Kapitel 16
Von ihren wilden und aufgeregten Gedanken getrieben lief S-203 in ihrer Zentrale auf und ab. Die letzten Geschehnisse vertrieben alles aus ihrem Kopf und nisteten sich in ihm ein, um sie nicht mehr zu verlassen.
„Grace", flüsterte sie den Namen vor sich hin, welchen Z-11 ihr so direkt und voller Sorge entgegengeschleudert hatte. Immer wieder hatte sie ihn vor sich hingesprochen, als könnte sie somit seine Bedeutung und seine Herkunft erfahren. Doch so oft sie ihn auch wiederholte, sie konnte sich nicht erinnern.
War dies ihr Name gewesen? Und weshalb erinnerte sich Z-11 daran?
Er hatte sie regelrecht angefleht, dem nicht weiter auf den Grund zu gehen. Sie sollte sich zurückhalten, für die nächste Zeit still sein und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Womöglich würde die Führungsebene ihr regelwidriges Verhalten in Tokyo tatsächlich vergessen und dem nicht weiter nachgehen. Doch wie konnte sie nun stumm bleiben, wenn es in ihrem Kopf so derartig laut war?
Ihr Inneres schrie nach Antworten, nach der Wahrheit und vor allem nach Z-11, dessen Abwesenheit ihre Laune bereits jetzt hinunterzog. Sie konnte all dies nicht vergessen, nicht einfach hinunterschlucken und weiter machen, als wäre nichts gewesen. Z-11 wusste mehr als sie und schien ebenso zu fühlen. Doch statt sie einzuweihen, wollte er sie mit ihrem Nichtwissen weiter beschützen.
Das Schicksalswesen schüttelte heftig ihren Kopf und blieb urplötzlich in der Mitte des Raumes stehen. Falls der Zufallsmann recht hatte, suchten sie bereits nach ihr und wo würden sie wohl zuerst nachschauen?
„Ich bin hier nicht sicher", realisierte sie schockiert und teleportierte sich fort. In der nächsten Sekunde spürte das Schicksal eine kalte Brise, welche ihr schonungslos entgegenkam und einzelne Sandkörner und Meerwasser mit sich brachte. Sie erinnerte sich an das Gefühl von Sand unter den Füßen, als sie vor sich den weiten Ozean erblickte.
„Was mache ich denn jetzt nur?", hauchte sie, doch der Wind verschluckte ihre verzweifelte Frage sofort und trug sie fort. Sie sehnte sich nach Antworten, doch solange Z-11 schwieg und nicht an ihrer Seite sein konnte, musste sie an einem anderen Ort suchen. Ein Ort, der die Vergangenheit in sich bewahrte und das Leben aller Menschen dokumentierte.
Die Seelenbibliothek.
S-203 war sich dessen bewusst, dass nur Fügungswesen aus der Verwaltung zu diesen Hallen Zugang hatten und dort alle Aufzeichnungen bewahrten. Doch keiner im ganzen Himmelsjenseits würde auf die Idee kommen, dass ein Wesen aus einer anderen Abteilung sich Zutritt verschaffen würde. Schließlich waren sie normalerweise nicht neugierig, interessierten sich nicht für die Vergangenheit und erst recht nicht für ihr menschliches Leben. Keiner würde auf die Idee kommen, dass ein Schicksalswesen nach ihrer eigenen Akte suchen wollen würde.
Z-11 hätte sie nun sicher versucht aufzuhalten, hätte sie festgehalten und ihr eine Standpauke erteilt. Doch der rothaarigen Schicksalsfrau war dies vollkommen egal und über die Konsequenzen dachte sie nicht einmal ansatzweise nach. Sie verschwand in einem Lichtblitz und ließ die kühle Nordsee hinter sich.
Einen Wimpernschlag später befand sie sich vor den Pforten der Seelenbibliothek. Große Wolkensäulen ragten weit in die Höhe hinauf. Klein und unbedeutend stand S-203 vor dem Eingang, während um sie herum unzählige Fügungswesen in verschiedenfarbigen Uniformen ihrer Wege gingen.
Den Ort, an welchem alle Akten aufbewahrt wurden, kannte sie bereits, da sie hier wöchentlich ihre Berichte abgab, welche letztendlich von den Wesen der Verwaltung geordnet und einsortiert wurden. Wie jedes Mal betrat sie das Innere, welches den Bibliotheken in der Welt der Menschen mehr als Konkurrenz machte. Diese hier war größer, höher, gigantischer. Auf kleinen Wolken schwebende Lichter erhellten den Saal.
S-203 folgte wie gewohnt der roten Spur auf dem Boden, doch bevor sie zum Schalter kam, an welchem sie ihre Berichte stets abgab, bog sie links ab. Sie huschte zwischen den anderen Wesen hindurch und verschwand unbemerkt hinter der lilafarbenen Wolkentür, welche nur für die Verwaltung gedacht war.
Das Stimmengewirr von draußen drang nur noch dumpf und leise an sie heran. Das Schicksal spürte Wärme und Kälte abwechselnd ihren Körper aufsteigen. Die Nervosität und Angst geschnappt zu werden wuchsen mit jedem Schritt, der sie weiter in die Wissenden Hallen gehen ließ. Ihr war klar, dass es kein Zurück mehr gab. Nun hatte sie es schon hereingeschafft und würde ihn nicht ohne die Wahrheit verlassen.
Leise schlich sie weiter, bis sie den großen Saal erreicht hatte, der ihr ein stummes Staunen entlockte. Die deckenhohen Bücherregale beherbergten die bunten Bücher in sich und zeigten mit ihrer Farbe, welcher Abteilung sie angehörten. Mit großen Augen legte sie ihren Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den Himmel. Die Regale schienen in der Luft zu verschwinden, kein Ende zu finden.
Das Zuschlagen einer Tür holte S-203 zurück in die Realität und erinnerte sie an ihre gefährliche Mission. Hastig begann sie loszurennen. Sie hatte keine Orientierung, wusste nicht wohin. Erst wollte sie in den hinteren Bereich, in welchem das Leben der einzelnen Menschen durch ihre entnommene Erinnerung in Büchern festgehalten worden war.
Doch ihr Körper trieb sie wie im Autopilot in eine andere Richtung. Weg von den gelben, grünen und blauen Wälzern. Ihre Füße trugen sie weiter zu den Regalen mit den roten Büchern. Stirnrunzelnd ließ sie ihren Blick über die Vielzahl an Akten schweifen, welche in den vergangenen Jahrhunderten von Schicksalswesen dokumentiert worden waren. Die Akten der Liebespaare, welche schicksalshaft zusammengebracht worden waren, hatten ihren festgelegten Platz je nach Prozentzahl.
S-203 konnte sich ihre zielgenaue Suche noch immer nicht erklären, doch ihre Seele schien zu wissen, wohin sie musste. Neben ihr stieg die Kompatibilität der Paare immer weiter an, bis ihre Füße sie letztendlich vor dem hintersten Regal abbremsten. Unfähig sich zu bewegen, stand die Rothaarige vor den Akten der 100-Prozent-Pärchen.
Sie konnte die Anzahl dieser Paare an zwei Händen abzählen, was ihr noch einmal bewusst machte, wie selten eine solch starke Liebe doch war. Ein kurzes Bild von Z-11 schoss ihr ins Gedächtnis, als sie ihn verlassen hatte. Die rote 100 über seinem Kopf war so schwach gewesen und nur kurz zu sehen, doch sie hatte keine Zweifel daran, dass sie existierte.
Als würde ihre Seele die Macht über ihren Körper einnehmen, streckte sie zielsicher die Hand nach vorn und griff nach dem dünnen, roten Buch, welches ganz rechts stand. Mit zittrigen Fingern blickte sie auf den Einband, auf welchem in goldener Schrift die Namen der beiden Menschen standen.
„James und Grace", las sie mit brüchiger Stimme, während sich die Erinnerung an ihr galoppierendes Herz immer mehr in den Vordergrund drängte. Mit bebendem Kinn schlug sie die erste Seite auf und überflog die Zeilen, in welchen James und Grace mit ihren Namen, Geburtsdaten und einer Zusammenfassung ihres bisherigen Lebens vorgestellt wurden.
„Schicksalswesen im Dienst: S-14", las sie flüsternd vor und blätterte beinahe gierig weiter.
„Am 13. April 1966 ging ich meiner Arbeit in Paris mit einem anderen Pärchen nach. Ich beobachtete die zwei gerade in einem Café beim Kuchenessen, als aus dem Nichts ein Zufallswesen an mir vorbeiging und mich beim Teleportieren aus Versehen mit sich riss. Ich geriet in seinen Lichtstrudel hinein und folgte ihm unfreiwillig nach England, wo ich sogleich Grace auf der Straße entdeckte – mit einer 100 über dem Kopf."
S-203s Augen wanderten über den Bericht, welchen das Schicksalswesen S-14 einst vor vielen Jahren geschrieben hatte.
„Zufällig Schicksal", sprach S-203 ihren Gedanken leise aus, welcher sich beim Lesen der Entdeckung des Pärchens in ihren Kopf geschlichen hatte.
Die nächsten Seiten handelten vom ersten schicksalshaften Aufeinandertreffen, bei welchem Grace geradewegs in James Auto geflüchtet war, nachdem sie ihren eigentlich doch zukünftigen Mann Zachary sitzen gelassen hatte.
Erneut schossen dem Schicksalswesen die Bilder in den Kopf, welche sie schon vor Wochen im Traum gesehen hatte. Doch diesmal schienen die Erinnerungen viel lebhafter, bunter und echter zu sein. Für sie fühlte es sich nicht mehr wie ein Film vor ihren Augen an, vielmehr waren es Erlebnisse. Ihre eigenen Erlebnisse, ihr Leben.
„Ich war Grace", hauchte sie die Erleuchtung in die Stille. Die Erinnerungen schlugen wie Wellen über ihr zusammen, rissen sie mit sich und ließen sie schwer nach Luft hecheln. Dabei war das Schicksalswesen nicht einmal auf Sauerstoff angewiesen und besaß auch keine funktionierenden Lungen mehr, welche ausgefüllt werden mussten. Trotz dieser Tatsache griff sie sich mit entsetztem Gesicht an die Brust und ließ die Akte von S-14, welche diese über James und Grace niedergeschrieben hatte, zu Boden gleiten.
Dumpf landete das dünne Buch vor ihren Füßen, doch S-203 starrte weiterhin ziellos geradeaus. Die Überforderung, welche die Flut an Erinnerungen in ihr auslöste, entzogen ihren Beinen die Kräfte und erschöpft sank sie zu Boden. Ihr Hüllkörper wurde geradewegs von dem schweren Gewicht der Gedanken erdrückt und ließen ihr keinen Moment der Pause.
Haltlos schlugen neue Szenen in ihren Kopf, welche ihr unaufhaltsam ihr damaliges Leben zeigten. Bild für Bild folgte den Szenen, welche sie bereits in ihren verbotenen Träumen gesehen hatte und schlossen den Kreis der bruchstückhaften Erinnerungen. Doch nicht nur die Last der Vergangenheit füllte ihren Körper bis zum Rand aus. Vielmehr waren es die plötzlich entfachten Gefühle, welche sie fürchten ließen, im nächsten Moment schlicht zu platzen.
Wie sollten all diese Emotionen in ihren Hüllkörper hineinpassen? Zitternd hockte sie auf dem weißen, marmorartigen Untergrund und schloss ihre Augen, welche ihrem Wunsch, endlich zu weinen, nicht nachkamen. Beim Gedanken an Z-11 – an James – begannen ihre Gefühle im Chaos zu verenden.
Ein schluchzendes Lachen entwich ihr, als sie an die Liebe dachte, welche tief in ihr noch immer für ihn bestimmt war. Im nächsten Moment kämpfte sich die Sehnsucht nach ihm an die Oberfläche. Ein Wechsel aus Erleichterung, Angst, Trauer ließen sie völlig verwirrt nach der nicht notwendigen Luft rangen. Die Gefühle erschlugen sie förmlich, doch trotz dessen suchten ihre Hände wie von selbst nach der roten Akte vor ihr.
Auf dem Boden kauernd schlug sie erneut die zweite Seite auf und wurde beim Lesen regelrecht verschlungen. Sie erinnerte sich an die wachsende Liebe für James, als sie gemeinsam die Reise nach Schottland angetreten waren. Sie waren Fremde gewesen und doch war von Beginn an ein starkes Band zwischen ihnen spürbar gewesen. In nur wenigen Tagen hatten sie sich ineinander verliebt, doch das Pech hatte sie auseinander getrieben.
„Im frühen Morgengrauen machte sich James auf den Weg in die nächste Stadt und ließ die schlafende Grace im Gasthaus zurück. Im nächsten Ort suchte er den Verkäufer des kleinen Landhauses, von welchem Grace am Vortag so geschwärmt hatte. Von dem Erbe seiner Eltern kaufte er dieses und plante bereits die gemeinsame Zukunft, welche sie dort erleben könnten. Doch ein Pechwesen sorgte dafür, dass ihm die Schlüssel seines Automobils aus der Tasche fielen. Als er kurz darauf zurück zum Parkplatz kam, war sein Fahrzeug verschwunden und auch seine Geldbörse fehlte. Ohne Geld wollte ihn keiner mitnehmen. Als die Polizei sein Auto wenige Tage später fand und seinem rechtmäßigen Besitzer zurückbrachte, fuhr er so schnell es ging zum Gasthaus zurück. Doch Grace war fort."
Wehmütig blickte S-203 auf die Zeilen vor sich. Sie erinnerte sich an den Moment, als James plötzlich verschwunden war. Nirgends hatte sie ihn finden können. Stunden hatte sie im Gasthaus damals gewartet und musste letztendlich einen beschämten Anruf bei ihren Eltern tätigen. Sie hatte kein Geld gehabt, um weiterhin in Schottland zu bleiben oder allein nach England zurückzureisen.
Als die Besitzerin des Hotels an ihre Zimmertür geklopft und gesagt hatte, dass sie nun abgeholt werde, hatte sie nie im Leben damit gerechnet, dass Zachary vor ihr stehen würde. Als er von ihrem Vater davon gehört hatte, war er, ohne zu zögern, die Nacht durchgefahren, um sie zurück in die Cotswolds zu bringen.
Schweigend hatten die beiden die Fahrt überdauert. Grace hatte nur stumm aus dem Fenster geblickt, da der Anblick von Zachary auf dem Fahrersitz sie nur noch mehr schmerzte. Ihr Herz wollte vielmehr James zurück neben sich.
Mit geschlossenen Augen dachte das Schicksalswesen an diesen Moment in ihrem ehemaligen Leben zurück. Die darauffolgenden Wochen mit Zachary waren langweilig und monoton gewesen. Doch als sie hastig weiterlas, folgte das Wiedersehen mit James, welches wenige Monate später auf einer Picknickdecke im Freien stattfand.
Noch immer hatte sie sein Lächeln vor sich, als er ihr mit einem gebastelten Ring aus Grashalmen einen spontanen Antrag gemacht hatte. Kopfschüttelnd ließ S-203 die Erinnerungen über sich ergehen und versuchte die rebellierenden Gefühle in ihrem Inneren in Schach zu halten.
„Hallo, ist da wer?", erschreckte sie eine weit entfernte Stimme, deren Echo durch die Halle schallte. Entsetzt und voller Furcht schüttelte das Schicksalswesen die Überforderung ihres Kopfes ab, um endlich wieder klar zu denken. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass sie noch nicht entdeckt worden war und blätterte eilig weiter.
Sie übersprang die Erklärungen des Wesens S-14, wie sie James zu Grace zurückgeführt hatte, wie die beiden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion alles hinter sich ließen und heimlich in einer kleinen Kirche trauen ließen.
S-203 war hier, um Antworten zu finden und diese mussten ihr verraten, was es mit dem Unfall und mit dem Wesen F-67 auf sich hatten, welches sie an diesem schrecklichen Tag für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte. Und auch ihre ungewollte Fähigkeit, sich an all dies erinnern zu können, war noch immer nicht geklärt.
Ihre Augen wanderten sprintend über die Zeilen, als müssten sie einen Wettbewerb gewinnen.
„Nach der Trauung hatten sie nur noch ein paar Stunden Fahrt vor sich, bevor sie ihr neues Haus erreichen würden, welches James Monate zuvor für sie gekauft hatte. Der Kirschbaum stand bereits in einem kleinen Kübel im Garten dahinter – bereit in die Erde gesetzt zu werden und daneben hatte James einen kleinen Stall gebaut, um Hühner und Schafe darin halten zu können. Doch ein tragischer Wildunfall nahm den beiden auf dem Weg dorthin das Leben."
Verständnislos starrte die Rothaarige auf den letzten Satz.
„Das wars?", fragte sie verwirrt und konnte nicht akzeptieren, dass dies alles war, was das Schicksalswesen S-14 über sie geschrieben hatte.
„Das war kein Wildunfall."
Ihre Stimme zitterte und drohte jeden Moment abzubrechen, zu verstummen. Kopfschüttelnd blätterte sie weiter, doch nichts als leere, weiße Seiten folgten.
„Das kann nicht sein", schimpfte sie – nun etwas lauter – fassungslos und blätterte zurück zum Anfang. Erneut ging sie im Schnelldurchlauf die gesamte Akte durch, doch nichts lieferte ihr einen Hinweis darauf, dass der Unfall nicht natürlichen Ursprungs gewesen war.
„Ich bin doch nicht verrückt. Da war kein Tier. Da stand eine Frau", klagte sie, während die Wut in ihr aufquoll. Schritte ertönten nicht weit von ihr, was sie panisch den Kopf heben ließ. Hatte man sie jetzt bereits ausfindig gemacht? In ihrem Inneren herrschte ein Zwiespalt. Sie wollte dem weiter auf den Grund gehen. Vielleicht fand sie weitere Akten von S-14 oder gar welche von F-67. Irgendwo in dieser riesigen Bibliothek musste die Wahrheit verborgen sein.
Doch die näherkommenden Geräusche gaben ihr nicht die Chance weiter zu recherchieren. Sie musste hier fort. Ohne zu zögern, riss sie die erste Seite des Buches heraus und rappelte sich anschließend auf. Ihre Füße begannen zu rennen, trugen sie in Richtung Ausgang und ließen ihre wilden Locken hinter ihr herfliegen.
Angsterfüllt stoppte sie an der nächsten Regalreihe und blickte um die Ecke. Ein lilagekleidetes Wesen aus der Verwaltung ging nicht weit von ihr durch die Gänge – auf der Suche nach Eindringlingen. Als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, schlich sie leise weiter und wurde mit jedem Schritt schneller. Das Blatt, welches sie aus dem Buch herausgerissen hatte und welches die Kennenlerngeschichte der beiden beschrieb, hatte sie fest an sich gekrallt.
Diese Akte war zumindest der erste Beweis dafür, dass sie nicht verrückt geworden war. All diese Träume waren keine Einbildung und kein Ausmaß ihrer romantisch veranlagten Fantasie gewesen. Mit zunehmender Geschwindigkeit wurden jedoch auch ihre Schritte lauter.
„Hey", ertönte es laut hinter ihr. Ertappt und voller Panik in den Augen wendete sie ihren Blick, ohne dabei langsamer zu werden.
„Das Betreten der Wissenden Hallen ist für Unbefugte nicht erlaubt!", rief ihr das Wesen aus der Verwaltung hinterher. S-203 machte sich nicht einmal die Mühe, etwas zu erklären oder zu antworten.
Die Sehnsucht nach Z-11 trieben sie weiter voran. Und als sie endlich die freiheitsgebende Eingangstür erreicht hatte, zögerte sie keine Sekunde, um sich fortzuteleportieren.
Als wäre ihr Körper mit Adrenalin gefüllt, kam sie in ihrer Zentrale an und lief hektisch darin herum. Ihre Beine konnten nicht aufhören zu gehen, wollten nicht stehenbleiben.
„Was mache ich denn jetzt?" fragte sie in den Raum hinein – mit der Hoffnung, eine unsichtbare Kraft könnte ihr die richtige Antwort liefern.
„James", flüsterte sie sehnsüchtig und schloss für einen Moment die Augen, um ihn vor sich sehen zu können. Noch im letzten Gespräch hatte er ihr gesagt, dass sie einzeln bessere Chancen hatten. Doch wie sollte sie mit ihrem jetzigen Wissen weiter von ihm fernbleiben? Ihre Seele kämpfte mit allen Kräften darum, dass sie sich zu ihm begab. Völlig egal, ob sie sie dann festnehmen würden, solange sie gemeinsam geschnappt werden würden und dabei nicht allein waren.
Die Angst in ihr, ihn nie wieder sehen zu können, siegte über ihre Vernunft und ließ sie sich in einem kurzen Lichtblitz auflösen. Die herausgerissene Seite, welche sie in all der Eile verloren hatte, segelte einsam und leicht wie eine Feder zu Boden.
Z-11 saß auf dem blauen Sofa in seiner Zentrale und tippte nervös mit den Füßen auf dem Wolkenuntergrund. Die Anspannung in ihm hatte ein unerträgliches Maß angenommen und führte dazu, dass er ungehalten aufsprang. Ziellos wanderte er durch den kleinen Raum, während seine Gedanken immer wieder bei S-203 hängen blieben.
Vielleicht hätte er sie nicht fortschicken sollen. Was, wenn sie sie bereits gefunden hatten? Womöglich hätten sie doch gemeinsam fliehen sollen. Verärgert über seine vorherigen Worte raufte er sich die Haare und ließ seinen Frust in einem kurzen Aufschrei hinaus. Doch dies verschaffte ihm nicht die erwünschte Wirkung und ließ ihn nur noch schneller von Wand zu Wand laufen. Er hatte das Bedürfnis, seine Fäuste gegen die Wände zu schlagen, doch seine Hände wären lediglich in den weißen Schlieren verschwunden.
Das Zufallswesen wurde den Gedanken nicht los, dass sie ihn brauchte, dass es nun vielleicht schon längst zu spät war. Seine paranoiden Gedanken trieben ihn zum Loch in der Wolkenwand, welche ihm als Fenster diente und die Sicht auf den Stadtteil der Zufallswesen freigab.
Orangegekleidete Wesen schritten zügig um die Ecke und bewegten sich geradewegs auf seine Zentrale zu. Erschrocken machte er einen Schritt ins Innere des Raumes hinein.
„Sie sind hier", sprach er völlig überrumpelt zu sich selbst und teleportierte sich ohne längeres Warten vor die Zentrale des Schicksalswesen.
Voller Hoffnung tauchte S-203 in der Zentrale des Zufalls auf. Statt Freude aufgrund des Wiedersehens breitete sich Enttäuschung in ihrem Körper aus und ließen sie fieberhaft nach Hinweisen suchen, wo er sich befinden könnte. Doch sie fand keine Nachricht, keine Berichte zu seiner momentanen Arbeit. Sie fand nichts.
„Z-11. Öffnen Sie bitte die Tür und treten Sie hinaus, um sich bei einem Prozess für Ihr regelwidriges Verhalten zu verantworten", ertönte die strenge Stimme eines Mannes hinter der blauen Wolkentür. Entsetzt drehte sich das Schicksalswesen zur geschlossenen Tür und floh in der nächsten Sekunde reflexartig vor der Führungsebene, indem sie im Licht verschwand.
„S-203", rief das Zufallswesen, sobald er in die rote Zentrale hineingetreten war. Sein besorgter Ruf wurde von der Stille des Raumes verschluckt und fütterte das enge Gefühl in seiner Brust geradewegs. Suchend ging er zum Kleiderschrank, doch auch darin versteckte sich die Rothaarige nicht. Die Angst um sie wuchs mit jeder Sekunde, ließen ihn sich die schlimmsten Szenarien ausmalen.
Plötzlich trat er mit dem Fuß auf ein dünnes Papier, welches sogleich all seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit gerunzelter Stirn griff er nach dem Blatt und überflog die Zeilen darauf, welche ihm beinahe den Boden unter den Beinen entrissen.
„Das hast du nicht wirklich getan", flüsterte er, während sein Hüllkörper beinahe vor Schreck erzitterte. Er versuchte das panische Gefühl in seinem Inneren zurück in die Tiefe zu drängen. Doch es kämpfte sich kraftvoll an die Oberfläche, um ihn davon zu überzeugen, dass S-203 gegen seine Bitte weiter nachgeforscht hatte.
„Bist du denn völlig verrückt", rief er frustriert seine Sorgen hinaus. Der Zufallsmann glaubte den Verstand zu verlieren, da die Angst um das Schicksalswesen ihn vollständig einzunehmen schien und ihn an nichts anderes denken ließ. Seine Seele wollte zu ihr, sie in seine Arme schließen und nie wieder loslassen. Wieso hatte sie nicht auf ihn hören können? Weshalb musste sie nur so stur sein und weiter in der Vergangenheit herumgraben?
Ein Pochen an der roten Wolkentür erschreckten ihn und die kühle Stimme des Führungsebenenwesens ließ ihn angstvoll frösteln. Doch auf der anderen Seite ließ es seine Hoffnung erneut sprießen.
Wenn sie hier nach ihr suchten, hieß das, dass sie sie scheinbar noch nicht gefunden hatten. Aber wo konnte sie sein? Gerade als sich die Kontrolleure ihren Weg ins Innere der roten Zentrale verschafft hatten, verschwand der Zufall und tauchte keine Sekunde später in Jordans Bar auf.
Seine Hoffnung schenkte ihm den Gedanken, dass S-203 sicher nach ihm suchte und nun all die Orte bereiste, an welchen sie sich in den letzten Wochen gemeinsam getroffen hatten. Hastig ließ er seinen Blick schweifen, doch vor ihm tranken die Menschen, lachten und tanzten zur irischen Musik, während Jordan Gläser reinigte und Getränke einschenkte.
Augenblicklich ließ Z-11 diesen Ort hinter sich, um keine Zeit zu verlieren. Im Krankenhaus liefen ihm gestresste Ärzte, unter ihnen auch Sam, und fleißige Pfleger über den Weg. Doch auch hier traf er nicht auf das Schicksal.
Nach der Universitätsbibliothek, in welcher sich Jordan und Camilla endlich wiedergetroffen hatten und auch danach im Londoner Zoo blieb seine Hoffnung eine reine Wunschvorstellung. Die Enttäuschung in seinem Inneren zog seine Laune in den Keller hinunter und entzogen ihm die guten Ideen.
Fieberhaft dachte er an andere Orte, welche sie beide verband und andere Standorte, welche weit in ihrer Vergangenheit lagen, kamen ihm in den Sinn. Vielleicht wartete sie in Schottland auf ihn.
Von Eile getrieben teleportierte sich S-203 von Ort zu Ort. Zuerst war sie wahllos auf der Erde herumgeirrt. Hatte Z-11 in den großen und kleinen Städten der Welt gesucht, doch schon bald wurde ihr klar, dass es aussichtslos war, wenn sie weiter ohne Plan suchen würde. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie als Schicksal immer einen genauen Plan hatte. Also wo würden sie einander wohl suchen?
„Schottland", flüsterte sie und begab sich, ohne zu zögern, dorthin, da sie in der Ferne bereits eine ganze Truppe an orangegekleideten Kontrolleuren erkannte. Erneut schlug ihr der Wind um die Ohren und ließ ihr das rote Haar über die Schulter wehen.
Schwermütig blickte sie in die weite Landschaft, welche sie und James einst bestaunt hatten. S-203 wendete ihren Kopf zu dem Pfad, welcher hinter ihr den Berg hinunterführte und auf welchem sie ihren ersten Kuss erlebt hatten.
Ein Schluchzen gemischt mit einem Lachen entwich ihr, als sie diese Szene der Vergangenheit so lebhaft vor ihrem inneren Auge sah. Sie spürte die Erleichterung und die Freiheit, da sie sich nicht mehr die Frage stellen musste, was genau diese Träume bedeuteten. Endlich konnte sie sich vollständig erinnern, konnte fühlen wie einst als Mensch.
Doch gleichzeitig war eine neue, große Last entstanden, welche ihren Körper gen Boden drückte. Die Angst und die Sehnsucht engten sie völlig ein und raubten ihr den Glauben an eine glückliche und gemeinsame Zukunft mit Z-11, mit James. Schweren Herzens verließ sie die Isle of Skye, um an anderen Orten weiterzusuchen.
Die beiden Fügungswesen S-203 und Z-11 sprangen von hier nach da und ließen sich unaufhaltsam von ihrer Liebe leiten. Doch kam sie gerade in Jordans Bar an, da war er schon wieder im Zoo, um dort nach ihr zu sehen.
Immer wieder suchten sie aneinander vorbei, trafen sich nie und verpassten sich stets. Unterdessen hatte sich ihre regelrechte Flucht unter den Fügungswesen herumgesprochen, sodass beinahe jedes Wesen aus der Führungsebene nun nach ihnen suchte. Die Kontrolleure hatten sich wie Kletten an sie gehängt, verfolgten sie und trieben sie immer weiter in die Enge.
Beinahe schon erschöpft von der fruchtlosen Suche blieb S-203 vor dem Landhaus in Schottland stehen, in welchem sie damals so gern ihr restliches Leben mit James verbracht hätte. Zwar verfügte sie über keine Lungen, doch trotzdem fühlte sie sich außer Atem.
Noch immer schien das alte Gemäuer keinen neuen Besitzer gefunden zu haben. Der wuchernde Rasen war eine Oase für Insekten geworden und war bereits kniehoch. Die Fensterläden, deren blaue Farbe abblätterte, hingen schief herunter. Rosen rankten sich an der Steinfassade hinauf und blühten in verschiedenen Rottönen.
„Dies hätte unser kleines Paradies werden können", wisperte sie mit schwacher Stimme. Der Kloß in ihrem Hals machte es ihr schwer, überhaupt ein Wort herauszubringen. Resigniert senkte sie ihren Blick, da dieses vergangene Leben nicht mehr zurückkommen würde. Selbst als Fügungswesen mit Erinnerungen und Gefühlen konnten sie dieses Leben nicht mehr nachholen.
Sie waren noch immer unsichtbar, keine echten Menschen und ihrer Arbeit verpflichtet. Und zudem hatte sie Z-11 nicht einmal finden können. Womöglich hatten sie ihn schon längst geschnappt. Ihre Hoffnung hatte in der letzten Stunde mit jedem Ortswechsel weiter abgenommen und sie war es leid zu fliehen. Sie war erschöpft, am Ende ihrer Kräfte. Und sie musste sich eingestehen, dass sie ihnen nicht entkommen konnte, dass sie es nicht ewig schaffen würde, eine Sekunde schneller als sie zu sein.
Entsetzt schreckte sie herum, als sie ein fester Griff am Handgelenk packte.
„S-203, Sie sind hiermit festgenommen wegen regelwidrigem Betreten der Wissenden Hallen und infrage Stellen des Systems."
Kalt und ohne jegliches Gefühl blickte die ältere Frau aus der Führungsebene sie an. Sie erkannte ihre starren Augen sofort, welche sie voller Abscheu anblickten. Doch im Hintergrund flackerte die Angst kurz auf.
„Lasst mich wenigstens noch einmal mit Z-11 sprechen", flehte sie das strenge Wesen F-67 an, welches sie nicht mehr loszulassen schien. Doch ihre Bitte wurde schlicht mit einem Kopfschütteln abgelehnt.
Ein leises „Plopp" ließ S-203 ihren Kopf schlagartig drehen.
„Grace, bist du hier?", rief Z-11, welcher wenige Meter von ihnen entfernt völlig verzweifelt auf der Straße aufgetaucht war.
„James", entkam es dem Schicksal voller Erleichterung. Ihr Körper drängte sie, zu ihm zu laufen. Unsanft wandte sie sich hin und her, um dem festen Griff von F-67 zu entkommen. Doch deren Finger hatten sich beinahe eisern und unbeweglich um ihren Arm gelegt.
„Bitte, nur ein letztes Gespräch", wimmerte sie schon fast. In diesem Moment trafen weitere Kontrolleure ein und nahmen auch das Zufallswesen fest, welches sich wie ein wildes Tier dagegen wehrte.
„Grace, ich -", doch bevor sie das Ende seines Rufes wahrnehmen konnte, hatte sich F-67 mit ihr fortteleportiert und hatte die beiden Liebenden somit erneut voneinander getrennt.
„Nein", schluchzte S-203, als sie in den Wartehallen ankamen, welche die Menschen wohl vielmehr als Gefängnis bezeichnet hätten. Diese Räume dienten lediglich zum Überbrücken der Zeit, bis ein Prozess stattfinden würde.
„Das könnt ihr nicht machen. Wir können nichts dafür, dass wir uns erinnern können. Und dieser Unfall damals war nicht natürlich. Das weißt du doch sicher am besten!", schrie sie F-67 voller Wut und Entrüstung entgegen.
Sie konnte nicht akzeptieren, dass sie beide für etwas bestraft wurden, das sie selbst nicht beeinflussen konnten. Doch das orangegekleidete Wesen verschwendete nicht einen weiteren Blick auf das elendige, schwache und menschenähnliche Schicksalswesen, welches gekrümmt vor Trauer und Wut auf dem weißen Boden hockte. Die helle Tür schloss sich und ließ S-203 mutterseelenallein und voller Zorn zurück.
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