Kapitel 17

Geplagt von Unverständnis, welches sie wie ein tiefer Dorn quälte, lief S-203 in der kleinen Zelle auf und ab. Ihr Zeitverständnis hatte sich bereits wie ein Luftballon im Wind von ihr verabschiedet. Doch es mussten sicher Stunden vergangen sein, während sie nichts als Warten konnte. Elend langes, aussichtsloses und langweiliges Warten.

Das Schicksalswesen konnte die Gefühle in ihrem Inneren nicht einmal ansatzweise bändigen. Wie aufgeregte Eichhörnchen mit ADHS wuselten sie durch ihren Körper, hinterließen nichts als Chaos und raubten ihr förmlich den Verstand. Es war ihr unmöglich geworden, klar zu denken und all die Emotionen irgendwie einzuordnen.

„Sie war eindeutig da gewesen", flüsterte sie verzweifelt vor sich hin und ließ den Unfall vor ihrem inneren Auge in Dauerschleife ablaufen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie eine Gestalt vor sich gesehen, dessen war sie sich sicher.

Das Auto hatte sich aus dem Nichts heraus plötzlich überschlagen. Sie erinnerte sich an eine unerträgliche Stille, eine sie fast einsaugende Dunkelheit. Nachdem sie endlich wieder ihre Augen hatte aufschlagen können, blickte sie geradewegs in das kühle Blau der Augen, welche sie finster und voller Abneigung anstarrten. Und auch wenn das Wesen einen Wimpernschlag später verschwunden war, erinnerte sie sich an das Gesicht, als wäre es erst gestern passiert. 

„F-67", hauchte sie und blieb abrupt stehen. „Sie war es. Sie stand direkt vor uns auf der Fahrbahn", sagte sie in den leeren Raum hinein, um sich selbst mit dieser Theorie zu bestärken. „Aber wieso?", fragte sich die Rothaarige kopfschüttelnd, während ihr Kopf all die Möglichkeiten durchging. F-67 hatte nichts als Hass ausgestrahlt.

„Aber wieso sollte ein gefühlsarmes Wesen derart negativ fühlen können?"

Ihre Frage blieb unbeantwortet und wurde vom Knarzen der Tür aus ihrem Sinn getrieben. Erschrocken blickte sie zu den beiden Fügungswesen, welche ihr mit einer Armbewegung den Weg hinaus zeigten.

„Der Prozess beginnt in Kürze", sagte der Größere der beiden ohne jegliches Gefühl in der Stimme. S-203 hatte nicht die Absicht, mit ihnen zu diskutieren und sie um eine Befreiung anzuflehen. Die beiden orangegekleideten Gestalten wirkten wie aus dem Regelwerk entsprungen und luden nicht zum Verhandeln ein.

Gehorsam ging sie der Aufforderung nach und folgte dem kahlen, weißen Gang linksherum. Sie gingen vorbei an geschlossenen Türen, welche wohl ebenfalls Fügungswesen in sich gefangen hielten, welche noch auf ihren Prozess warteten.

Erneut spürte S-203 ihren Herzschlag bis zum Hals hinauf, als hätte sie noch immer das überlebenswichtige Organ in sich. Sie konnte das einengende Gefühl in ihrer Magengrube kaum beschreiben, derart unangenehm war es für sie.

Einer der Wesen, welche sie beinahe wie eine Schwerverbrecherin abführten, öffnete die große, gläserne Tür vor ihnen. Milchige Gestalten waren in die beiden Flügel der Türen ins Glas eingelassen und zeigten die Fügungswesen weit oben in den Wolken. Unter ihnen waren die unzähligen, kleinen Menschen in Form von Silhouetten dargestellt.

Das Quietschen der Tür hallte in dem riesigen Saal wider. Staunend reckte das Schicksalswesen ihren Kopf in die Höhe, um die mächtigen Säulen zu bewundern, welche unendlich weit hinaufragten. Über ihnen erstrahlte der Himmel in seinem kräftigsten Hellblau. Neben ihnen zogen ganz langsam Wolkenschlieren durch die Luft.

Ein kurzer Schubs wurde ihr gegeben, da ihre Füße vor Staunen stehengeblieben waren. Eilig folgte S-203 den beiden Wesen über den steinernen Boden. Vor sich erblickte sie eine kleine, breite Treppe, welche zu einem Podest – einer Art Bühne – führte. Dort oben erkannte sie sofort F-67, welche sie nicht einmal eines Blickes würdigte.

Abermals schoss der Zorn in ihr hoch. Sie wollte ihr all die in ihr umherschwirrenden Anschuldigungen an den Kopf werfen und die Wahrheit aus ihr herauspressen. Doch all diese Worte waren fest in ihrem Inneren verankert und wagten sich wegen der Angst vor Konsequenzen nicht heraus.

Unsanft wurde sie kurz vor der Treppe auf einen Stuhl gedrückt, wo sie nun auf den Beginn des Prozesses warten sollte. Neben der älteren, strengen Frau aus der Führungsebene saß noch eine weitere Gestalt mit langem, dunklem Bart.

„S-203, guten Tag", sprach er mit seiner tiefen Stimme und nickte ihr kurz zu.

„Ich bin F-2 und werde heute das Urteil fällen", erklärte er ihr und blickte auf, um die nächsten Wesen zu begrüßen. Auch das Schicksal wendete ihren Kopf schlagartig nach hinten, um seinem Blick zu folgen. Als sie am Eingang des großen Saales die dunklen, verwuschelten Haare erkannte, vergaß sie die gesamte Situation, in welcher sie sich doch gerade befand.

Ganz automatisch – als würde ihr Körper ferngesteuert werden – erhob sie sich von ihrem zugewiesenen Platz und begann einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als wäre sie ein Mond, welcher von seiner Umlaufbahn abgekommen war und nun endlich wieder seinen Planeten gefunden hatte. Die neuen und überaus starken Emotionen in ihr trieben sie zu Z-11, dessen Hände hinter seinem Rücken festgehalten wurden.

„Hey, bleiben Sie hier", rief einer der Kontrolleure in Orange und griff blitzschnell nach dem Handgelenk des Schicksalswesens.

„Setzen Sie sich bitte wieder, der Prozess beginnt in Kürze", sprach er ohne Mitgefühl und drückte sie kraftvoll und gegen ihren Willen auf das Holz zurück.

„Grace, es tut mir leid. Ich hätte dich gar nicht erst aufsuchen dürfen. Dann hättest du nicht weiter Nachforschungen angestellt und wir wären heute nicht hier", gab sich Z-11 laut die Schuld für ihre missliche Lage. Auch er wurde – nur wenige Meter neben S-203 – auf einen Stuhl gedrückt. Sehnsuchtsvoll blickte sie zu ihm hinüber, während ihr Körper regelrecht rebellierte und alles riskiert hätte, um zu ihm zu können.

„Gib dir nicht die Schuld. Ich hätte meine Erinnerungen sicher auch ohne dich zurückerlangt. Außerdem können wir nichts dafür. Wir sind nicht die Schuldigen und haben erst recht nichts falsch gemacht", sprach sie ernst und beinahe anklagend, als sie ihren Kopf nach vorn wandte, um ihre Worte geradewegs an F-67 zu richten. Diese hob ihren Blick und schaute sie mit ihrer unschuldigen Maske an.

„Ich bitte um Ruhe. Der Prozess beginnt nun und ich verkünde die Anklagepunkte", umging die ältere Dame die indirekte Beschuldigung des Schicksals gekonnt. Kopfschüttelnd verstummte S-203 und hielt die Wut in sich wie einen wilden Hund an der Leine. Völlig gefühlskalt griff F-67 nach einer Schriftrolle, auf welcher sie all die verbotenen Taten aufgelistet hatte und begann diese nun laut vorzulesen. Von ihrem höheren Standpunkt aus wirkte sie den beiden – wie hilflose Gazellen auf ihre Stühle gedrängten – Wesen weitaus überlegen.

„Ich klage hiermit das Fügungswesen S-203 aus der Abteilung Schicksal an. Sie hat sich wider den Regeln aller Fügungswesen über ihr ehemaliges menschliches Leben informiert. Dafür hat sie sich unerlaubterweise Zugang zu den Wissenden Hallen verschafft, zu welchen ausschließlich Arbeiter aus der Verwaltung Zutritt haben. Zudem hat sie andere Fügungswesen versucht anzustiften und sie gegen das System aufzuhetzen und auf ihre Seite zu ziehen. Neben all den Erinnerungen besitzt sie zusätzlich auch die Fähigkeit des Fühlens, welche sie als Fügungswesen unbrauchbar macht."

Empört stand das Schicksalswesen von ihrem Stuhl auf. Der Zorn brodelte in ihr wie das Innere eines Vulkans und drohte bei jeder weiteren Anschuldigung überzulaufen.

„Grace, nicht", flüsterte Z-11, welcher ihr die unbändige Wut schlagartig angesehen hatte. Doch selbst seine beruhigende Stimme, welche einem das Gefühl gab, dass alles – ganz egal wie schlimm es gerade erschien – wieder gut werden würde, konnte sie nicht aufhalten.

„JA, ich kann mich erinnern. Ja, ich fühle wie ein Mensch und ja, meine Vergangenheit interessiert mich mehr als meine Arbeit als Schicksal. Doch ich kann nichts dafür. Ich habe nicht darum gebeten, all diese Emotionen in mir tragen zu müssen. Irgendetwas muss in eurem so perfekten System also falsch gelaufen sein!"

Voller Ehrgeiz – diesen Prozess für sich zu gewinnen – starrte die Rothaarige auffordernd zu der strengen Dame auf dem Podest vor sich. Zur Verdeutlichung hatte sie kurz mit der Hand auf ihre Brust geschlagen und ließ sie nun an eben jenem Fleck liegen. Sie wollte eine Antwort von ihr erhalten. Sie wollte die Wahrheit aus ihrem Mund hören.

„In unserem System ist sicher kein Fehler passiert. Die Aufzeichnungen der Seelensammler zu diesem Tag sprechen von keinen besonderen Vorkommnissen. Die Enterinnerung ist also reibungslos verlaufen und somit ist eure Erinnerung nur durch eure verbotene Hartnäckigkeit und Neugierde zurückgekehrt. Oder hast du Beweise, die dagegensprechen?"

Beinahe spottend blickte F-67 auf das Schicksal hinab und ließ sie automatisch ein wenig kleiner werden. Die Ungerechtigkeit ließ sie beinahe verrückt werden und bescherten ihr Magenschmerzen.

„Nein, aber –", doch das Wesen aus der Führungsebene unterbrach sie siegessicher.

„Na siehst du. Es gibt keine Beweise dafür. Also setz dich wieder hin."

Die letzten Worte trieften vor Abscheu. Noch immer konnte sich S-203 nicht erklären, weshalb diese Frau in Orange sie derart verachtete. Hatte sie ihr jemals etwas getan?

„Und auch das Zufallswesen Z-11 klage ich hiermit an. Auch er besitzt Erinnerungen an sein damaliges Leben, ist imstande zu fühlen und hat die hier anwesende S-203 aufgesucht, um in ihr ebenfalls die Neugierde zu wecken. Die beiden haben sich gegenseitig gedeckt und beim kleinsten Anzeichen der Abnormalität nicht der Führungsebene gemeldet. Sie können jeweils nicht akzeptieren, dass ihr gemeinsames Leben als Menschen bereits zeitig endete. Doch das Leben und vor allem der Tod sind nicht verhandelbar und müssen als das, was sie sind und waren, angenommen werden. Hier auf der Erde gibt es keine Sonderbehandlung. Einmal Fügungswesen und es gibt kein zurück in das ehemalige Leben. Da beide also nur noch durch ihre Gefühle geleitet werden und dementsprechend regelwidrig handeln, können sie ihrer Aufgabe als Fügungswesen nicht mehr nachgehen. Aufgrund dieser Tatsache fordere ich die höchste Strafe, da sie unser System in Frage gestellt haben und andere Fügungswesen davon überzeugen wollten. Es würde mich nicht wundern, wenn sie damit eine Rebellion gegen Gott Yzandiel anzetteln wollten. Daher setzte ich mich mit meiner ganzen Macht für einen Austritt der beiden aus dem Reich der Fügungswesen ein. Ich fordere einen Gedächtnisverlust und ein letztes, langes Leben als Menschen voller Elend und Leid."

Entsetzt blickte S-203 hinauf zu F-67. Ihre Augen wuchsen beinahe auf das Doppelte heran, derart schockiert war sie von ihren Forderungen. Panik stieg in ihr auf, da sie keineswegs voller Elend und Leid leben wollte. Womit hatten sie dieses Urteil verdient?

„Das könnt ihr nicht machen. Eine Rebellion anzetteln? Das ist doch totaler Quatsch!", rief sie laut und suchte wie eine Ertrinkende nach einer Rettung. Doch sie hatte keine weiteren Argumente, keine Beweise. Das kaum sichtbare Lächeln der Klägerin entging ihr keineswegs und lösten eine unheimlich unangenehme Übelkeit in ihr aus. Was spielte sie nur für ein falsches Spiel?

„S-203 hat recht! Wir beide haben uns nicht ausgesucht, diese menschlichen Gefühle und Erinnerungen zurückzuerlangen. Wir haben nicht die Absicht, andere Fügungswesen auf unsere Seite zu ziehen oder euer System anzuzweifeln. Wenn ihr es uns erlauben würdet, würden wir sogar ganz vorschriftsmäßig unserer Arbeit weiter nachgehen."

Mit Stolz gefüllten Augen blickte das Schicksalswesen zu dem Zufall hinüber, welcher sich nun ebenfalls zu Wort gemeldet hatte.

„Und selbst wenn ihr jemanden bestrafen wollt, dann sollte ich das sein. Ich war schließlich derjenige, der S-203 aufgesucht hat und somit ihre Neugierde nach dem Menschsein geweckt hatte. Sie kann nichts dafür und trotzdem nimmt sie ihre Arbeit mehr als ernst und ist sehr viel leidenschaftlicher dabei als manch andere Wesen aus der Abteilung Schicksal. Oder vielleicht gerade deshalb, weil sie mitfühlend und romantisch ist, kann sie die Menschen viel besser verstehen und zueinander führen. Wollt ihr solch eine gute Arbeitskraft tatsächlich bestrafen und verlieren?"

Voller Inbrunst hatte Z-11 seine Worte vorgetragen. Sein Inneres schäumte geradewegs vor Aufregung. Er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, um S-203 zu beschützen und vor einem elendigen Leben zu bewahren. Für sie würde er sogar dutzende Leben voller Leid akzeptieren und durchstehen. Doch er bekam lediglich ein verächtliches Schnauben entgegnet.

„Glaubst du wirklich, dass du dich heldenhaft für sie opfern kannst?", fragte F-67 ihn kopfschüttelnd.

„So menschlich", flüsterte sie abfällig zu sich selbst, als könne sie seinen Gutmut keineswegs nachempfinden. „Wie du sicher mitbekommen hast, seid ihr keine Menschen mehr. Euer Urteil wird nicht mittels Gefühle oder persönlichen Ausnahmen gefällt. In unserer Welt gelten andere Regeln und diese sind unumgänglich. ALLE müssen sich an diese Regeln halten und wer dies nicht tut, muss nun einmal mit den Konsequenzen rechnen. Ihr beide könnt nicht einfach von einer Sonderbehandlung ausgehen."

Hilflos und zum Schweigen getrieben starrte Z-11 zu S-203 hinüber. Ihm fehlten die guten Aussagen, die Argumente gegen ein solch übertriebenes Urteil. Er hatte S-203 so gern schützen wollen, doch musste sich nun enttäuscht eingestehen, dass er nicht dazu imstande war. Sie hatten gegen das System verloren.

„Das stimmt. Ich denke, du hast vollkommen recht, F-67", drang die selbstsichere Stimme des Schicksals plötzlich an seine Ohren. Diese war erneut von ihrem Platz aufgestanden, doch dieses Mal ließ sie sich nicht noch einmal zurückdrängen. Fragend wanderte die Augenbraue des Wesens aus der Führungsebene hinauf und sie betrachtete das gefühlvolle Schicksalswesen unter sich.

„Wir ALLE sollten uns an diese Regeln halten. Also auch DU", sprach die Rothaarige mit kraftvoller Stimme weiter. Ihr war bewusst, dass sie keinerlei Beweise hatte, doch ihre Unsicherheit und das Zittern in der Stimme, welches sie mit sich brachte, verschwanden mit jedem weiteren Wort. S-203 konnte der älteren Dame genau ansehen, dass sie sich vor ihren folgenden Worten fürchtete. Als könne sie in wenigen Sekunden die gesamte Wahrheit aufdecken und sie auffliegen lassen.

„Was meinst du?", zischte F-67 kaum hörbar – auch wenn sie ganz und gar nicht wissen wollte, was das Schicksalswesen mit ihrer Aussage meinte.

„Ich meine damit, dass du vollkommen recht hast. Die Regeln wurden gemacht, damit das Gleichgewicht in der Welt weiter bestehen kann und nichts ins Chaos stürzt. Wir beide haben gegen die Regeln verstoßen und werden dementsprechend bestraft. Doch was ist mit dir?"

S-203 legte so viel Überzeugung und Sicherheit in ihre Stimme, dass es F-67 beinahe den Angstschweiß ins Gesicht trieb.

„Auch du solltest für deine Taten bestraft werden. Dieser Unfall, unser damaliger Menschentod war keineswegs natürlichen Ursprungs. Du warst dort, nicht wahr? Du hast alles mit angesehen, DU hast ihn verursacht. Du hast uns sterben lassen."

Die letzten Worte flüsterte S-203 nur noch vor sich hin, da es schon schwer genug war, sie überhaupt über die Lippen zu bringen. Schließlich hatte sie keine Beweise und war sich noch nicht einmal sicher, ob ihre Anschuldigung überhaupt korrekt war.

„Was?", fragte F-67 schockiert und rang beinahe nach Luft. Doch genau wie S-203 besaß auch sie keine Lungen zum Atmen.

„Du fühlst auch – genau wie wir. Also erzähle uns allen endlich die Wahrheit!" Auffordernd starrte sie nach oben, während der große Saal von einer plötzlichen Stille heimgesucht worden war. Auch für Z-11 kamen ihre Worte unvorhersehbar, da er sich nicht daran erinnern konnte, dass F-67 bei diesem Unfall anwesend gewesen war.

„Grace, was erzählst du da?", stammelte er völlig unwissend und verständnislos.

„Ich erzähle die Wahrheit. Außerdem lag Z-11 falsch mit seiner Aussage, dass er allein die Schuld trägt. Die Begegnung mit ihm war nicht der ursprüngliche Auslöser für meine Erinnerungen. Das warst du, F-67. Als ich dich das erste Mal wieder erblickte, erinnerte ich mich an den Unfall. Du warst der Auslöser! Du trägst ebenso die Schuld und solltest genauso verurteilt werden. Denn schließlich gibt es hier bei uns keine Ausnahmen und allein die Regeln zählen. Das waren doch deine Worte, nicht wahr?"

Nach Worten ringend krallten sich F-67s Finger in das Blatt Papier, von welchem sie die Anklagepunkte vorgelesen hatte.

„Das ... das ist doch totaler Schwachsinn", stotterte sie unsicher hervor und versuchte den misstrauischen Blicken der anderen Fügungswesen auszuweichen. „Lenke nicht von deinem Urteil ab. Ich habe keine Erinnerungen, keine Gefühle, ich habe nichts Falsches getan und Beweise hast du so oder so nicht. Also Schluss jetzt mit den Anschuldigungen. Ich fordere hiermit endgültig die höchste Strafe für S-203 und Z-11."

Eilig wendete F-67 ihren Blick zur Seite, wo das ihr übergeordnete Wesen saß und all die Anklagepunkte mitgeschrieben hatte. Langsam erhob sich der Ältere von seinem Stuhl und räusperte sich kurz.

„Nun gut. Ich denke, es stehen hier noch ein paar Anschuldigungen im Raum, welchen anschließend nachgegangen werden sollte. Was aber sicher bewiesen ist, ist das regelwidrige Verhalten der beiden hier anwesenden Fügungswesen S-203 sowie Z-11. Beide haben dies nicht bestritten und daher verurteile ich sie zur Abgabe ihrer Arbeit, zur Entnahme all ihrer Erinnerungen und zu einem letzten Leben als Menschen auf der Erde. Anschließend werden ihre Seelen in der Seelenbibliothek verwahrt und sie erhalten den endgültigen Tod."

Ein erleichtertes Lächeln stahl sich in F-67s Gesicht. Sie hatte gewonnen. Sie hatte ihr Ziel erreicht, indem sie die vermeintlich letzten zwei Zeugen aus dem Weg geräumt hatte.

„Nein, das ist völlig ungerecht", rief S-203 aufgelöst und wehrte sich gegen die vier Arme, die sie links und rechts gepackt hatten, um sie zum Ausgang zu schleifen. Sie hatten den Mittelgang des Saals schon zur Hälfte hinter sich, als sie sich wie ein wildes, bedrängtes Tier aus dem festen Griff riss.

„Schön, ich gratuliere dir. Du hast gewonnen", schleuderte sie die wütenden Worte hinter sich und wendete sich zurück zu F-67, welche noch immer glücklich auf ihrem kleinen Podest saß.

„Du glaubst wohl, dass du von dort oben auf uns herabschauen kannst, dass du etwas Besseres bist. Ja, alle anderen Fügungswesen sind völlig gefühlskalt und glauben, dass sie diese Unverletzlichkeit unglaublich stark und besonders sein lässt. Aber wisst ihr", sprach S-203 gefüllt mit Emotionen und ließ ihren Blick einmal durch den Raum schweifen, um jeden mit ihrer Botschaft anzusprechen.

„Ihr liegt vollkommen falsch. Mit diesem Denken macht ihr euch selbst etwas vor, denn ohne die Gefühle seid ihr nicht stark. Ihr seid nicht einmal besonders, da ihr genau wie jeder andere seid. Wir hingegen, wir fühlen."

Ein mächtig starkes und selbstsicheres Gefühl ließ den Mut in S-203 immer weiterwachsen. Erneut klopfte sie sich mit der Handfläche auf die Stelle ihres ehemaligen Herzens.

„Wir fühlen wie die Menschen. Für euch mag das schwach wirken, dabei sind die Gefühle genau das, was sie stark machen. Die Menschen sind viel stärker als ihr. Sie fühlen all das Gute und Schlechte. Sie überstehen die schlimmsten Momente und geben trotz dessen die Hoffnung nicht auf und lassen sich von den positiven Gefühlen weiter durchs Leben treiben. Sie sind erfinderisch, leidenschaftlich, wahre Überlebenskünstler. Nicht zu vergessen die Liebe. Ganz egal ob zwischen Liebenden, zwischen Freunden oder in der Familie. Die Liebe befähigt die Menschen dazu Großartiges zu schaffen, über sich hinaus zu wachsen. Mit all diesen Emotionen müssen sie sich Tag für Tag herumschlagen, während ihr hier in eurem Wolkenpalast lediglich die Regeln befolgen müsst. Ihr müsst euch nicht um eure Zukunft sorgen, müsst keinen Verlust verkraften, keine unlösbaren Probleme lösen oder Liebeskummer überstehen. Ihr seid hier nicht wirklich die Starken, IHR seid die Schwachen. Also merkt euch das ein für alle Mal. Gefühle zuzulassen ist die wahre Stärke. Und wenn ich weiter darüber nachdenke, dann trete ich liebend gern mein letztes Leben als Mensch an. Viel lieber bin ich ein eigenständiger Mensch mit Gefühlen, mit eigenem Willen und mit einem wahrhaftigen Leben als weiter in dieser gefühlskalten Welt – umgeben von Unverständnis und ohne jeglichen Spaß und Liebe – zu arbeiten. Dieses Menschenleben wird für mich keine Strafe sein, sondern vielmehr eine zweite Chance!"

Atemlos kam das Schicksalswesen zum Ende ihrer kleinen Ansprache. Eine undurchdringliche Stille hatte sich über den Saal gelegt, während alle Augenpaare auf S-203 gerichtet waren. Auch wenn sie soeben voller Vorfreude von ihrem zukünftigen Leben gesprochen hatte, so hatte sie dennoch Angst davor. Ihr war bewusst, dass die Zukunft wohl oder übel eine Überwindung werden würde, doch die Hoffnung in ihr schenkte ihr die Kraft, voller Zuversicht darauf zu blicken.

Zwar hatten die Fügungswesen in Orange ihr gebannt zugehört, doch ob sie ihre Worte auch tatsächlich verstanden und sich zu Herzen genommen hatten, konnte sie nicht sagen. Ein Murmeln ging durch den Raum und langsam erwachten alle aus ihrer Starre.

„Führt sie nun endlich ab", rief F-67, ohne auf die bedeutungsvollen Worte des Schicksals einzugehen. Erneut packten die beiden Kontrolleure nach den Armen des Schicksals und auch Z-11 wurde wenige Meter vor ihr in Richtung der Ausgangstür getrieben. Resignation übernahm ihren Hüllkörper, da sie nun nichts mehr ausrichten konnte. Die beiden verurteilten Fügungswesen konnten nur noch ihrem Ende entgegenblicken.

Kurz bevor sie die gläserne Pforte erreicht hatten, wurden die Flügeltüren jedoch kraftvoll zur Seite aufgeschlagen und ein schwarzgekleideter, junger Mann trat herein. Seine dunkle Kleidung zeigte automatisch seine Zugehörigkeit in die Abteilung der Seelensammler.

„Ich möchte aussagen", ertönten seine lauten Worte bestimmt durch die Wolkenhalle. Beinahe wie in Zeitlupe trat er durch den Türrahmen, während sein schwarzer Mantel hinter ihm herschwang und musste für S-203 und Z-11 wie ein Retter in letzter Sekunde erscheinen.

„Es ist mein Fehler, dass die beiden ihre Erinnerung nicht verloren haben."

Ein Raunen ging durch die Wesen, nachdem er seine unglaubliche Tat gestanden hatte.

„Nein", entkam es F-67 fast panisch. S-203 blickte völlig sprachlos zwischen dem Seelensammler und der schockierten Frau aus der Führungsebene hin und her. Niemand verstand so recht, was soeben vor sich ging oder konnte die plötzliche Wendung nachvollziehen.

„Ich bin SS-9927 aus der Abteilung der Seelensammler und es ist meine Schuld", wiederholte er erneut, um zu verdeutlichen, dass er es ernst meinte und um sicher zu gehen, dass ihn auch alle richtig verstanden.

„Der 2. August 1966 war mein allererster Arbeitstag als Seelensammler. Ich war den ganzen Tag über mit meinem Ausbilder SS-104 unterwegs. Bis dahin gab es keinerlei ungewöhnliche Ereignisse, doch bei den letzten beiden Seelen, welche wir einsammelten, hatte es einen tragischen Unfall gegeben. Ich erinnere mich bis heute daran, dass das Auto völlig einsam verkehrtherum auf der Straße lag. Weit und breit waren keine Menschen, keine Tiere zu sehen. Die Lichter der Straßenlaternen waren allesamt kaputt. Das Auto wies keinerlei Hinweise auf die Unfallursache auf und dann erblickte ich für den Bruchteil einer Sekunde eine Frau. Eine ältere Frau in Orange – aus der Führungsebene."

Seine ehrlichen Worte hallten in dem Saal wider und ließen F-67 erbleichen.

„Das hätte doch sicher jeder gewesen sein können", gab diese von ihrem Podest aus völlig empört von sich. In ihrem Inneren tobte es regelrecht, da ihre Sicherheit von zuvor nun vollständig von der Furcht abgelöst worden war.

„Sie waren es. Ich erinnere mich an Ihr Gesicht. Damals hatte es mich ebenso angstvoll angeblickt wie jetzt auch. Als mein Ausbilder anschließend den Bericht änderte und die mysteriöse Situation als gewöhnlichen Wildunfall darstellte, wurde mir langsam klar, dass etwas ganz gewaltig falsch lief. Er versuchte diesen Vorfall zu vertuschen. Wahrscheinlich wäre dies auch nie wieder problematisch geworden, wenn ich anschließend nicht diesen dussligen Fehler begangen hätte. Beim Enterinnern fielen mir zufällig zwei Seelen vom Förderband, welche ich schnell, ohne nachzudenken, zurück zu den anderen Seelenkugeln legte. SS-104 und ich bewahrten diesen kleinen Fauxpas als Geheimnis. Ich hatte Angst, bereits am ersten Tag einen wichtigen Fehler begangen zu haben und meine Arbeit viel eher als gedacht wieder zu verlieren. Und auch SS-104 wollte an jenem Tag nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es war schon genug passiert, was vertuscht werden musste und auch ihm seine Daseinsberechtigung abgesprochen hätte."

„Ich hatte also recht? Du warst an jenem Tag dort", rief S-203, welche sich durch die Worte des Seelensammlers weiter bestärkt fühlte. Noch vor wenigen Minuten hatte sie all ihre Hoffnung aufgegeben, hatte die Ungerechtigkeit gezwungenermaßen akzeptiert, doch nun bekam sie die Chance das große Mysterium aufzulösen.

„Ihr redet doch völligen Unsinn. Und weshalb solltest du dies all die Zeit für dich behalten haben und gerade jetzt damit herausrücken? Du steckst doch sicher mit den beiden unter einer Decke", zeterte F-67 und versuchte sich krampfhaft herauszureden und ihren Kopf zu retten.

„Ich habe das Geheimnis all die Jahre in mir getragen, weil ich schlicht Angst hatte. Ich wollte meine Arbeit als Fügungswesen nicht wegen so etwas verlieren. Ich wollte alles richtig machen, ein gewissenhafter und guter Arbeiter sein, wie man es von mir verlangte. Doch mit diesem Schweigen war ich das genaue Gegenteil meiner Wunschvorstellung. Auch ich habe mich somit nicht an die Regeln gehalten und sollte dafür angemessen bestraft werden. Nie wieder möchte ich derart feige sein und nur an mich denken. Daher bin ich heute hier, um diese beiden unschuldigen Seelen nicht für meine Fehler bestrafen zu lassen. Alles, was ich bisher erzählt habe, entspricht absolut der Wahrheit. Das ist aber noch nicht alles", fuhr der junge Seelensammler fort und ignorierte dabei die drohenden, funkelnden Augen der älteren Dame, deren gebautes Kartenhaus aus Lügen gerade im Inbegriff war, endgültig einzustürzen.

„Kurz darauf habe ich ein Gespräch zwischen meinem Ausbilder SS-104 und F-67 mitbekommen. Sie haben einen Deal geschlossen, um sich gegenseitig zu decken. SS-104 hat sich bereit erklärt, ihre Schuld an dem Unfall zu vertuschen und die Seele der Schicksalsfrau S-14 verschwinden zu lassen, welche das Pärchen Grace und James zusammengebracht hatte. F-67 hingegen wollte versuchen, nicht mit weiteren Taten aufzufallen, da auch bei ihrer Seele damals ein Fehler passiert war und sie ihre Erinnerungen und Gefühle nie ganz verloren hatte. In seiner ersten Woche als Seelensammler war SS-104 genau das gleiche Missgeschick passiert wie mir. Auch wenn ich als Seelensammler nicht dazu berechtigt bin, möchte ich also F-67, SS-104 sowie mich selbst für unsere regelwidrigen Taten anklagen! Wir haben gegen die Gesetze Gott Yzandiels verstoßen und sollten nicht weiter für ihn arbeiten dürfen."

Kreischende Widerworte hallten durch den großen Saal, als F-67 wie ein aufgebrachtes Huhn auf ihrem Podest aufsprang.

„Lügen! Dreiste Lügen", fluchte sie und wirkte ganz und gar nicht mehr wie die ruhige, strenge Dame aus der Führungsebene. Jedes noch so gefühlskalte Wesen hätte ihr ansehen können, dass es in ihrem Inneren geradezu brodelte. Dass auch sie FÜHLTE. Noch immer arbeiteten die Köpfe der beiden verurteilten Liebenden auf Hochtouren. Eine solche Wendung hatten sie unter keinen Umständen erwartet.

Kopfschüttelnd blickte S-203 zu dem aufgebrachten Wesen in Orange, dessen Glaubwürdigkeit nun auf ein Minimum geschrumpft war. Beinahe erschöpft von ihren fruchtlosen Bemühungen sich herauszureden, stoppte F-67 und schaute voller Schock in die entsetzten Gesichter der anwesenden Wesen.

Schlagartig wurde ihr klar, dass ihre unzügelbaren Emotionen ihren Verstand vernebelt hatten und sie aus ihrer Maske herausgetreten war. Jeder hatte ihren Gefühlsausbruch mit angesehen und niemand würde ihren Worten nun weiter Glauben schenken. Wie hatte sie sich von den Anschuldigungen nur so sehr provozieren lassen können?

Ihre schlagartigen Gefühlsexplosionen, welche sie nur schwer im Griff hatte, hatten sie schon einmal zu einer grauenhaften Tat getrieben – dem Unfall in jener verregneten Nacht.

„Ihr habt Zacharys Leben zerstört!"

Schrill und voller Schmerz in der Stimme drangen die Worte an die Ohren des Schicksalswesens.

„Was?", hauchte sie flüsternd, während sie das Gesagte der älteren Frau immer und immer wieder in ihrem Kopf wiederholte.

„Bei diesem ganzen Drama ging es um Zachary?", stellte sie die Frage leise – beinahe nur an sich selbst gerichtet.

In ihrem Inneren wuchs ein Ungetüm heran, welches all ihre Freude und Liebe regelrecht in die Dunkelheit zog. Das unangenehme Gefühl wuchs mit jeder weiteren Sekunde der Realisation heran und versprühte eine Übelkeit in ihrer Magengrube.

„Ach, du erinnerst dich also noch an ihn?", kam es schnippisch von F-67. Die beiden Fügungswesen vergaßen vollkommen, dass sie nicht allein waren. Doch das Gespräch und die Aufdeckung der Wahrheit ließen eine Art Blase um sie entstehen, in welcher sie von nichts abgelenkt werden konnten.

„Hast du jemals auch nur ein einziges Mal darüber nachgedacht, wie dein plötzliches Verschwinden für ihn gewesen war?", fast wimmernd zitterte die Stimme der Frau in Orange. Ihr Kinn bebte, die Hände hatte sie an ihrer Seite zu Fäusten geballt.

„Zachary hat dich von ganzem Herzen geliebt! Er glaubte an die Vorstellung einer eigenen Familie. Er dachte, dass du sein Kind in dir hättest!"

Reue flackerte in den Augen des Schicksals auf. Das schlechte Gewissen zerriss sie beinahe wie ein wildes Tier von innen heraus. Wie hatte sie damals nur so verblendet und egoistisch handeln können? Sie hatte das Herz eines Mannes gebrochen, indem sie mit einem Fremden durchgebrannt war und Zachary lediglich einen Zettel hinterlassen hatte.

„Dem Hausmädchen war ebenfalls aufgefallen, dass sich deine Periode verspätete. Sie hatte in Zachary die Hoffnung gesät, dass er schon bald Vater werden würde. Es war sein Lebenstraum gewesen, Kinder zu haben, das Haus mit Leben zu füllen! Du hast ihm diesen Traum gewaltsam aus der Brust gerissen. Dir war es egal, als er völlig müde vom Leben auf dem Boden lag – zusammengekrümmt wie ein Häufchen Elend, das nie wieder das hoffnungsvolle Licht des Lebens erblicken würde. Dein Verschwinden hat ihn gebrochen, hat ihn beinahe in den Tod gestürzt! Du musstest nicht mit ansehen, wie er mit deinem Zettel in der Hand am Fenster stand – bereit zu springen. Du musstest sein Leid nicht ertragen, musstest nicht hilflos mit ansehen, wie sein gesamtes, restliches Leben den Bach herunterging."

Sprachlos schluckte das Schicksal den Kloß in ihrem Hals hinunter, welcher sich anschließend wie ein schwerer Stein auf ihr Gemüt legte. Die Last auf ihren Körper schien unerträglich. Ihre schwache Vorfreude auf ihr kommendes Leben als Mensch verpuffte schlagartig. Solch eine zweite Chance hatte sie nicht verdient. Sie hatte Furchtbares getan und hätte dafür jede Strafe angenommen.

„Du warst schwanger?", flüsterte die Stimme des Zufallsmannes unweit von ihr. Seine Frage traf sie wie ein weiterer Boxschlag in die Magengegend. Von der Trauer überflutet schloss sie kurz ihre Augen, bevor sie sich traute, Z-11 geradewegs anzusehen. Sein schmerzerfüllter Blick bohrte sich quälend in sie, doch sie begann vorsichtig zu nicken.

„Es war von dir", hauchte sie kaum hörbar und legte traurig lächelnd den Kopf schief. Ihre menschliche Seite trieb erneut die Erinnerung an Tränen in ihr Gedächtnis. Nur zu gern hätte ihr Körper all den momentanen Stress hinausgelassen, um sich davon zu befreien. Die Trauer darüber, dass sie bei dem Unfall nicht nur einander, sondern auch dieses kleine Geschöpf verloren hatten, erschütterte die beiden Seelen wie ein Erdbeben. Die Welle des Schmerzes riss sie mit sich wie ein Tsunami. Und so gern sie sich gerade mit einer trostvollen Umarmung gegenseitig gestützt hätten, durften sie dies nicht.

„Ts, es war nicht einmal von Zachary? Du hast ihn betrogen und belogen! Und niemand hier möchte sich euren romantischen Abschaum ansehen!", blaffte F-67 in das intime Gespräch hinein und legte all ihren Zorn, all ihr Leid in diese Worte.

„Genau aus diesem Grund kann ich euch Schicksalswesen nicht ausstehen. S-14 war ganz genauso. Jeder schien sie zu mögen. Alle fanden sie so hingebungsvoll, romantisch und voller Liebe. Sie war die Auserwählte, die ein 100-Prozent-Pärchen gefunden und zusammengeführt hatte. Beinahe berühmt war sie im ganzen Himmelsjenseits. Doch niemand dachte an die armen, gebrochenen Herzen, welche die Schicksale mit ihrer Arbeit automatisch entstehen lassen. Ihr denkt nur an eure Pärchen und verschwendet keinen Blick nach links und rechts. Zur Liebe gehören nicht immer nur zwei und ihr vergesst völlig, dass auch andere Personen dazugehören, deren Leben dadurch maßgeblich zum Negativen gewendet werden. Stattdessen trampelt ihr rücksichtslos deren Hoffnung zu Boden. Ihr seid nichts als Egoisten und mit der Liebe hat das nichts mehr zu tun! Zachary glaubte, in dir die wahre Liebe gefunden zu haben. Er hatte all sein Geld gesammelt, um dir deine Märchenhochzeit zu ermöglichen, um dir das Leben in meinem Haus so gemütlich wie nur möglich zu machen und um eurem kommenden Kind die beste Zukunft zu schenken. Und wie dankst du ihm dafür? Verschwindest wie ein Feigling mit dem Kind eines Fremden im Bauch, nachdem du ihm all die Monate die perfekte Beziehung vorgegaukelt hast. Hast du auch nur ein Mal darüber nachgedacht, wie es ihm nach deinem Brief erging?"

Fast schluchzend blickte F-67 durchdringend in S-203s Augen. Die überkochenden Emotionen ließen sie plötzlich viel älter wirken – beinahe wie eine Großmutter. Wie Schuppen fiel es dem Schicksal von den Augen.

„Die Großmutter", flüsterte sie leise die Antwort aller Fragen vor sich hin.

„Du warst Zacharys Großmutter, die ihn wie einen Sohn aufgezogen hatte", sprach sie die Worte viel mehr wie eine Feststellung als eine Frage aus.

„Du hast deine Erinnerungen genau wie wir durch einen zufälligen Fehler behalten und hast weiter als Fügungswesen ein Auge auf deinen Enkel gehabt!", klärte sie weiter die Zusammenhänge auf, welche gerade in ihrem Kopf immer mehr Gestalt annahmen.
„Du hattest ihm alles bedeutet", sprach sie leise und verspürte auf einmal Mitleid mit F-67. Plötzlich konnte sie ihren Schmerz, all die Wut ihr gegenüber verstehen. Und das schlechte Gewissen hüpfte unentwegt weiter Trampolin in ihr.

„Und er auch mir. Er war alles für mich", gab das ältere Wesen zu und ließ erschöpft ihren Kopf hängen.

„Was ist aus ihm geworden?", wagte das Schicksal zu fragen. Sie hatte Angst vor der Antwort und konnte nicht einmal sagen, ob sie sich tatsächlich dafür interessierte oder ob sie lediglich auf eine positive Antwort hoffte, um ihr Gewissen damit ein wenig zu beruhigen.

„Nach all dem wagst du es tatsächlich, so dreist nach seinem Werdegang zu fragen?" Schnaubend schüttelte F-67 ihren Kopf.
„Aber gut, ich kann es dir verraten. Als Zachary von deinem Verschwinden erfahren hatte, stand er am Fenster – bereit sein Leben zu beenden. Aber er hat es nicht getan. Denn die Hoffnung, du würdest doch noch zurückkommen und dass alles nur ein böser Traum wäre, konnte er nie ganz aufgeben. Sein ganzes Leben lang hielt er daran fest, dass er keine Bessere finden könnte, dass du die Richtige warst. Nachdem er von deinem Tod erfuhr, fiel er in ein weiteres großes Loch, aus welchem er es nie wieder herausschaffte. Er gab sich die Schuld dafür, weil er dich nicht aufgehalten hatte, weil er vorher keine Anzeichen dieser kommenden Flucht wahrgenommen hatte. Trotz seines großen Kinderwunsches bekam er nie Kinder, heiratete nicht und blieb allein. Sein Leben wurde geradewegs vom Pech verfolgt. Er verlor das Haus, seinen Job, sein Geld. Und jetzt, jetzt lebt er noch immer sein tristes, armseliges Leben, welches man nicht einmal seinem größten Feind wünschen würde."

Von der nicht zufriedenstellenden Antwort beinahe erschlagen, schluckte das Schicksal schwer.

„Er lebt noch immer? Er müsste jetzt schon auf die 90 zugehen, nicht wahr?", fragte sie reuevoll und mit sanfter Stimme. Nickend bejahte F-67 dies.

„Ich weiß, dass ich einen Fehler begangen habe", begann S-203 zu erklären, auch wenn ihr die Worte nur schwer über die Lippen kamen.

„Ich kann mein Verhalten nicht rückgängig machen. Ja, ich hätte die Beziehung zu Zachary erst gar nicht eingehen sollen. Mir war von Anfang an klar, dass ich ihn nie aufrichtig lieben könnte. Ich möchte meinen Vater auch gar nicht als Ausrede vorschieben, welcher mich zu der Ehe gedrängt hatte. Ich hätte mich immer noch dagegen entscheiden können. Zachary erschien mir damals nach James Verschwinden als die beste Wahl. Ich war bereit, meine Lebensträume zu opfern, um mit ihm das vorbestimmte Leben zu leben. Niemals hätte ich geglaubt, dass James eines Tages wieder vor unserer Tür auftauchen würde. Das Schicksal hatte uns wieder zueinander geführt und die unfassbar starken Gefühle als 100-Prozent-Pärchen verblendeten meine Sicht auf die Beziehung zu Zachary. Ich wollte ihm in keiner Sekunde absichtlich Schmerzen zufügen. Ich war zu dumm, um zu verstehen, dass ich mit ihm hätte reden müssen. Dass mein plötzliches Verschwinden lediglich eine feige Flucht darstellte. Diese Flucht hatte nichts direkt mit ihm zu tun. Ich weiß, dass es dieser Fakt nicht weniger schlimm macht, dass es dich auch nicht vertrösten wird. Ich wollte einfach nur raus aus den Ketten dieses Lebens. Ich wollte fort – nicht unbedingt von Zachary – sondern von den Verpflichtungen, von meinen Eltern und ihren konkreten Vorstellungen von meinem Leben. Und du hast auch recht damit, dass wir Schicksalswesen uns lediglich immer nur auf zwei Menschen konzentrieren. Das ist nunmal unsere Aufgabe und womöglich hat Zachary noch immer die Chance, seine eigene wahre Liebe zu finden. Eine, die ihn schätzt und aufrichtig liebt, so wie er es verdient hat."

Verächtlich schnaubte F-67. Sie konnte sich in keinster Weise vorstellen, dass sich der in die Jahre gekommene Zachary mit seinen 85 Jahren noch auf eine neue Beziehung einlassen würde. Nicht nachdem, was er alles erlebt hatte. Der schmerzhafte Dorn saß viel zu tief, sodass sie nie über das leidvolle Leben ihres Enkels hinwegkommen würde. Sie könnte dem verurteilten Pärchen nie verzeihen. Niemals.

So sehr sie es auch gern akzeptiert und ihre entschuldigenden Worte angenommen hätte, um endlich all den Kummer ziehen zu lassen, konnte sie es nicht. Sie war zu verbittert, die Zeit hatte sie stur werden lassen und hatte all die Warmherzigkeit, die sie einst versprühte, aus ihrem Körper getrieben.

„Aber du musst dir eingestehen, dass es nicht allein unsere Schuld oder die des Schicksalswesens S-14 gewesen war. Auch wenn du es dir vielleicht nur schwer eingestehen kannst, aber auch du hast zu seinem Leid beigetragen. Wieso hast du uns an diesem Tag sterben lassen?", die Frage kam keineswegs vorwurfsvoll von S-203. Sie flüsterte die Worte vielmehr voller Mitleid.

Natürlich verspürte sie einen großen Groll, da ihr Leben nicht auf diese Art hätte enden müssen oder gar dürfen. Doch sie hatte diese Tatsache mittlerweile akzeptiert, da ihr bewusst war, dass die Zeit nicht zurückgedreht werden konnte. Das Leben verlief stets vorwärts und ein sehnsuchtsvoller Blick zurück brachte ihr nicht viel. Sie musste die Vergangenheit stattdessen ruhen lassen und dafür sorgen, dass die Zukunft umso besser wurde.

„Das ... das", stammelte F-67, welche vollkommen aufgelöst wirkte. Die Schuldgefühle prügelten regelrecht auf sie ein und ließen sie immer kleiner werden. Sie wirkte beinahe alt und zerbrechlich, als hätte ihre fallende Maske nun ihr wahres Ich präsentiert.

„Das war ein Versehen."

Die Worte tönten so leise durch die Halle, dass sie kaum zu hören waren. Als würden sie realer werden, wenn sie sie lauter aussprechen würde.

„Ein Versehen?", wisperte das Schicksal völlig verständnislos. Sie glaubte, dass diese Antwort ihr den Boden unter den Füßen wegreißen müsste, dass sie völlig entgeistert hätte sein müssen, da ihr Leben nur durch ein Versehen beendet worden war. Doch stattdessen konnte sie nur den Kopf darüber schütteln. Sie war zu erschöpft, um sich darüber aufzuregen, dass ihr gemeinsames Leben mit James wohl doch noch hätte weitergehen können.

„Ich wollte S-14 an jenem Tag auf der Straße lediglich zur Rede stellen. Ihr die Augen öffnen, dass sie nicht nur auf ihr Pärchen achten sollte, sondern auch den Verbliebenen helfen sollte, welche durch sie an ihrem Liebeskummer zerbrachen. Ich konnte ihre Begeisterung von euch beiden nicht nachvollziehen, wollte nicht sehen, wie ihr glücklich euer gemeinsames Leben in eurem kleinen Landhaus aufbauen würdet, während niemand auch nur einen Gedanken an Zachary verschwendete. Nicht einmal das Glück war auf ihn aufmerksam geworden. Stattdessen trampelte das Pech geradewegs auf ihm herum. Als ... als ...", zitternd verstummte die Frau in Orange, bevor sie ihre fürchterliche Tat über die Lippen bekam.

„Als wir auf der Straße standen, wartete S-14 gerade darauf, um euch ein letztes Mal bei eurer Ankunft im neuen Zuhause zu beobachten. Sie wollte sich vergewissern, dass alles reibungslos verlaufen war. Doch mit mir hatte sie keineswegs gerechnet. Sie versuchte sich herauszureden, mir zu erklären, dass ihre Aufgabe nunmal nur darin besteht, gewisse Pärchen zusammenzubringen. Dass sie sogar gegen die Regeln verstoßen würde, wenn sie Grace mit Zachary zusammengebracht hätte, da diese gerade mal zu 53% zusammengepasst hätten. Ich ... ich konnte das nicht akzeptieren. Meine Wut ging mit mir durch und als urplötzlich die Scheinwerfer aus der Dunkelheit kamen, explodierte meine innere Wut. Und du hast vollkommen recht, meine negativen Gefühle haben mir in diesem Moment eine derartige Stärke gegeben. Sie gaben mir die Macht, Leben zu verändern, es auszulöschen. Glaub mir, ich wollte das nicht. Ich habe S-14 nicht mit der Absicht aufgesucht, euch zu vernichten, euch auseinander zu treiben. So wütend ich auf euch auch war, DAS wollte ich zu keinem Zeitpunkt. So ein Monster bin ich nicht. Auch ich war Opfer meiner verbliebenen Gefühle – genau wie ihr zwei. Sie haben mich abscheulich werden lassen, so wie ich nie sein wollte."

Schluchzend brach die ältere Frau vor allen zusammen und sank in die Knie.

„Ich wollte das wirklich nicht", wimmerte sie und hatte all ihr Selbstbewusstsein verloren, welches sie zuvor derart kräftig ausgestrahlt hatte. „Mein Zorn ist zum falschen Zeitpunkt an die Decke gegangen. Die starke Welle meiner Kraft hat nicht nur das Auto, sondern auch S-14 zum Fallen gebracht. Nach dieser Tat wurde mir mehr als bewusst, wie wichtig die Regeln und vor allem das Enterinnern in unserer Welt sind. Ich bin mit diesen Gefühlen keine gute Arbeitskraft. Ich ... ich bin schuld", gestand sie sich endlich ein und legte ihren schweren Kopf vor sich in den Händen ab.

All die Jahre hatte sie versucht die Schuld auf andere zu schieben, hatte sich selbst und ihre Taten als nötig und als gerecht eingeredet. Doch mit diesen Lügen hatte sie lediglich sich selbst beschützen wollen, um nicht den ungeheuren Schmerz des schlechten Gewissens zu spüren.

Eine Stille legte sich über den Saal, als alles ausgesprochen worden war. Das Schicksalswesen hatte das Bedürfnis einmal tief auszuatmen, um den Stress der letzten Stunden hinauszulassen und sich davon zu befreien. Auch wenn sie vorher nicht geglaubt hatte, derart zu fühlen, so war das Gespräch mit F-67 beinahe befreiend für sie gewesen. Das große Rätsel in ihrem Kopf hatte sich wie ein Knoten aufgelöst und Erleichterung erfüllte ihren Körper.

Sie hatte das Gefühl, F-67 nicht einmal mehr böse zu sein. Vielmehr hegte sie Mitleid für die – von Kummer zerfressene – Frau, welche sich sicher selbst für ihre Taten nun bestrafte und nicht länger nur den anderen die Schuld zuwies. Fühlte sich so ein innerer Seelenfrieden an?

S-203 bekam ihre Umgebung kaum noch mit. Sie hörte nicht, wie ihr Urteil trotz der aufgelösten Wahrheit noch einmal verkündet wurde. Die Rothaarige sah auch nicht, wie die zerbrechliche Frau im orangen Blazer abgeführt wurde, während sie noch immer voller Schmerz vor sich hin wimmerte. Als hätte sie die Fähigkeit des Hörens verloren, verstummte die Welt um sie herum.

Die Zeit blieb regelrecht stehen, als sie sich zu Z-11 umdrehte und ihm ein breites Lächeln schenkte. Auch er blickte ihr mit seinen liebevollen Augen entgegen und sie brauchten keine Worte, keine Berührung, um einander zu verstehen. Sie wussten, dass sie ihr – wenn auch kurzes – Leben mehr geschätzt hatten als alles andere.

Ihnen war die Stärke ihrer Liebe bewusst, welche sie nie vergessen würden, selbst wenn sie einander nicht mehr sehen könnten. Sie konnten mit dem Ende ihres Lebens abschließen, konnten das gefällte Urteil zufrieden akzeptieren und ohne Angst in ihre ungewisse Zukunft blicken.

Die Wesen um sie herum verschwammen zu unscharfen Schemen, welche sie getrennt voneinander den Gang entlang und hinaus aus dem Wolkensaal führten. Die Schicksalsfrau wurde hinter der gläsernen Tür sogleich rechtsherum geschoben, während der Zufallsmann hinter ihr in die entgegengesetzte Richtung gezogen wurde.

Ein letztes Mal wendete sie ihren Kopf hinter sich und streckte ihre Hand nach ihm aus.

„Ich werde dich wiederfinden, versprochen", hauchte Z-11 ihr zuversichtlich zu. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Fingerspitzen und ließen die kleinen, verliebten Schmetterlinge in ihren Hüllkörpern aufgeregt in die Höhe steigen.

Bereits einen Wimpernschlag später wurden sie voneinander getrennt und verloren sich hinter der nächsten Ecke des Ganges aus den Augen. Noch immer sah S-203 das Gesicht des Zufalls vor sich. Das vertraute Gesicht von James, welches sie selbst nach all den Jahren nie vergessen konnte.

Ein überaus ehrliches und warmherzige Lächeln schmückte ihr Gesicht bei dem Gedanken an ihre gemeinsame Zeit. Sie dachte an die Neckereien, an das Herzklopfen in seiner Nähe und sie war dankbar, all dies erlebt haben zu dürfen.

Vielleicht war ihr vorzeitiger Tod gar nicht so schlimm gewesen, vielleicht hatte es genauso sein sollen. Mehr Aufregung im Leben hatte sie wohl kaum erhalten können. Und schließlich hatte sie sich einst als junge Grace genau das gewünscht: ein Leben ohne Langeweile, voller Abenteuer und einer wundervoll starken, aufrichtigen Liebe. Und diese hatte sie gefunden.

Ob als Grace und James oder als S-203 und Z-11. Sie gehörten zueinander und nicht einmal ein menschliches Leben voller Leid würde daran etwas ändern können.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top