Kapitel 14

Schuldbewusst tapste die junge Frau den dunklen Korridor durch das Anwesen ihres Verlobten. Die Zweifel in ihrem Inneren nagten an ihr wie ein Raubtier an seiner Beute, während sie nervös einen Brief mit der Aufschrift „Zachary" in den Händen hielt.

Gleichzeitig strotzte ihr Körper geradezu voller Glückseligkeit, da sie James heute endlich wiedergesehen hatte. Sie hatte keine Sekunde darüber nachdenken müssen, ob sie sich auf sein Treffen einlassen würde oder nicht. Für sie gab es all die letzten Wochen nur ihn und sie wollte ihm eine endgültige Aussprache nicht verwehren.

Zuerst war es ungewohnt gewesen, ihn plötzlich wiederzusehen. Doch nachdem er ihr erklärt hatte, dass er sie an jenem folgenschweren Tag nur kurz verlassen hatte, um in die nächste Stadt zu fahren, hatte es die zwei augenblicklich zurück in ihre gemeinsame Zeit versetzt.

All die Gefühle waren erneut in ihr hochgekocht, hatten sie wieder diese fast magische Anziehung zu ihm spüren lassen. Dass sein Auto gerade dort gestohlen worden war und er somit ohne Geld und ohne Fahrzeug nicht so schnell zu ihr zurückkehren konnte, war nicht geplant gewesen.

Beide hatten eingesehen, dass sie an jenem Tag leider Gottes Pech gehabt hatten und nun aber die Chance bekamen, erneut miteinander zu beginnen. Sie hatten keinen genauen Plan, keine besonders gute Lösung für ihre Situation.

Das Einzige, was sie wussten, war, dass sie zusammen fortgehen wollten. Fort von ihrer Familie, fort von der arrangierten Ehe und hinein in ihr Abenteuer. Sie wollte mit James zurück nach Schottland, wo sie sich so frei und endlich wie sie selbst gefühlt hatte.

All dies hatte sie Zachary in diesem kurzen Brief erklärt. Dass sie jemand anderes gefunden hatte, dass sie ihn leider nicht liebte und dass sie fortwollte, um ihr Leben woanders fortzuführen.

Nachdem sie das Papier still und heimlich vor Zacharys Tür platziert hatte, huschte sie eilig wieder hinunter und schloss ein letztes Mal die Eingangspforte hinter sich.

Sie wusste, dass ihr plötzliches Verschwinden ohne richtigen Abschied nicht sonderlich höflich war sondern vielmehr feige. Doch sie wollte nicht länger warten und stieg – die Gedanken an die Zurückgelassenen verdrängend – zu James ins Auto. Plötzlich wieder neben ihm zu sitzen, erfüllte sie mit Aufregung und Vorfreude.

*

Die kleine Hochzeitszeremonie hatten sie spontan in einer Kirche durchführen lassen, an welcher sie auf ihrer Reise in den Norden vorbeigefahren waren. Sie war ganz schlicht und dafür umso intimer gewesen, da sie nicht einmal Musik oder gar ein besonderes Outfit getragen hatten. Vor dem Gotteshaus hatten sie lediglich noch ein paar Blumen gepflückt und zu einem kleinen Strauß zusammengebunden.

Nachdem die junge Frau James das Ja-Wort gegeben hatte, waren sie sofort wieder ins Auto gestiegen, um noch die letzten Kilometer hinter sich zu bringen.

„Haben wir eigentlich ein genaues Ziel?", fragte die neue Mrs. Holmes ihren Mann.

„Ja, aber das ist eine Überraschung", gab James mit frechem Grinsen von sich. Er hatte ihr noch nicht erzählt, dass er damals in die Stadt gefahren war, um das leerstehende Landhaus vom Erbe seiner Eltern zu kaufen.

Er erinnerte sich noch immer an ihre sehnsüchtige Erzählung von den Kirschbäumen und der kleinen Tierfarm, welche sie sich wünschte. Schon zu diesem Zeitpunkt war er sich sicher gewesen, dass er ihr genau dieses Leben ermöglichen wollte.

Und auch sie hegte ein Geheimnis in ihrem Inneren, von welchem sie ihm erst später zu einem passenderen Zeitpunkt erzählen wollte. Liebevoll hatte sie ihre Hand auf ihrem Bauch abgelegt und blickte hinaus in die dunkle Nacht.

Außer ihnen war kein Auto auf der Straße unterwegs und laut James müssten sie schon bald ihr Ziel erreichen. Doch der friedliche Moment wurde schlagartig zum Albtraum.

Reifen quietschten, das Auto begann sich zu überschlagen und dann war plötzlich alles dunkel. Die Rothaarige nahm Schemen einer Frau wahr, bis sie ihre Augen reflexartig zusammenkneifen musste, da sie von einem grellen Licht geblendet wurden.

*

Die Panik, welche S-203 nun seit Wochen bereits kannte und immer wieder erneut durchleben musste, ließ ihren Hüllkörper beinahe zittern. Kopfschüttelnd sprang sie von ihrem Teppich auf, auf welchem sie wohl zusammengesunken war.

Wie ein aufgeregter Tiger streifte sie durch ihre kleine Zentrale. Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren. Vor ihrem inneren Auge spielten sich all die Szenen ab, welche sie sich laut ihrer Freunde nur einbildete. Dabei war es doch unmöglich, sich all diese Bilder, diese Emotionen auszudenken. Schließlich hatte sie das Gefühl, sie nicht nur zu sehen, sondern tatsächlich zu erleben.

Oder eher erlebt zu haben?

Sie gestattete ihren Gedanken, die möglichen Theorien zuzulassen. Waren es Erinnerungen an ihr damaliges menschliches Leben? Aber weshalb konnte sie sich überhaupt erinnern, wenn sie den Fügungswesen doch eigentlich all ihre Erinnerungen nahmen? Hatte es bei ihr nicht funktioniert?

„Aber was ist mit Z-11?", flüsterte sie nachdenklich vor sich hin. Mit ihren Händen fuhr sie durch ihre wilden, roten Locken. Ihre Finger hatten den Drang, sich zu beschäftigen, sie wollten zur Beruhigung an etwas herumfriemeln.

S-203 hörte die Stimme des Karmas in ihrem Kopf, welche Angst um sie gehabt hatte und welche sie regelgerecht angefleht hatte, die Nachforschungen ruhen zu lassen.

Aber das Schicksal konnte nicht länger ruhig bleiben bei dem Gedankenstrudel in ihrem Inneren. Als wäre ein Tsunami durch ihren Kopf gefegt, welcher lediglich Chaos und Verwüstung mit sich brachte.

Mit einem Fingerschnipsen ließ sie einen schwarzen Stift erscheinen und begann drei Strichmännchen an ihre Wand zu malen. Darunter schrieb sie die Namen „Zachary", „James", und ein schwaches „ich?".

Mit geschlossenen Augen versuchte sie sich an die Bruchstücke zu erinnern, welche sie in den letzten Wochen so gut es ging, verdrängt hatte.

Sie dachte zurück an den älteren Mann, welcher der jungen Frau eine Ohrfeige verpasst hatte, da sie keine Ehe mit einem Fremden eingehen wollte. Nach und nach wurden die Bilder vor ihr deutlicher und nahmen mehr Gestalt an.

„Zachary war der wohlhabende Mann, den sie heiraten sollte. Das wollte sie nicht, also floh sie und sprang geradewegs in James Auto", ging sie zum besseren Verständnis für sich selbst das Geschehen durch.

An die Wand vor sich zeichnete sie die Frau und Zachary im Hochzeitsoutfit und strich sie anschließend fett durch. Daneben entstand eine rennende Frau, welche auf ein Auto stieß. Rechts davon schrieb S-203 in großen Buchstaben „Schottland", wohin es die zwei Reisenden letztendlich getrieben hatte.

Zwischen James und der Frau mit dem schwachen Titel „ich?" zeichnete sie ein Herz für die aufblühende Liebe, welche während ihres kleinen Abenteuers entstanden war.

„Danach sein Verschwinden, die Verlobung mit Zachary und dann plötzlich ein erneutes Treffen mit James. Gefolgt von einer heimlichen Hochzeit und dann ... dann", S-203 schluckte schwer, da sie das Gefühl hatte, einen schweren Kloß in ihrer Hülle zu besitzen.

„Der Unfall", flüsterte sie schockiert vor sich hin, da ihr diese Szene wie ein böser Albtraum im Gedächtnis hing. Allein der Gedanke daran ließ die Panik erneut aufflammen.

Der Stift entglitt ihren zittrigen Fingern und fiel geräuschlos zu Boden. Angstvoll legte sie ihre Hand auf die Stelle, an welcher einmal ihr Herz kräftig vor sich hingeschlagen hatte. Sie konnte förmlich die Schnelligkeit spüren, sich daran erinnern, wie es beinahe vor Aufregung geschmerzt hatte.

Die Frage nach dem „Warum gerade ich?" klammerte sich verbissen an sie und ließ sie an nichts anderes mehr denken. S-203 konnte nicht mehr in Ruhe nachdenken. Ihre Geduld und Gelassenheit hatten sich von ihr verabschiedet und ließen sie mit der Ungewissheit und ihren überfordernden Gefühlen allein.

„Wieso bin ich so?", schluchzte sie leise und mit fehlendem Verständnis in die Stille des Raumes.

„Bin ich wirklich so anders?", fragte sie, ohne eine Antwort zu erhalten. Ihre Füße trugen sie von der einen Seite zur anderen. Sie waren ruhelos – genau wie das Innere des Schicksals, das sich nicht mehr mit banalen Ausreden zufriedengeben konnte. Als wäre das Fass voller unerlaubter Gefühle nun endgültig übergelaufen.

Mit einem kurzen Lichtblitz teleportierte sie sich hinaus und befand sich keine Sekunde später inmitten der Shibuya Kreuzung in Tokyo. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, wohin sie eigentlich wollte. Sie wollte einfach nur fort. Nicht einmal an ihre Uniform als Schicksal hatte sie gedacht, weshalb ihr rotes Kleid nun allein in ihrer Zentrale am Kleiderschrank hing.

Die Motorengeräusche der Autos drangen laut an ihre Ohren. Neben ihr fuhren die bunten Fahrzeuge vorbei, nahmen keine Rücksicht auf das unsichtbare Wesen, welches völlig aufgelöst und desorientiert auf der Straße stand.

Sie spürte das unangenehme Gefühl, wenn eine der Blechkisten geradewegs durch sie hindurchfuhr. Das Großstadtchaos trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Das Schicksal hörte laute Stimmen, das Hupen der Autos, quietschende Reifen.

Planlos drehte sie sich im Kreis, als die Autos urplötzlich an den roten Ampeln hielten und die Kreuzung für die unzähligen Menschen freigegeben wurde, welche bereits darauf warteten, auf die andere Seite zu gelangen.

Umgeben von hektischen, telefonierenden Erdenbewohnern setzte sie wie von der Tarantel gestochen einen Fuß vor den anderen. Getrieben von den auf sie niederhagelnden Emotionen durch die nichtsahnenden Menschen hindurch. Nicht weit von ihr war ein Glückswesen aufgetaucht, welches soeben einen Glückscent auf dem Asphalt zurückließ.

„Hast du manchmal auch das Gefühl, dich an dein menschliches Leben zu erinnern?", fragte sie – trotz fehlender Lungen – fast atemlos. Der vernünftige Teil ihres Körpers hatte sein Amt vollständig niedergelegt und ließ sie diese verbotene Frage - ohne einen einzigen Gedanken an deren Konsequenzen - dem anderen Wesen stellen.

Entgeistert schaute der Ältere in grüner Uniform sie an. Er konnte den Sinn ihrer Frage nicht verstehen. Noch nie hatte er über sein vergangenes Leben nachgedacht. Nicht eine Sekunde hatte er daran verschwendet.

Wozu auch, wenn er unbesiegbar und völlig ohne Sorgen, Schmerzen und Ängsten den Menschen mit seiner Arbeit helfen konnte? Also schüttelte er nur den Kopf und blickte dem verwirrten Fügungswesen hinterher, welches bereits losgerannt war, um den nächsten zu befragen.

„Fühlst du denn nicht auch manchmal?", stellte sie dem unbekannten Karmawesen die Frage. Doch schon vor dem Beenden ihres Satzes war ihr klar, dass auch sie ihr keine zufriedenstellende Antwort geben würde.

Keins dieser Wesen könnte ihr auf die Schnelle eine Lösung oder eine einfache Erklärung für ihre abnormalen Fragen bieten. Doch die innere Verzweiflung krallte sich an das letzte bisschen Hoffnung, um nicht endgültig den Verstand zu verlieren.

„Nein, wieso sollte ich? Geht es dir gut?", entgegnete das weibliche Wesen im gelben Blazer. Das aufgewühlte Schicksal wollte die immer gleichen Reaktionen jedoch nicht akzeptieren.

„Ich kann doch nicht die Einzige mit diesen Gefühlen sein", stammelte sie leise vor sich hin und war mittlerweile auf dem Gehweg angekommen.

Angst stieg in ihr unaufhaltsam auf und kroch ihr in jede einzelne Pore hinein. Angst, dass sie völlig allein mit diesen Emotionen war. Dass keiner auf und über der Welt sie verstehen könnte. Dass SIE tatsächlich das Problem war. Das defekte Fügungswesen, für welches jegliche Hilfe zu spät kam.

„Du musst dich doch auch manchmal an dein menschliches Verhalten erinnern", rief sie dem nächstbesten Wesen ins Gesicht. Voller Abscheu blickte das Pechwesen sie an und blickte fast bemitleidend auf sie herab.

„Ich bin doch keiner dieser schwachen Menschen", schnauzte er sie beleidigt an und stampfte an ihr vorbei. Völlig verloren stand das Schicksalswesen in der großen Menschentraube und doch fühlte sie sich so allein wie nie zuvor.

Konnte denn tatsächlich keiner ihre Sorgen nachvollziehen? Waren nicht alle Fügungswesen durch die fehlenden Erinnerungen irgendwie gleich? Sie gaben ihr die gleichen Antworten, sie interessierten sich nur für ihre Arbeit, waren stolz, dass sie von Gott Yzandiel für eine solch wichtige Aufgabe auserkoren worden waren. War der strenge Umgang mit den Regeln, welche ihnen schon im ersten Unterricht eingetrichtert wurden, nicht sogar eine Art Brainwash?

Verständnislos irrte die Rothaarige umher. Sie wusste nicht weiter, nicht wohin mit sich. Niemand schien ihr eine helfende Hand reichen zu können, um sie aus dem Trümmerberg ihres Verstandes zu ziehen.

Unsanft stieß sie gegen einen Hüllkörper und verlor kurz ihr Gleichgewicht. Zwei Hände packten sie und gaben ihr die nötige Stabilität.

„Was machst du denn hier?", fragte die bekannte Stimme völlig entsetzt. Mit Angst in den Augen starrte sie hinauf in Z-11s Gesicht. Gerade ihn hatte sie hier am wenigsten erwartet und doch war sie gerade ihm in die Arme gelaufen.

Voller Sorge und ansteigender Panik erkannte der Zufall die Aufmerksamkeit, welche S-203 mit ihren kritischen Fragen auf sich gezogen hatte. Ein paar Fügungswesen waren stehen geblieben und warfen ihr skeptische Blicke zu.

„Wieso bin ich die Einzige, die so fühlt?", schluchzte sie ihm völlig entkräftet entgegen. „Das besprechen wir gleich, okay? Aber fürs Erste müssen wir hier weg", sprach er möglichst ruhig, doch die Hektik machte sich bereits in ihm breit. Er packte ihr Handgelenk und zog sie in der nächsten Sekunde mit sich.

Das Schicksal war so aufgelöst, dass sie den plötzlichen Ortswechsel kaum wahrnahm. Unbändig lief sie in Z-11s Zentrale auf und ab. Es war ihm nicht möglich sie zu beruhigen oder gar zum Stehenbleiben zu bewegen.

„Was stimmt denn nicht mit mir?", sprach sie ihre Sorgen laut aus, während er ihre Überforderung nur hilflos mitansehen konnte.

„Fügungswesen können sich nicht erinnern. Sie haben kein überaus starkes Mitgefühl mit den Menschen. Sie sind nicht neugierig. Sie sind einfach nur gewissenhafte Arbeiter ohne besonders starke Gefühle. Sie verspüren keine besondere Zuneigung und erst recht keine Liebe. So zumindest sollte es sein!", rief sie laut in den Raum hinein.

Ihre Füße trugen sie zur rechten Seite, wo sie eine Wendung machte und den Weg zurück zur gegenüberliegenden Wand lief.

„Aber wieso ist es bei mir nicht so?", stellte sie die schwierige Frage, doch sie gab dem Zufall nicht einmal die Möglichkeit, sie zu beantworten.

„Wieso bin ich anders? Ich ... ich erinnere mich nicht nur, sondern ich fühle auch."

Augenblicklich blieb sie stehen und schaute geradewegs zu Z-11. Ihre Augen trafen aufeinander und schienen nicht mehr voneinander ablassen zu können. Auf direktem Weg trat sie zu ihm, sodass ihre plötzliche Nähe die Ketten seiner Aufregung löste. Unbändig preschte diese wie ein Raubtier hervor, sodass er seine Hände zu Fäusten ballen musste, um dieser Nervosität standzuhalten.

„Anfangs fand ich dich unglaublich nervig. Doch mittlerweile sehne ich mich geradezu danach, meine Zeit mit dir zu verbringen. Die Tage ohne dich vergehen deutlich langsamer und die Stunden mit dir dafür wie im Zeitraffer. Ich habe das Gefühl, dich zu brauchen. Deine Scherze, deine Neckereien und ab und zu auch deine süßen Bemerkungen. In deiner Anwesenheit fühle ich mich keineswegs wie ein Fügungswesen. Mit dir bin ich viel mehr Mensch als ich sein sollte, als ich sein dürfte. Mit dir fühle ich."

Voller Aufregung blickte sie ihn an. Sie entlud sich all ihrer Emotionen, machte sich frei von den lähmenden Gedanken. Er konnte die Ehrlichkeit und Wichtigkeit ihrer Worte förmlich in ihren Augen erkennen.

Auch dem Zufall ging einiges Ungesagte durch den Kopf, was er jedoch nicht aussprach, da die rothaarige Frau vor ihm ihn mit ihrem Geständnis die Stimme geraubt hatte. Die Angst vor Konsequenzen zügelte ihn und seine tiefsten Gedanken. Behutsam griff sie nach seiner Hand und legte sie auf ihrer linken Brust ab.

„Manchmal, wenn du ganz nah bei mir bist, erinnere ich mich, wie sich mein Herzschlag früher angefühlt hat. Als würde es neben dir an Schnelligkeit zunehmen. Fast als wäre ich ... verliebt."

Eine kurze Stille trat ein, nachdem sie das – für ein unsterbliches Wesen – Unmögliche ausgesprochen hatte.

„Wie fühlt sich Liebe an? Ich weiß, dass ich als Schicksalswesen so viel mit den Menschen und ihren Gefühlen zu tun habe wie kein anderes Fügungswesen. Ich kenne die Liebe und ihre verschiedenen Formen und Gestalten in- und auswendig. Also sollte ich wohl am besten wissen, wie sie sich anfühlt, nicht wahr?", fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten.

Der Zufallsmann konnte ihr lediglich zuhören. Er hing förmlich an ihren Lippen und traute sich kaum, ihre Worte zu glauben.

„Und doch kann die Liebe so verschieden sein. Sie kann offen und voller Inbrunst geäußert werden. Sie kann aber auch heimlich auf stille Art und Weise gelebt werden und dennoch genauso stark sein. Ich habe keine Ahnung, wie es dir geht. Ob meine Worte für dich völliger Schwachsinn sind, denn für mich sind sie das auch. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich dir all das erzähle, weshalb diese Gefühle auf einmal so stark sind. Mein ganzer Körper drängt danach, die Wahrheit laut hinauszurufen. Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass du der Einzige bist, der mich womöglich verstehen könnte. Der Einzige, der mich nicht von sich stoßen würde, der mich so mag, wie ich nun mal bin. Der mich sogar genau aus diesem Grund so mag. Was ich dir also mit all diesen konfusen Erklärungen sagen möchte:

ich glaube, ich liebe dich."

Ihre offene Aussprache und der feste Druck seiner Hand in ihrer hatten das Schicksal ein wenig beruhigen können. Nie zuvor hatte sie über das mächtige Wort der Liebe nachgedacht. Es war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, dass sie derart fühlen könnte. Doch jetzt gerade spürte sie es so deutlich, so klar und wahrhaftig, wie es nur ein Mensch konnte.

Die Freude, die ihren Bauch in seiner Nähe kitzelte, das Grinsen, das sich bei seinem Anblick in ihr Gesicht schlich und ebenso die seltsame Anziehung, die sie von Beginn an verband, sprachen nun für sich. Für die Liebe. Mächtig und unvorhersehbar hatte sie das Schicksalswesen wie ein Pfeil Armors getroffen.

Für einen kurzen Moment schloss Z-11 seine Augen und schien seine Gedanken zu sortieren. Er war sich der Folgen seiner Antwortmöglichkeiten mehr als bewusst, weshalb er nichts Unüberlegtes sagen durfte. Noch immer traute er sich nicht, alle Karten offen preiszugeben und sich vollkommen den Konsequenzen hinzugeben.

„Dir ist sicher bewusst, dass all deine Worte ein großes Risiko mit sich bringen. Du darfst so nicht fühlen! Du darfst keine Nachforschungen anstellen! Was, wenn sie dich schnappen, wenn sie dich verurteilen? Du hast vorhin genug Aufmerksamkeit auf dich gezogen", sprach er ernst und voller Sorge aus.

Die Angst um sie nahm ihn bis in die letzte Zelle ein und verdrängt die Sehnsucht, welcher er nicht mehr lange standhalten könnte. Er hielt beide ihrer Hände fest umschlungen, da sein Körper Angst bekam, sie könnte ihm entgleiten, er könnte sie verlieren.

Erneut.

S-203 erinnerte sich an das Gefühl von aufsteigenden Tränen. Ihr Hüllkörper schien mehrere Kilos an Gewicht zugenommen zu haben und zog sie deprimierend zu Boden.

„Es ist einfach zu gefährlich für uns", flüsterte er bedrückt.

Augenblicklich wich sie einen Schritt zurück.

„Für uns?", wiederholte sie spannungsgeladen, da seine Worte die Glut ihrer Hoffnung erneut zum Aufflammen gebracht hatte. Als hätte sie ihn ertappt, riss er seine Augen weit auf. Er wusste, dass eine Ausrede sie nicht ruhigstellen würde.

„Fühlst du ... etwa auch?", hakte sie hoffnungsvoll und zugleich voller Anspannung nach, während sie ihm unentwegt in die Augen blickte. Der Griff um ihre Hände wurde fester und stumm schluckte er kurz, bevor er ihr die Antwort geben konnte, nach der ihr ganzer Körper regelrecht verlangte. Er legte seinen Kopf – kaum sichtbar – schief und seine Mundwinkel zuckten kurz hinauf zu einem traurigen Lächeln.

Er wollte sie nicht länger im Glauben lassen, dass sie völlig allein war. Er konnte nicht mehr mit ansehen, dass sie sich für völlig verrückt hielt und dass er sie stets belog. Entschieden beugte er sich zu ihr vor und legte seine Lippen auf ihre. Der Kuss überraschte sie.

Sie spürte die plötzlich eingetretene Glückseligkeit in ihrem Inneren, welche kaum noch zu übertrumpfen war. Das Schicksal fühlte die Liebe, diese überaus menschliche Liebe, welche sie für ihn empfand. Als würde ihr nichtexistierende Herz hinausspringen wollen.

Am liebsten hätte sie ihn noch fester an sich gepresst, da ihr seine Nähe nie nah genug erschien. Sie wollte ihn nicht mehr gehen lassen, keine Sekunde ohne ihn verbringen. Es war ihr völlig gleich, dass sie gerade diese eigentlich doch verbotenen Gefühle hegte. Vielmehr genoss sie es, da diese sie umso mehr leben ließen.

Langsam ließ er von ihr ab, doch seine Hände hielten ihre Wangen weiterhin umschlossen. Sachte lehnte er seine Stirn an ihre und genoss den intimen Moment, welchen er so lange vermisst hatte.

„Wir müssen wirklich aufpassen. Sie beobachten uns und wenn ich wetten könnte, suchen sie sicher bereits nach dir. Grace, du ...", flüsterte er besorgt und machte erschrocken einen Schritt von ihr weg.

„Grace?", fragte sie völlig verwirrt und versuchte sich an den eben gehörten Namen zu erinnern.

„Nein, ich ... du hast dich verhört. Du musst jetzt fort, bitte, okay? Du musst gehen und gut auf dich aufpassen. Vielleicht vergessen sie die Sache, wenn du unauffällig bleibst."

Sie spürte die Panik in seiner Stimme. Z-11 wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten, bis die Führungsebene von ihren übrigen menschlichen Gefühlen und Erinnerungen erfuhr und ihre Standorte ausfindig machte. Doch auch wenn es aussichtslos erschien, wollte er das Schicksal um jeden Preis beschützen.

„Bitte, geh", flehte er regelrecht, auch wenn sein Bett gegen diese Worte mit Mistgabeln und Fackeln rebellierte. S-203 wollte nicht von ihm fort. Sie wollte bei ihm bleiben, gemeinsam mit ihm fliehen und sich verstecken. Doch die Dringlichkeit seiner Worte entging ihr keineswegs. Sie hatte den Bogen bereits überspannt und wenn er recht hatte, würde bald nach ihr gesucht werden.

Eilig ging sie zur blauen Wolkentür und riss sie auf. Ein letztes Mal schaute sie zum Zufall zurück, welcher ihren Blick beinahe angstbebend erwiderte. Sein Körper schrie danach, sie aufzuhalten, doch sein Kopf wusste, dass sie getrennt voneinander bessere Chancen haben würden.

„Bis bald", hauchte sie. Keine Sekunde später erleuchtete alles um sie herum im grellen Licht. Z-11 verschwamm vor ihr, doch kurz bevor sie sich endgültig fortteleportiert hatte, erblickte sie eine schwache 100%, welche über seinem Kopf aufflackerte.

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