem Kopf. Weshalb hatte Rubi die Nachricht dann für sich behalten und ihr nichts gesagt? Wusste Jordan davon oder gab sich Rubi als sie aus?

In Gedanken versunken schlug sie das Buch wieder zu und stand langsam auf. Sie achtete kaum auf ihre Mitmenschen und das Geschehen um sich herum. Beinahe automatisch fanden ihre Beine den Weg zurück zu dem Bücherregal, in welchem sie die Enzyklopädie entdeckt hatte.

Unweit von ihr – nur zwei Büchergänge weiter – schlenderte das Schicksalswesen umher und sprühte förmlich vor Freude. Ihr Plan mit der Serviette war aufgegangen und Camilla hatte ihre detektivischen Fähigkeiten mit Bravour unter Beweis gestellt. S-203 fühlte sich beinahe wie ein Verfolger, als sie der Studentin weiter nachging.

Mit den Augen fixierte sie Camilla unentwegt und beobachtete sie nun dabei, wie sie eine andere Abteilung der Bibliothek aufsuchte und die Bücherrücken über das Historische England, mystische Steinkreise und Keltische Symbole begutachtete.

Von ihrer Entdeckung überwältigt, wollte Camilla ihre Freundin Rubi eigentlich sofort zur Rede stellen. Doch in ihrem Kopf malte sie sich eine kreative Art und Weise aus, mit welcher sie Jordan antworten könnte. Sie wollte es ihm gleichtun und ihn mit einer kleinen Zeichnung überraschen. Vielleicht könnte sie hier mehr über die Bedeutung seiner Tattoos herausfinden und für ihre Nachricht nutzen.

Doch auch das Schicksal hatte einen Verfolger, welcher sich im Gang neben ihr heimlich entlangschlich. Er blieb versteckt hinter den unzähligen Wälzern und ab und zu lugte er zwischen den Regalen hindurch. Ein Grinsen schlich sich in sein Gesicht, als er das Fügungswesen mit den roten, wilden Locken betrachtete.

Sein Blick wirkte auf eine fremde Art und Weise verträumt, beinahe verliebt. Ein Blick, welcher geradezu vor Freude, Zuneigung und Liebe überquoll. Ein höchst anormaler Zustand, welcher bei den unsterblichen Wesen eigentlich nie vorkam. Nie vorkommen sollte.

„Es hat diesmal echt lange gedauert, um dich ausfindig zu machen. Fast zwei Wochen ohne dich. Ich weiß gar nicht, ob ich das noch einmal so lange aushalte."

In den Worten schwang ein Hauch von Ironie und gespielter Herzschmerz mit. Sein Gesprochenes sollte als Provokation dienen. Sie sollten das Schicksalswesen lediglich necken und doch konnte der Mann aus der Abteilung Zufall nicht leugnen, dass sie ihm viel zu einfach über die Lippen gekommen waren. Beinahe als ob er sie genauso meinen würde.

Als S-203 die bekannte Stimme hinter sich wahrnahm, löste dies einen Zustand der Genervtheit aus. Erst nachdem sie ihre Augen einmal verdreht und kurz die Augen geschlossen hatte, um sich am Boden der Ruhe zu halten, drehte sie sich zu Z-11 um.

„Und diese zwei Wochen ohne dich waren für mich die schönsten in meinem bisherigen Fügungswesenleben", antwortete sie ihm mit lieblicher Stimme und blinzelte mehrfach mit den Augen. Gespielt getroffen hielt er sich die Hand an sein nicht mehr existierendes Herz.

„Aua, das tat weh", spottete er weiter und kassierte ein zweites Augenverdrehen. „Aber keine Sorge, diesmal bin ich nicht da, um Ärger zu stiften", sagte er nun ganz ernst und lächelte sie ohne Ironie in der Stimme und ohne das freche Glitzern in den Augen an.

Der Schelm hatte seinen Körper verlassen und beinahe schüchtern schaute er ihr nun zu, wie sie misstrauisch die Augen zusammenkniff.

„Und das soll ich dir glauben?", fragte sie, wovon er sie mit einem heftigen Nicken überzeugen wollte.

„Also, wie geht es bei Camilla nun weiter?", fragte Z-11 interessiert und lief parallel zum Schicksalswesen durch den engen Gang. Immer wieder verschwand S-203 hinter den Büchern aus seinem Blickfeld. Und immer wieder begann er förmlich zu strahlen, wenn im Regal eine kleine Lücke durch fehlende Bücher entstand und ihm somit einen freien Blick auf die Rothaarige schenkte.

„Jordan wird hier gleich erscheinen. Er hat heute früh mit Rubi geschrieben und nachdem sie erwähnt hatte, dass sie den ganzen Tag in der Bibliothek verbringen wird, hat er den Entschluss gefasst, auf eigene Faust zu ihr zu fahren und sie zu überraschen. Und wenn nichts mehr dazwischenkommt", bei diesen Worten warf sie dem Zufallswesen einen warnenden Blick zu, „dann sollte der Schwindel also bald auffliegen."

Eine Bewegung im Augenwinkel riss ihre Aufmerksamkeit auf den herankommenden Mann, welcher im Gang zwischen ihr und Camilla den Teppich entlanglief. Auch er ging suchend zwischen den Regalen entlang und schien ein bestimmtes Buch zu suchen.

„Ist er das?", flüsterte Z-11 an das Ohr des Schicksals, welche nicht mitbekommen hatte, dass er zu ihr getreten war. Sie hatte das Gefühl, seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren, seine Nähe zu fühlen. Auch wenn ihr klar war, dass er und auch sie keine Menschen mehr waren, nicht atmeten, doch es kam ihr beinahe so vor, als würde sie sich an dieses Gefühl aus ihrem Menschenleben erinnern. Als würde ihr Körper noch immer ganz genau wissen, wie es sich anfühlte.

Seine Anwesenheit machte sie nervös, sodass sie Jordan völlig vergaß. Ihn und Camilla trennte nur ein Bücherregal und doch hatten die zwei einander noch nicht bemerkt. Ein Fingerschnipsen holte S-203 zurück in die Realität und ließ sie daran erinnern, dass sie hier war, um die beiden Menschen zusammenzubringen.

Drei Bücher kippten urplötzlich aus dem Regal und fielen direkt vor Jordans Füße. Verwundert starrte er zu Boden, doch wartete nicht lange, um sie aufzuheben und zurück an ihren Platz im Regal zu stellen. Doch die Welt schien für ihn förmlich stehen zu bleiben. Als hätte jemand die Zeiger der Lebensuhr kurz festgehalten, um ihm diesen romantischen, magischen und beinahe schicksalshaften Moment zu bescheren.

Wie erstarrt blickten Jordan und Camilla sich durch die Lücke im dunklen Holzregal an. Ihre Köpfe ratterten, versuchten dieses überraschende Aufeinandertreffen zu verstehen. Ihre Herzen schlugen voller Kraft, ließen sie die Bücher in ihren Händen vergessen, welche sie jeweils gerade zurück einordnen wollten.

S-203 blickte ebenso sprachlos zu ihnen, da sie erst realisieren musste, dass nicht sie es war, die die Bücher zufällig runterfallen lassen hatte.

Zufällig.

Analysierend drehte sie ihren Kopf zur Seite und starrte ihren Kollegen aus der Abteilung Zufall an.

„Hast du mir gerade geholfen?", fragte sie geradezu heraus. Grinsend zuckte er mit den Schultern.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht hier bin, um Ärger zu stiften. Ich möchte mein Verhalten wieder gutmachen. Und außerdem", begann er zu flüstern und kam mit seinem Mund ganz nah an ihr Ohr heran, „du wirktest ein bisschen abgelenkt."

Da war sie wieder, seine freche und spottende Tonlage.

„Ich war überhaupt nicht abgelenkt", verteidigte sie sich beleidigt und doch fühlte sie sich ertappt. Sie konnte nicht leugnen, dass seine Nähe sie schwach machte. Er schien in ihr Erinnerungen und Gefühle zu erwecken, welche sie sonst nur von den Menschen kannte.

Doch die langersehnte Begegnung zwischen Jordan und Camilla sorgte für ein außerordentliches Glücksgefühl in ihr, sodass Z-11s stichelnde Bemerkung schnell vergessen war. Ihre Aufmerksamkeit wanderte zurück zu der Studentin und dem Barbesitzer, welche noch immer versuchten die Situation zu realisieren.

„Was machst du denn hier?", fragte Camilla mit brüchiger Stimme und begann über beide Ohren zu grinsen.

„Ich wollte dich sehen", antwortete er, während er nicht aufhören konnte, sein Gegenüber zu betrachten. Verlegen strich sie sich eine Strähne hinters Ohr.

„Woher wusstest du denn, dass ich hier bin?", fragte sie, als sich die rosa Wolken in ihrem Kopf langsam auflösten und sie mit der Zeit wieder klar denken konnte.

„Du hattest mir doch geschrieben, dass du heute hier bist", begann er verwundert, während ihm langsam klar wurde, dass irgendetwas nicht stimmte.

Freudig klatschte S-203 einmal in die Hände und quiekte kurz auf.

„Drama in coming. Das wird sowas von filmreif", plapperte sie aufgeregt, als sie am anderen Ende des Ganges Rubi erblickte.

Die Studentin mit den kurzen Haaren schaute ertappt zwischen Jordan und Camilla hin und her. Als hätten die zwei ihre Anwesenheit gespürt, blickten die beiden zu ihr. Für einen kurzen Moment starrten die drei sich stumm an. Keiner sagte etwas, doch in ihren Köpfen war es ganz laut.

Jordan suchte nach Erklärungen, nach der Wahrheit. Rubi hingegen fluchte, dachte über Ausreden und Gründe für ihr Verhalten nach. Und Camilla konnte nur den Kopf schütteln. Wie hatte ihre Freundin ihr das nur antun können?

„Was läuft hier eigentlich?", löste Jordan den Knoten, welcher die Stille zwischen ihnen aufrechterhalten hatte. Als hätte er damit den Damm gebrochen, kam es nun wie Wellen aus den beiden Studentinnen heraus.

„Wieso hast du mir nichts von der Serviette gesagt?", fragte Camilla laut und blickte ihrer Kommilitonin mit verschränkten Armen entgegen.

„Ich ... Ich wollte auch mal im Rampenlicht einer anderen Person stehen. Wieso wollen die Typen denn immer nur von dir was? Weil ich nicht so schöne, lange Haare wie du habe? Keine süßen Sommersprossen, nicht den perfekten Körper. Man Cami, gönnst du mir denn gar nichts?", pampte sie zurück.

Jordan blickte nur verständnislos zwischen den streitenden Frauen hin und her.

„Natürlich gönne ich dir die Aufmerksamkeit von Männern. Aber das kannst du doch nicht erzwingen! Jordan wollte den Kontakt zu mir und nicht zur dir! Und sag mir bitte nicht, dass das alles immer noch wegen der Sache mit Brian ist? Ich konnte doch damals nichts dafür, dass er sich in mich verliebt hatte und dich sitzen gelassen hat!"

Rubis Gesicht verzog sich schmerzhaft. Der Name Brian schien in ihr alte Wunden aufzureißen.

„Doch", kam es trotzig aus ihr heraus. „Immer bist du es, die die Telefonnummern, süße Botschaften oder das Lächeln des heißen Typen von nebenan bekommt. Und mit der Serviette hatte ich eine Chance, um auch mal an der Reihe zu sein!"

„Aber was hast du dir denn gedacht, wie das Ganze ausgehen würde? Dachtest du, dass Jordan dann sagt: huch, du bist ja gar nicht Camilla. Aber macht nichts, dann date ich halt einfach dich anstelle von Cami!"

Fragend und ohne Verständnis blickte sie zu Rubi, welche mit sich rang, um eine gute Antwort zu finden.

„Du willst mich also gern daten?", kam es plötzlich von Jordan, welcher sich kaum traute, sich in den Streit einzumischen. Seine Frage traf Camilla so unvorbereitet und aus dem Nichts, dass sie kurz stotterte.

„Ähm ja, ich glaube schon. Ich ... ich mag dich irgendwie", sagte sie plötzlich ganz sanft und als ob Rubi gar nicht mehr anwesend wäre.

„Boar, zieht hier jetzt bitte keine romantische Disney-Scheiße vor mir ab", schnaufte diese genervt, als sie beobachten musste, wie die zwei sich beinahe schon verliebt anlächelten und von rosaroten Wolken umgeben waren.

„Das wird mir echt zu bunt hier", fluchte Rubi regelrecht und stampfte mit hochrotem Kopf davon. Jordans zaghafte und liebevolle Frage hatte die Wut in Camilla automatisch gelöscht und in ihr den Ruhepol geweckt. Das Unverständnis ihrer Freundin gegenüber hatte sich in Mitleid umgeschlagen. Enttäuscht stöhnend blickte sie der davonstürmenden Rubi hinterher.

„Ich glaube, ich muss später nochmal in Ruhe mit ihr reden", sagte sie mit trauriger Stimme. Zustimmend nickte Jordan und streckte anschließend sein Mobiltelefon zwischen den Büchern durch das Regal zu ihr durch.

„Darf ich nochmal ganz offiziell nach deiner Nummer fragen?" Auffordernd lächelte er sie an.

„Aber natürlich", entgegnete Camilla ihm ebenso grinsend und nahm ihm das Telefon aus der Hand.

„Und bevor wieder irgendetwas zwischen uns kommt, wollen wir vielleicht gleich jetzt zusammen etwas essen gehen?", schlug sie vor, nachdem sie ihm das Smartphone zurückgegeben hatte.

„Gerne", antwortete er und schmunzelte, als er den neu erstellten Kontakt auf seinem kleinen Bildschirm sah.

„Echte und wahrhaftige Cami", las er und wusste, dass dies der Beginn von etwas Großartigem war.

„Na dann wollen wir mal", sagte er euphorisch und verließ gemeinsam mit Camilla die Bibliothek.

Noch immer von dem guten Ausgang beflügelt schaute S-203 verträumt in Richtung Ausgang. Ihr war bewusst, dass sie nicht allein dafür verantwortlich war.

„Danke", gestand sie ehrlich und drehte sich zu Z-11, welcher nicht von ihrer Seite gewichen war.

„Kein Problem", antwortete er. Seinen Arm hatte er lässig gegen das Bücherregal gelehnt, während er liebevoll zu S-203 hinabschaute. Das Schicksal blickte in seine dunklen Augen, welche ihr abermals dieses geborgene Gefühl gaben. Als hätte sie etwas lang Ersehntes endlich wiedergefunden.

Genau wie bei Jordan und Camilla zuvor schien die Zeit auf einmal langsamer zu vergehen. Als gingen die Menschen um sie herum ihrer Wege, doch S-203 und Z-11 standen wie erstarrt voreinander - mit einem leichten Lächeln im Gesicht und den Blick nicht voneinander lösend.

„Ich verstehe nicht, was du mit mir machst", flüsterte sie unüberlegt, was ihr tagtäglich durch den Kopf ging.

„Was mache ich denn mit dir?", fragte er.

Wie gewohnt hatte er sein schelmisches Grinsen aufgesetzt, doch tief im Inneren wusste er ganz genau, was sie meinte. Er konnte nicht leugnen, dass er ständig nach ihr Ausschau hielt, sie suchte, ihre Anwesenheit vermisste. Doch auf der anderen Seite war er sich dessen bewusst, dass er auf gefährlichem Fuß lebte und durch sein Verhalten auch S-203 in eine missliche Lage bringen könnte.

In diesem Moment fing sich das Schicksalswesen wieder und schüttelte sich kurz, um der magischen Anziehung zu entkommen.

„Hochgradig nerven! Das machst du mit mir", warf sie ihm nach ihrem Stimmungswechsel entgegen. Entgeistert blickte er sie an und konnte nicht nachvollziehen, woher die schlechte Laune bei ihr plötzlich kam.

„Na hör mal, ich habe dir vorhin geholfen und mich benommen wie ein Gentleman", verteidigte er sich selbst.

„Gentleman? Pff, den habe ich bisher nicht gesehen", sagte sie, warf ihre roten Locken über die Schulter und marschierte an ihm vorbei. Ihre Schulter rempelte ihn kurz an, sodass er für einen kurzen Moment das Gleichgewicht verlor und einen Schritt zur Seite machen musste.

„Hey, was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?", rief er ihr verständnislos hinterher und setzte sich ebenfalls in Bewegung.

„Du! Du bist die Laus. Wie ein kleines Ungeziefer, ein Parasit", schnaufte sie wütend.

Gerade als sie sich fortteleportieren wollte, griff er nach ihrem Handgelenk und verschwand mit ihr in einem Strudel aus Helligkeit. Mit einem leisen Plopp tauchten sie beide in der nächsten Sekunde in S-203s Zentrale auf. Erschrocken entriss sie Z-11 ihren Arm.

„Du folgst mir sogar hierher?", blaffte sie ihn laut an.

In ihr stieg Panik auf. Sie hatte das Gefühl, nicht länger in seiner Nähe sein zu können. Sie mochte nicht, was er mit ihr machte, was er in ihr auslöste. Durch ihn verhielt sie sich anders, anormal, nicht so wie sie sollte. Und dieser Fakt bescherte ihr eine mächtige Angst. Sie wollte keine weiteren Tagträume, keine menschenähnlichen Gefühle. Konnte nicht alles wieder so sein wie vor ihrer ersten Begegnung?

„Verschwinde! Da ist der Ausgang!", rief sie ihm entgegen und zeigte auf die rote, wolkenförmige Tür.

Der Zufallsmann wollte noch etwas sagen, sie beruhigen und verstehen, weshalb sie so plötzlich vor ihm flüchtete. Doch sein Mund blieb kurz offen stehen, bevor er ihn wieder schloss. Er sollte sie fürs Erste allein lassen.

„Okay, ich gehe", sagte er mit erhobenen Händen. „Aber ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn wir uns bald wiedersehen würden. Ganz ohne Streit, ohne Provokation, Ironie oder Neckerei. Nur du und ich, ganz normal."

Noch ein letztes Mal blickte er zu der rothaarigen Frau vor sich, bevor er ihr den Rücken zuwandte und ihre Zentrale verließ.

Die plötzlich eingetretene Stille ließ sie einsam fühlen. Ihr Körper wollte loslaufen, ihm nachgehen, ihn daran hindern sie zu verlassen. Ihr Inneres wollte, dass er blieb. Dass sie gemeinsam herausfinden könnten, was mit ihnen nicht stimmte, was dieses unsichtbare Band zwischen ihnen war.

Frustriert verbarg sie ihr Gesicht hinter ihren Händen. Noch nie hatte sie sich derart traurig und bedrückt gefühlt. Wie war es überhaupt möglich, dass sie so fühlte? Ihr gesamter Hüllkörper begann zu zittern. Sie hatte das fürchterliche Bedürfnis zu weinen. Doch ihr Körper konnte keine Tränen produzieren.

So schluchzte sie für ein paar Minuten lediglich vor sich hin. Sie fühlte sich wie kein Mensch, aber auch wie kein Fügungswesen.

Abnormal.
Nicht dazu gehörig.
Ein Außenseiter.
Anders.

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