Kapitel 6

Das laute Surren der Türklingel drang durch das große, alte Haus. Der ältere Mann mit grauem Haar, welcher in seinem roten Sessel saß und gemütlich seine Zeitung las, legte das bedruckte Papier freudig zur Seite und sprang auf, um den Gast hineinzulassen.

„Zachary, freut mich. Komm herein", forderte er ihn freundlich auf. Der junge, große Mann, welcher sich in einem dunkelgrauen Anzug herausgeputzt und sein schwarzes Haar nach hinten frisiert hatte, trat dankend ein. Sogleich blickte er sich interessiert im Haus um und staunte nicht schlecht, als er das von Holz ummantelte Fernsehgerät erblickte.

„Die Amerikaner können ihre Programme ja sogar schon in Farbe sehen. Hoffentlich schaltet BBC auch bald auf Farbe um", merkte er an, woraufhin der Mann mit grauem Haar ihm nickend zustimmte. Wie ein aufgeregtes Wiesel blickte er umher und versuchte so gastfreundlich wie nur möglich zu sein.

„Setzen Sie sich ruhig, ich hole sie schnell", sagte der Ältere und zeigte auf das Sofa im Wohnzimmer, um dem jungen Besucher einen Platz anzubieten. Mit flinken Schritten verschwand er in der Küche, wo er seine Tochter mit verheultem Gesicht auf dem Boden liegend vorfand.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein?", tadelte er sie voller Entsetzen und versuchte sie hoch auf die Beine zu ziehen.

„Ich kann nicht, ich will nicht", jammerte die junge Frau mit den roten, wilden Locken. Ihr Körper besaß keine Spannung, keine Kraft und so schaffte ihr Vater es nicht, sie von den kalten Fliesen hochzuhieven.

„Zachary ist ein wirklich guter Mann. Er ist gebildet, wohlhabend und ihr Frauen würdet ihn sicher auch als gutaussehend beschreiben. Also komm jetzt hoch und zeig dich von deiner besten Seite!"

Seine Geduld hing nur noch an einem dünnen Faden und drohte mit jeder weiteren Sekunde zu reißen. Die Rothaarige merkte sofort, dass sie den Bogen überspannt hatte und ihr Vater ihr Verhalten nicht mehr lange dulden würde. Doch sie hatte keine Lust, jemanden zu heiraten, den sie nicht liebte, ja noch nicht einmal richtig kannte. Der Tonfall des Grauhaarigen brachte sie beleidigt zum Aufstehen.

„Na siehst du, das war doch gar nicht so schlimm. Und jetzt gehe zu ihm, spiel mit deinem Charme und bring ihn dazu, sich in dich zu verlieben."

Ohne weitere Widerworte schob er seine Tochter am Rücken hinaus und gab ihr den letzten Schubser in Richtung Wohnzimmer. Augenverdrehend und mit lustlosen Schritten ging diese auf das Ende ihres kindlichen und sorgenfreien Lebens zu.

Kurz räusperte sie sich, als sie den Raum betrat. Zachary blickte schlagartig auf und begann höflich zu lächeln, als die junge Frau im blauen Sommerkleid im Türrahmen stehen blieb.

Ihr Vater hatte recht. Zachary würde sicher von vielen Frauen als gutaussehend bezeichnet werden. Und doch fühlte sie sich kein bisschen zu ihm hingezogen. Die einzigen beschreibenden Wörter, die ihr zu ihm einfielen, waren: glatt, höflich, langweilig, Spießer.

Und schon in der ersten Sekunde merkte sie, dass er nicht ihr Typ war. Sicher würde sie ein sicheres und gehütetes Leben mit ihm führen können. Aber dafür auch ein unglaublich ödes Leben. Doch sie riss sich zusammen, um ihre Familie nicht zu blamieren.

Mit aufgesetztem Lächeln setzte sie sich ihm gegenüber. Smalltalk war für sie schon immer eine Belastung gewesen. Sie zwang sich regelrecht dazu, Interesse an seiner Kindheit, seiner Ausbildung und seinem Job zu zeigen. Wie einstudiert erzählte sie ihm von ihren Vorzügen, dass sie dutzende Lieder auf dem Klavier beherrschte und perfekte Torten backen konnte.

Lediglich ihr Hobby fürs Lesen und Schreiben von romantischen Geschichten behielt sie für sich. In den Büchern suchte sie Zuflucht, einen Ausweg aus dem langweiligen und vorherbestimmten Leben, welches sie führte. In den Büchern trafen die Menschen stets auf ihre Seelenpartner, erlebten Abenteuer. Und genau das war es, was sie sich sehnlichst erträumte. Wahre Liebe. Und eine arrangierte Ehe stand damit ganz oben auf ihrer „Niemals nie in meinem Leben-Liste".

Während des höflichen Gesprächs mit Zachary hatte sie ihre nervösen Hände unter ihren Oberschenkeln versteckt und versuchte sie mit voller Kraft nach unten zu drücken. Schon als Kind war sie immer nur am Zappeln gewesen. Und selbst jetzt, als sie frisch erwachsen geworden war, konnte sie nicht stillsitzen.

Der Drang, einfach zu verschwinden, vor diesem zukünftigen Leben zu fliehen und ihr eigenes Abenteuer zu finden, ließ ihre Füße aufgeregt auf dem Teppich tippen. Ihr Kopf konnte nicht klar denken, sie konnte dem Mann ihr gegenüber nicht zuhören. Seine Stimme drang wie ein weit entferntes Rauschen an ihre Ohren.

Allein seine Anwesenheit legte förmlich Ketten um sie, band sie damit an sich und raubte ihr die erhoffte Freiheit. Panik stieg in ihr auf, als das beklemmende Gefühl in ihrer Brust immer stärker wurde. Sie begann zu schwitzen. Ihr Körper glühte beinahe und ihre Lungen sehnten sich nach frischer Luft. Immer weiter engte er und die Gedanken an ein ewiges Leben mit ihm sie ein. Sie wollte das nicht. Sie konnte nicht.

Als wäre der Knoten, welcher sie an das Sofa fesselte, plötzlich geplatzt, sprang sie auf.

„Ich kann das nicht. Es tut mir leid", sprach sie hastig, ohne ihrem verdutzten Gegenüber in die Augen zu blicken. So schnell sie konnte, eilte sie zur Tür und verließ ihr Elternhaus, ohne ihrem Vater zu erklären, was in sie gefahren war.

Schwer atmend stürmte sie die Treppe hinunter, welche von der Straße aus zur Haustür führte. Ihr Vater hatte ihre plötzliche Flucht mitbekommen und war ihr zur Tür hinaus gefolgt.

„Wie kann man so ungezogen und undankbar sein?", schimpfte er laut vor sich hin, als er seine Tochter dabei beobachtete, wie sie den Arm ausstreckte, um das nächstbeste Automobil anzuhalten.

Erschrocken hatte der Fahrer im gelben Alfa Romeo Guilia eine Vollbremsung hingelegt, um die aufgebrachte Frau mit den roten Locken nicht zu überfahren. Beinahe panisch hatte sie die Beifahrertür geöffnet und war, ohne zu fragen, zu ihm in das Fahrzeug gestiegen.

„Sie wissen schon, dass das hier kein Taxi ist", klärte er sie belustigt auf, doch verstummte automatisch beim Anblick ihres vorwurfsvollen Gesichtes.

„Fahr einfach los, ganz egal wohin. Hauptsache weg von hier", sagte sie außer Atem.

„Wie Sie wünschen. Ihr Fahrer James wünscht Ihnen eine angenehme Fahrt."

Mit diesen Worten trat der junge Fremde aufs Gaspedal und das Auto entfernte sich immer schneller von dem wütenden Mann, welcher in seinen Pantoffeln auf der Türschwelle stand und seiner Tochter drohend hinterherrief.

*

Voller Panik schreckte das Schicksalswesen aus ihrem Tagtraum. Sie hatte das dringende Bedürfnis nach Luft zu schnappen, frische Luft einzuatmen. Die eben gesehenen Bilder rasten wie in einem Karussell durch ihren Kopf, drehten sich im Kreis und schienen keine Pause mehr einzulegen.

All die Geschehnisse hatte sie durch die Augen der rothaarigen, jungen Frau gesehen, sie förmlich miterlebt. War es möglich, dass sich ihr Kopf all dies nur ausdachte? Ein Mix aus den menschlichen Leben, welche sie tagtäglich beobachtete und dem Ausmaß ihrer romantischen Fantasie?

S-203 stand hastig vom Boden auf, auf welchem sie wohl in ein Nickerchen gesunken war. Ein Nickerchen, das Fügungswesen normalerweise gar nicht erlebten.

Normalerweise.

Dieses Wort schwebte vor ihr und ließ sie einmal mehr an ihren Gedanken zweifeln. War sie denn normal? Wie definierte sich ein normales Fügungswesen überhaupt? Machte sie ihre Arbeit nicht genauso gut, wenn nicht sogar besser und das trotz ihrer plötzlich aufkommenden Gefühle und ihrer menschlichen Verhaltenszüge.

„Vielleicht geht es anderen Fügungswesen ganz genauso wie mir. Doch da uns von Anfang an eingeredet wird, dass wir keine Gefühle und keine Erinnerungen haben können, wagt sich niemand darüber zu sprechen", sprach das Schicksal beruhigend zu sich selbst und tigerte – sich die Haare raufend – durch ihre Zentrale.

Während sie sich die seltsamen Bilder weiter schönredete, wuchs in ihr der Keim der Neugier. Dieser wollte stets größer werden und herausfinden, was es damit auf sich hatte. Waren es tatsächlich Erinnerungen? Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Mann im gelben Auto das Gesicht des Zufallsmannes gehabt hatte.

„James", flüsterte sie leise seinen Namen vor sich hin und blieb nachdenklich stehen. Jetzt nervte er sie nicht nur bei ihrer Arbeit, sondern verschaffte ihr auch noch unangenehme Träume, in welchen er sich penetrant einen Platz erkämpfte. Erneut kamen ihr die Bilder in den Sinn, welche sie in der U-Bahn vor ihrem inneren Auge gesehen hatte.

Auch dort war Z-11 aufgetaucht in Gestalt eines menschlichen Mannes. Wenn sie sich recht erinnerte, hatten die beiden Personen ebenfalls von einem Zachary gesprochen. Stirnrunzelnd starrte S-203 auf ihre Schuhe hinab. Sie konnte nicht aufhören zu grübeln.
Wer war James?
Wer war Zachary?
Wieso konnte sie sich nur so bruchstückhaft erinnern?

Weshalb schien sie sich überhaupt an etwas zu erinnern – wenn nicht doch alles nur eingebildet und von ihrem Kopf ausgedacht war. Das Schicksalsmädchen war es leid, über Dinge nachzudenken und sich Fragen zu stellen, auf welche sie letztendlich eh keine Antwort finden würde. Sie

befand sich in einer Sackgasse und als sie diese Tatsache endlich akzeptiert hatte, kam sie nach und nach in der Realität an. Der Gedankennebel lichtete sich und andere Dinge traten wieder in den Vordergrund. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie sich mit ihrer Freundin aus der Abteilung Karma verabredet hatte. Also zögerte sie nicht länger und ergriff diese Chance der Ablenkung.


„Kinder können dermaßen fies sein, das glaubst du nicht", erzählte K-4598 kopfschüttelnd von ihrer letzten Arbeitsgeschichte.

„Da stand dieses kleine Mädchen, glücklich und mit einem Eis in der Hand. Zuerst hatte ihr ein Vogel auf den Kopf gemacht und anschließend war auch noch ihre Eiswaffel zu Boden gefallen. Die drei Jungs an der Bushaltestelle hatten nichts Besseres zu tun, als sie auszulachen und ihr Weinen zu filmen. Aber das Karma hat nicht lange auf sich warten lassen", sagte sie frech grinsend.

„Dem einen ist das Handy ganz aus Versehen hinuntergefallen und kaputt gegangen, der andere war doch tatsächlich gestolpert und in eine Pfütze gestürzt und Junge Nummer drei war mit seinen neuen Markenschuhen in den nächsten Hundehaufen getreten."

Kichernd hielt sich das Fügungswesen mit den zwei braunen Zöpfen die Hand vor den Mund.

„Es würde mich nicht wundern, wenn ein Pech- oder Zufallswesen dafür gesorgt hatte, dass ihr das passiert ist. Erst der Vogel, dann das Eis, das scheint mir kein natürlicher Lauf der Dinge zu sein", teilte S-203 ihre Bedenken.

„Hmm, das kann gut sein. Aber nun zu dir! Wie läuft es in der Welt der Liebe?", lenkte die Karmafrau das Thema zurück zum Schicksal.

Genervt stöhnte diese einmal laut, bevor sie von ihrer letzten Begegnung mit Z-11 berichtete und dabei sehr deutlich machte, wie anstrengend seine Anwesenheit ein jedes Mal für sie und ihre Arbeit war.

„Er ist wirklich so furchtbar! Und dann hat er mir doch nicht allen Ernstes gesagt, dass ich süß wäre. Süß!", echauffierte sich der rothaarige Lockenschopf aufgebracht, während K-5698 sie dabei nur belustigt betrachtete.

Die Spannung zwischen S-203 und Z-11 war für sie deutlich sichtbar, doch auch sie konnte sich noch nicht recht erklären, weshalb die zwei sich ständig begegneten und auf eine seltsam menschenähnliche Art und Weise auf den Geist gingen. Ihre Schicksalsfreundin wurde mit der Zeit wieder ruhiger, beinahe schweigsam und ihr Gesicht verdunkelte sich.

„Alles gut?", fragte K-4598 und legte fürsorglich ihren Arm um ihre Freundin.

„Ich ...", begann die Rothaarige, doch sie stoppte. Sie wusste, dass sie ihrer Freundin alles anvertrauen konnte und doch wollte sie ihre seltsamen Träume nicht aussprechen. Dadurch würden sie erst recht real werden.

„Fragst du dich manchmal, wie dein Leben als Mensch war?", fragte sie stattdessen und schaute ihre Karmafreundin ernst an. Diese blickte jedoch nur ungläubig zurück.

„Natürlich nicht! Weshalb auch", antwortete sie beinahe schon spottend, als ob S-203 diese Frage niemals hätte ernst gemeint haben können.

„Warte, du meinst das nicht nur aus Spaß?", hakte sie nach, da sie nun realisierte, dass das Schicksal keineswegs Witze machte.

„Natürlich meine ich das ernst! Schau doch mal, wir beide sehen so jung aus. Das heißt, dass wir recht jung verstorben sind. Aber weshalb? Wieso war unser Leben so kurz? Hatten wir ein schönes Leben, waren wir gute Menschen? Bist du nicht manchmal auch nur ein klitzekleines bisschen neugierig?"

Entgeistert starrten sich die beiden Fügungswesen an. Ihre unterschiedlichen Meinungen prallten förmlich aneinander ab. Langsam begann K-4598 den Kopf zu schütteln.

„Nein, ich bin ehrlich gesagt nicht neugierig. Ich bin froh, dass ich nun keine Sorgen, keine Probleme, keine Schmerzen oder Trauer wie die Menschen haben muss. Ich mag das Leben als Fügungswesen. Wir arbeiten das, worin wir gut sind und was uns liegt. Wir sind Teil einer höheren Macht, wir sind für die Menschen verantwortlich. Gott schenkte uns das Leben, die Fügungswesen führten uns durch Höhen und Tiefen und nun liegt es an uns, dies in Form unserer Arbeit zurückzugeben."

Eine Stille trat zwischen die beiden, während sie jeweils in ihren Gedanken festhingen. S-203 war klar, dass ihre Meinung kontrovers war. Sie musste sich zurückhalten und durfte nicht zu ehrlich mit ihrem Drang nach Wissen und Erklärungen sein.

„Und außerdem möchte ich mich nicht in Gefahr bringen. Schließlich ist es uns nicht erlaubt, derartige Nachforschungen anzustellen. Und ... oh, lassen wir das Thema lieber."

Hastig beendete K-4598 ihren Satz, da nicht weit von ihnen ein orangegekleidetes Wesen aus der Führungsebene aufgetaucht war.

„Kontrollstreife", zischte sie S-203 zu und sofort setzten sie eine unschuldige Miene auf und verhielten sich so normal und unauffällig wie nur möglich.

„Also, wie geht es denn nun mit Camilla und Jordan weiter?"

Der Themenwechsel kam so plötzlich, dass das Schicksalswesen erst ihre Gedanken sortieren musste.

„Na ja, die kleine Überflutung wurde mittlerweile unter Kontrolle gebracht. Den beiden steht somit nur noch Rubis falsches Spiel im Wege. Ich muss also dafür sorgen, dass sich Jordan mit Rubi oder Camilla trifft. Daraufhin sollte die Wahrheit sicher ans Licht kommen."

„Das klingt eigentlich recht einfach, oder?", motivierte das Karma ihre Freundin. „Also, worauf wartest du noch?"

Grinsend blickte K-4598 ihr auffordernd entgegen.

„Sag mal, willst du mich loswerden?", fragte S-203 sie lachend.

„Nein nein, ich will nur, dass du auf andere Gedanken kommst und deiner grandiosen Arbeit nachgehst", gab sie ehrlich zu.

„Na gut, du hast mich überzeugt. Dann schau ich mal bei Camilla vorbei. Bis später."

Ein kurzer Lichtblitz und schon war das Schicksal verschwunden.

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