Kapitel 11

Sams innere Zerrissenheit ließ ihn vor dem Eingang des Londoner Zoos auf und ab gehen. Nervös fuhr er sich durch die braunen Locken, während seine Finger mit dem Namensschild der Tierpflegerin spielten. Sein Kopf ging alle möglichen Szenarien durch, wie er Julie ihre Karte zurückgeben könnte.

Die letzten Tage hatte er an nichts anderes denken können als an ihre letzten Worte im Krankenhaus. Wenn er sie richtig verstanden hatte, wollte sie ihn wiedersehen und womöglich war dieser rothaarige Mitarbeiter ja doch nur ein Kollege gewesen und nicht ihr Freund. Dieser Gedanke schenkte ihm etwas Mut und ließ ihn gewissenhaft auf das Eingangstor zulaufen.

Doch wenige Meter davor stoppte er und seine Zuversichtlichkeit schwand von jetzt auf gleich. Vielleicht hatte er sie doch missverstanden? Was, wenn sie das Schild tatsächlich nur zufällig verloren hatte? Wenn sie ihn gar nicht sehen wollte? Und selbst wenn sie einander kennenlernen würden, hätten sie kaum Zeit dafür, da er doch bereits in wenigen Wochen zurück nach Oxford zog.

Doch was Sam als Mensch nicht wissen konnte, war, dass er und Julie vom Schicksal auserwählt worden waren. Die beiden würden früher oder später zueinanderfinden und selbst seine momentanen Zweifel konnten daran nichts mehr ändern.

Im Verborgenen führte das Schicksalswesen nicht weit von dem Arzt einen lächerlichen und peinlichen Tanz neben einer Krähe auf, welche sie zwar ebenfalls nicht sehen, aber dafür ihre Anwesenheit und ihre Luftzüge spüren konnte. Ihre unsichtbaren Bewegungen machten den aufgescheuchten, schwarzen Vogel völlig verrückt und ließen ihn krächzend in die Leere rufen.

Die lauten Tiergeräusche und das aufgeregte Wedeln der Flügel machten Sam auf das kleine Spektakel aufmerksam. Stirnrunzelnd betrachtete er die Krähe, welche gegen die Luft zu kämpfen schien und immer wieder laut krächzte. Der junge Mann hatte zwar Medizin studiert und glaubte somit an die Wissenschaft, doch was er da vor sich sah, war ihm nun doch nicht ganz geheuer. Ob die Krähe ihm etwas sagen wollte? Sprach sie mit ihm? Peinlich berührt blickte er sich kurz um, doch keine Menschen waren weit und breit zu sehen.

„Meinst du, ich soll reingehen?", fragte er den Vogel und hielt sich im nächsten Atemzug selbst für verrückt. Erschrocken zuckte er zusammen, als die Krähe urplötzlich aufhörte zu meckern. Verdutzt starrten sich Mensch und Tier für einen Augenblick stumm an.

„Ist das ein Ja?", fragte er zögerlich, was den Vogel erneut krähen ließ. Ungläubig schüttelte Sam seinen Kopf. Jetzt nahm er plötzlich schon Ratschläge von einem Federtier an. Doch das kurze Gespräch – wenn man es denn so betiteln konnte – hatte ihn nun überzeugt. Vielleicht war er völlig verrückt, aber vielleicht war es auch ein Zeichen gewesen. Ein letztes Mal atmete er tief ein und aus und betrat anschließend voller Zuversicht den Zoo.

Wie beim Besuch mit seiner Tochter ging er zuerst linksherum – vorbei an den Pinguinen und Schmetterlingen. Die Sonne verschwand bereits langsam als großer Feuerball hinter dem Horizont. Auf seinem Weg kamen ihm kaum noch Gäste entgegen, da der Park schon bald seine Pforten schließen würde. Die Frau an der Kasse hatte ihn nur noch hineingelassen, da er Julie als Grund seines Besuches genannt hatte.

Mit den Augen suchte er jedes der Gehege ab, während die Aufregung in seinem Inneren immer mehr an Größe zunahm. Sam hatte die Befürchtung, die junge Frau gar nicht mehr zu finden oder am Ende noch dem unangenehmen Kollegen über den Weg zu laufen.

An den Flamingos vorbei ging er weiter ins Land der Löwen. Unter den bunten Fähnchen lief er die indisch inspirierte Gasse entlang, bis er das Gehege der großen Raubkatzen erreichte.

„Na du", sagte er, nachdem er an die Scheibe herangetreten war und das majestätische Tier mit der goldenen Mähne vor sich auf einem hölzernen Wagen erblickte.

„Weißt du vielleicht, wo ich Julie finde? Du kennst sie sicher", sprach er weiter mit dem Tier, auch wenn ihm klar war, dass sie einander nicht verstanden. Doch er fühlte sich allein und unbeobachtet und empfand demzufolge keine Scham.

„Wusstest du, dass ihr Brüllen bis zu acht Kilometer weit zu hören ist?"

Erschrocken drehte sich Sam um und erstarrte, als er die kichernde Frau vor sich erkannte.

„Julie", stammelte er und die Röte schoss ihm ins Gesicht.

„Ja, du hast mich also endlich gefunden", grinste sie und trat zu ihm an die Glasscheibe.
„Das ist Arya", merkte sie mit einem Nicken zur Löwendame an, welche sich direkt vor ihnen niedergelassen hatte. „Sie liebt Pfefferminze", fügte sie noch hinzu, was Sam kurz kichern ließ und ihm ein klein wenig seiner Nervosität nahm.

„Kennst du dich mit Löwen aus?", fragte sie ihn und warf ihm einen frechen Seitenblick zu.

„Nicht wirklich. Meine Tochter wollte mich unbedingt auf ein Gespräch mit dir vorbereiten und hat mir verschiedene Fakten über Tiere eingetrichtert."

Lachend fuhr er sich durch die Haare und blieb anschließend mit seinen Augen an ihren hängen. Die Zwei spürten sofort die Wärme, die ihr Gegenüber in ihnen auszulösen schien und mussten sich kurz zusammenreißen, um sich nicht unentwegt anzustarren.

„Sie können nicht nur laut brüllen, sondern auch unglaublich lang schlafen. Ungefähr zwanzig Stunden am Tag", erklärte die Tierpflegerin ihm. Sam schien ihr Wissen geradezu aufzusaugen und genoss es, ihre zarte Stimme endlich wieder hören zu können.

„Wenn du genau hinsiehst, erkennst du auch, dass sie alle einzigartige Schnurrhaarmuster haben. Das ist quasi ihr Fingerabdruck."

„Wow", antwortete der Arzt erstaunt und ging noch einen Schritt weiter an das Glas heran. Müde hatte die Löwendame ihre Augen geschlossen und sah im Schlaf beinahe wie eine zahme, süße – wenn auch sehr groß geratene – Katze aus.

„Nicht zu vergessen, dass sie absolute Lüstlinge sind. In der Paarungszeit haben sie täglich bis zu vierzig Mal Sex", prahlte Julie mit ihrem Wissen und lachte lautstark los, als sie Sams geschockte, großen Augen sah.

„Da können wir Menschen echt nicht mithalten", kommentierte er glucksend und schüttelte staunend den Kopf.

„Wir kennen zwar bereits die Namensschilder des jeweils anderen, aber vielleicht sollten wir uns trotzdem nochmal vorstellen", sagte sie anschließend lächelnd und streckte ihm ihre zierliche Hand entgegen.

„Ich bin Julie Moore, und du?"

„Sam Evans", antwortete er und nahm ihre Hand in seine. Erneut spürte er das Kribbeln in seiner Magengrube umso mehr. Seine Mundwinkel wanderten stetig weiter nach oben und waren unaufhaltsam.

„Soll ich dich noch ein wenig rumführen?", fragte sie ihn mit strahlenden Augen. Seine Hand ließ sie jedoch nicht los und zog ihn nach seinem zustimmenden Nicken mit sich. Sie verließen das Indien nachempfundene Viertel und spazierten an den Gehegen der Affen vorbei.

„Darf ich dich etwas sehr Persönliches fragen?", begann Julie völlig ernst, als sie im Dämmerlicht den beleuchteten Pfad entlangschlenderten. Neugierig blickte Sam hinab in ihr Gesicht, welches von den Laternen erhellt wurde und antwortete mit einem Nicken.

„Wie geht es dir mit deiner Familiensituation?" Für einen kurzen Moment blieb er stehen, da er sich nicht erklären konnte, woher sie davon wusste. Doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

„Millie, die kleine Plaudertasche", lachte er kopfschüttelnd und setzte wieder zum Gehen an. „Ich denke, dass es mir mittlerweile wieder richtig gut geht. Meine Exfrau und ich waren schon in der Schulzeit befreundet, doch sie liebte einen anderen, der für sie unerreichbar war. Später nach dem Studium haben wir uns wieder getroffen, sind zusammengekommen, haben geheiratet. Alles, was ganz klischeehaft dazugehört. Aber sie konnte ihren Jugendschwarm nie ganz vergessen. Ich fühlte mich immer wie die zweite Wahl, wie derjenige der sie von der wahren Liebe abhielt. Und in diesem Moment habe ich die Reißleine gezogen. Auch wenn es für mich sehr schwer war, habe ich sie und ihren damaligen Schwarm nach all den Jahren zusammengeführt, damit sie endlich glücklich sein konnte. Und ich bereue es kein bisschen. Glaubst du an so etwas wie Schicksal?", fragte er Julie, welche ihm gebannt zugehört hatte.

„Manchmal schon", antwortete sie verträumt und blickte ihm strahlend in die Augen.

„Ich sage mir manchmal, dass es so sein sollte, dass ich das Bindeglied zwischen den beiden sein sollte. Dass es meine Aufgabe war, sie zusammenzubringen und nicht mit ihr zusammen alt zu werden. Außerdem habe ich Millie in meinem Leben dazugewonnen. Und wenn das Schicksal glaubt, dass nun meine Zeit der wahren Liebe gekommen ist, dann wird es irgendwann so sein. So sehe ich das", gab er schulterzuckend zu und entgegnete der Tierpflegerin ein ebenso breites Lächeln.

„Vielleicht ist deine Zeit ja genau jetzt", flüsterte sie, was sein Herz einen kurzen Extraschlag machen ließ. Doch bevor er etwas erwidern konnte, hatte sie ihn bereits an der Hand geschnappt und zog ihn weiter hinter sich her.

„Komm, ich zeig dir unsere Tiny Giants", rief sie aufgeregt und die beiden verschwanden im düsteren Haus der Kleintiere. Die Beleuchtung wurde schon automatisch ausgestellt und lediglich die kleinen Lichter in den Terrarien ließen sie nicht komplett im Dunklen tappen.

„Findest du es nicht ein bisschen unfair, dass du nun schon ziemlich viel über mich weißt und ich kenne lediglich deinen Namen und deinen Beruf?" Grinsend blickte sie in sein schattiges Gesicht und ging rückwärts ein paar Schritte von ihm fort.

„Ich mag es, andere mit Tierfakten zu überraschen", begann sie aufzuzählen und machte eine Drehung in die Dunkelheit hinein. Sam folgte ihr langsam voller Glückshormone.

„Ja, das habe ich schon mitbekommen", entgegnete er ihr und konnte sich beim Gedanken an die lüsternen Löwen ein Lachen nicht verkneifen.

„Spinnen haben übrigens blaues Blut", erklärte sie, um ihre zuvor genannte Eigenschaft noch einmal zu untermalen.

„Schau, die ist besonders schön", sagte sie staunend, nachdem sie sich mit einer weiteren Drehung auf dem rechten Fuß zu den Terrarien gedreht hatte. Voller Bewunderung starrte sie auf die blaue Vogelspinne hinab. Sie spürte die Gänsehaut, als sie Sams Oberkörper dicht hinter sich spürte. Voller Abneigung blickte er über ihre Schulter.

„Hast du Angst vor Spinnen?", fragte sie ihn beinahe spottend, als sie seine Mimik bemerkte.

„Nein. Vielleicht. Ein kleines bisschen", gab er zu und konnte nicht leugnen, dass er die gemeinsame Zeit mit Julie gerade mehr als genoss. Sie blödelten herum, neckten sich gegenseitig und in der nächsten Sekunde konnten sie über die ernsten Themen des Lebens sprechen.

„Wie sieht es mit Skorpionen aus?", fragte sie kichernd und war beschwingt zum nächsten Terrarium gehüpft und hatte ihren Kopf – beinahe so, als würde sie kuscheln wollen – gegen das Glas gelehnt.

„Mit diesen Tieren kannst du mich jagen", rief er laut aus und machte scherzend ein paar Schritte in die dunkle Raummitte zurück.

„Okay okay, also lassen wir die Spinnentiere und Insekten lieber, ja?", kam sie ihm beschwichtigend entgegen.

„Was sollte ich noch über dich wissen?", fragte er erneut, während er merkte, dass er mit der Zeit immer lockerer und entspannter wurde. Julie fühlte sich kaum noch wie eine Fremde, sondern vielmehr wie eine langjährige Bekannte an.

„Ich liebe Tiere schon, seit ich ein kleines Kind bin. Meine Mutter hatte mit ihrem Mann einen Farmhof auf dem Land, sodass die meisten meiner Freunde damals Vierbeiner waren", erzählte sie glücklich und lief ihm voraus zu den größeren Terrarien der Geckos. Mit langsamen Schritten ging er ihr nach, ließ seinen Blick über die kleinen Tiere neben sich gleiten, doch seine Augen wurden immer wieder von der jungen Frau vor ihm angezogen.

„Darf ich noch einen Fakt über dich zu der Liste hinzufügen?" Überrascht blieb sie stehen und drehte sich verwirrt grinsend zu ihm um.

„Nur zu."

„Du trägst gerne Parfüm mit Mandelduft", stellte er fest, da er auch heute wieder den bekannten Geruch wahrgenommen hatte. Mit großen Augen schaute sie ihm entgegen und schien zum ersten Mal sprachlos zu sein.

„Sowas fällt dir auf?", fragte sie kopfschüttelnd und grinste in sich hinein.

„Den Geruch habe ich schon beim ersten Treffen in der U-Bahn wahrgenommen. Irgendwie scheint er dein Erkennungsmerkmal zu sein", antwortete er.

„Dein Julie-Fakt ist aber leider nicht ganz korrekt. Es ist kein Parfüm, sondern die selbstgemachte Handcreme meiner Oma", stellte sie richtig und begann unbemerkt ihre Hände zu kneten.

„Sie hat damals, als mein Opa gestorben ist, die ganze Farm allein übernommen und am Leben gehalten. Ohne sie hätten es die Tiere dort nie so gut gehabt", erzählte sie mit stolzem Lächeln.

„Du hast nicht zufällig Medizin studiert?", sprudelte es plötzlich aus Sam hinaus. Er wusste nicht einmal, weshalb er diese Frage stellte, doch sie schien tief aus seinem Inneren zu kommen.

„Ja, wieso?", fragte sie völlig entgeistert.

„Ich habe das Gefühl, diesen Mandelduft schon einmal gerochen zu haben. Damals in dieser einen Vorlesung bei Professor-"

„Thorsan!", beendete sie mit großen Augen seinen Satz, bevor sie zu lachen begann. „Das kann doch kein Zufall sein", gab sie kopfschüttelnd von sich. „Aber ja, ich wollte erst Tierärztin werden und nach drei Semestern habe ich mich dann entschieden, lieber Tierpflegerin zu werden. Du ... du warst derjenige, der immer alleine saß, oder? Ich weiß noch, dass alle diese Grüppchen gebildet haben und du warst der gut aussehende Einzelgänger mit dem traurigen Blick", erinnerte sie sich schlagartig.

„Gut aussehend also?", hakte er frech nach.

„Ja, und das bist du auch heute noch", erwiderte sie ihm lächelnd.

Ihre rechte Gesichtshälfte wurde regelgerecht von der Dunkelheit des Raumes verschlungen, während die Lampen der Terrarien kleine, helle Lichtpunkte auf ihre linke Wange warfen.

„Du schon wieder", hörten sie eine tiefe – fast feindselige – Stimme aus der hintersten Ecke des Raumes erklingen. Erschrocken zuckten die Zwei zusammen. Ihre Herzen galoppierten ihnen geradewegs davon und augenblicklich stieg die Angst in Julie auf.

„Greg", sprach sie mit kalter Stimme und voller Abneigung. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, als er langsam aus der Dunkelheit trat und auf sie zukam.

„Der Park hat bereits geschlossen. Sie haben hier also nichts mehr zu suchen", sprach der rothaarige Tierpfleger, dessen Eifersucht beinahe wie ein buntes Reklameschild sichtbar war.

„Er gehört zu mir", sprach Julie laut und deutlich und versuchte all ihr Selbstbewusstsein in ihre Stimme fließen zu lassen.

„Ist er dein Freund?", traf sie die vorwurfsvolle Frage. Doch bevor sie antworten konnte, hatte sich Sam schützend vor sie gestellt. Er hatte sofort gespürt, dass dieser Mann ganz und gar nicht Julies Freund – ja nicht einmal ein guter Bekannter – war. Ihre Abneigung dem Kollegen gegenüber war nicht übersehbar, sodass er die Chance ergriff, um sie beide aus der unangenehmen Situation zu retten.

„Ja, das bin ich. Also lässt du mich und meine Freundin jetzt bitte allein? Wir möchten ungestört sein und das geht nur ohne deine Anwesenheit. Da ist der Ausgang", sprach er laut und voller Ruhe in der Stimme.

Greg machte sich bei der Zurückweisung automatisch ein wenig kleiner. Er spürte, dass er nicht erwünscht war und erst recht nichts anderes tun konnte, als zu gehen. Wie eine feige Hyäne, welche wusste, dass sie verloren hatte, verließ er mit finsterer Miene das Haus der kleinen Tiere. Ein Stein fiel Julie vom Herzen, sodass sie erleichtert ausatmete und sich ihr Körper wieder entspannen konnte.

„Danke", entgegnete sie Sam ehrlich und umarmte ihn, ohne zu zögern, von hinten. Er spürte ihren zarten Körper an seinem Rücken und streichelte beruhigend ihre Hände, welche sie vorn an seinem Bauch zusammengefalten hatte.

„Greg steht schon seit Beginn auf mich. Er akzeptiert meine Zurückweisungen nicht wirklich, als könne er mit dem Gedanken, mich nicht zu besitzen, nicht leben. Manchmal habe ich fast ein bisschen Angst in seiner Nähe", gestand sie und drückte Sam noch ein wenig fester an sich. Er gab ihr den Halt und die nötige Stabilität, die sie jetzt gerade im Moment brauchte.

„Welche Tiere sind denn dort hinten noch?", fragte der Arzt neugierig und zeigte in Richtung des Lichts, welches blaue und sich bewegende Muster an die Wand warf.

„Dort sind die Fische und Quallen", antwortete sie. „Möchtest du sie noch sehen?"

Nickend stimmte Sam ihr zu, da er wusste, dass dies Julies Gedanken wieder aufheitern konnte. Von Freude durchströmt und als hätte sie Gregs gruseligen Auftritt bereits wieder vergessen, ließ sie von ihrem Gast ab und führte ihn zu den beleuchteten Aquarien.

Sie zeigte ihm die gelben Kofferfische, die farbenfrohen Kampffische und Buntbarsche. Vor der deckenhohen Glasscheibe, hinter welcher die verschiedensten Quallen lebten, blieb sie schließlich stehen und blickte begeistert dabei zu, wie sie elegant und wie in Zeitlupe durch das Wasser tanzten.

Ihre Quallenkörper bewegten sich impulsartig nach vorn, sodass sie sich frei bewegten, ohne jedoch zu kollidieren. Einige sahen aus wie Pilze, manche hatten lange, fadenförmige Tentakel. Andere hatten wiederum die Form von roten Blutkörperchen. Ohne Gehirn und ohne Knochen bewegten sie sich fast wie magische Tierwesen hin und her und ließen auch Sam staunend zusehen.

„Wusstest du, dass nicht nur wir Menschen gern monogam leben?", fragte sie in die eingetretene Stille hinein. Kopfschüttelnd blickte er zu Julie hinüber, welche ebenfalls ihren Blick zu ihm wandte.

„Schwarzbrauenalbatrosse gehen quasi eine Ehe ein, kümmern sich gemeinsam um die Brut und verbringen ihr Leben zusammen. Manchmal sieht es sogar so aus, als würden sie sich küssen. Vielleicht sollte man sich daran mal ein Bespiel nehmen", erzählte sie liebevoll lächelnd.

„Meinst du damit uns beide oder die Menschheit allgemein?", fragte Sam, dessen innere Nervosität durch ihren letzten Satz weit in die Höhe katapultiert worden war.

„Beides", erwiderte sie schulterzuckend und schenkte ihm ein freches Grinsen. Ihre braunen Augen blickten ihm fast auffordernd entgegen. Doch Sam, welcher in ihrer Nähe nicht nur seinen Mut verlor, sondern auch die Fähigkeit des Flirtens, schaute sie lediglich zurückhaltend an.

Das beleuchtete Wasser warf blaue Wellen auf ihre Gesichter, während um sie herum alles in Dunkelheit getaucht war. Sein Körper wollte einen Schritt nach vorn machen. Seine Arme wollten sie an sich ziehen, den Mandelduft noch intensiver wahrnehmen und sie letztendlich küssen. Lediglich seine Schüchternheit hielt ihn zurück und kettete ihn förmlich an eine Wand weit weg von ihr.

Doch Julie glaubte nicht an die alten Traditionen. Wozu Ewigkeiten warten, dass der Mann den ersten Schritt machen würde, wenn sie den Kuss jetzt sofort haben könnte? Mit einem siegessicheren Lächeln trat sie nach vorn, ging auf die Zehenspitzen und legte ihre Lippen bestimmt auf seine.

Im ersten Moment fühlte sich der junge Mann noch überrumpelt, doch Julie so nah bei sich zu spüren und zu merken, dass sie scheinbar ganz genauso empfand wie er, ließ die Glückshormone explosionsartig in ihm frei.

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