Epilog
Die warme Sonne strahlte auf die Besucher des kleinen Bauernmarktes hinab. In dem kleinen, schottischen Dorf verkauften die Bewohner ihre Pflanzen, Möbel, Spielzeuge und selbst genähte Kleidung monatlich an ihren Holzständen. Ein Dudelsack ertönte im Hintergrund und einige Männer warfen auf der anliegenden Wiese zur großen Freude der Kinder Baumstämme um die Wette.
„Junger Mann, wollen Sie diesen Rock einmal probieren?", fragte ein rundlicher Mann, dessen Stand geradezu an Kilts überquoll. Er hatte rote, grüne, blaue Röcke in jeglichen Farbkombinationen und Mustern.
„Nein, danke", lachte der junge, dunkelhaarige Mann, welcher suchend über den Markt lief. Sein Blick blieb an dem scheinbar unbewachten Stand hängen, welcher vollgestellt war mit grünen Pflanzen, bunten Blüten, Blumensträußen und an der Seite standen sogar junge Bäume in großen Kübeln.
Zielsicher lief er zu ihnen hinüber, da er genau danach gesucht hatte. Er erkannte große und kleine, runde und spitz zulaufende Blätter. Einige trugen wie der Käse Löcher, doch seinem geringen Pflanzenwissen verschuldet, konnte er keine einzige davon benennen.
„Kann ich Ihnen helfen?", fragte aus dem Nichts die Stimme einer jungen Frau, welche urplötzlich hinter dem Tisch aufgetaucht war.
„Huch", kam es erschrocken aus ihm hinaus, da die Rothaarige zuvor von dem kleinen Dschungel verdeckt worden war.
„Ja, ähm, ich suche nach Pflanzen", stammelte er, da die Erscheinung der grinsenden Frau ihm die Sprache verschlagen hatte. Sein Kopf setzte allein bei ihrem Anblick aus und er bekam das Gefühl nicht los, sie schon einmal gesehen zu haben.
Kurz schluckte er, um den peinlichen Kloß in seiner Kehle loszuwerden. So verhielt er sich doch sonst nie, wenn er einer Frau gegenüberstand. Was war denn nur in ihn gefahren?
Er schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und versuchte sich daran zu hindern, ihr Gesicht genau zu betrachten. Er erkannte die kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase und den Wangen. Ihre strahlend blauen Augen leuchteten wie der wolkenlose Himmel über ihnen und ihre schmalen, rosa Lippen lächelten noch immer keck.
„Sie suchen also ... Pflanzen?", fragte sie gedehnt, da er derart detaillos geantwortet hatte.
„Ja, also Pflanzen für den Garten", erklärte er weiter, doch seine Stimme war brüchig und beinahe schüchtern. Als hätte die Frau vor ihm innerhalb von wenigen Wimpernschlägen aus seinem großen Selbstbewusstsein ein kleines Schoßhündchen gemacht.
„Na also. Nicht für drinnen, nicht für den Balkon, sondern für draußen", zog sie ihm die Fakten weiter aus der Nase. Ihr war nicht entgangen, wie nervös der Mann vor ihr plötzlich geworden war. Auch sie kam nicht drumherum, ihn genauer zu betrachten. Das kleine Grübchen an seinem rechten Mundwinkel war der Beweis dafür, dass er wohl gern lachte und seine dunklen Haare trug er ganz verstrubbelt. Nur zu gern hätte sie einmal mit der Hand durch sie gefahren.
„Und wie sind die Lichtverhältnisse in besagtem Garten? Mittagssonne?", hakte sie weiter nach und riss den Mann aus seiner erneuten Starre.
„Ähm, ja, viel Sonne tagsüber", antwortete er knapp und riss sich zusammen.
„Wie wäre es damit", fragte er wahllos und zeigte auf die nächstbeste Pflanze. Ein Kichern entwich der jungen Verkäuferin.
„Das ist eine Alocasia polly, die pflanzen Sie lieber nicht draußen auf der Wiese ein", stellte sie klar, was ihn etwas verunsicherte. Doch dies wollte er sich nicht ansehen lassen und zeigte auf einen der kleinen Bäume an der Seite.
„Und was ist mit dem hier? Der trägt doch sogar kleine Früchte, nicht wahr?", fragte er mit seinem gefährlichen Halbwissen.
„Der Ginkgo? Ja, der ist zwar sehr schön, aber da sollten Sie lieber eine männliche Variante nehmen. Die Früchte des weiblichen Baumes hier stinken ungemein. Wenn Sie ihre Gäste also durch den Geruch von Erbrochenem vergraulen wollen, dann nur zu, dann nehmen Sie den weiblichen Ginkgo."
Mit einem unterdrückten Lachen starrte sie in das entsetzte Gesicht des Mannes, welcher erneut verstummt war.
„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht bloßstellen. Als Gartendesignerin verfüge ich wohl über sehr viel mehr Wissen. Wie wäre es denn ganz klassisch mit Rosen, Lavendel, Apfelbäumen oder vielleicht sogar ein Kirschbaum? Sie könnten ihm in den nächsten Jahren beim Wachsen zusehen", schlug sie ihm lächelnd vor.
Nickend stimmte er ihr zu und entschied sich erst einmal für ein paar kleinere Pflanzen, welche er geradeso noch allein fortbekam.
„Nun gut, ich muss dann mal weiter. Ich habe heute noch einen Termin mit einem Fachmann, der sich meinen Garten ansehen und gestalten möchte", erklärte er und verabschiedete sich von der fröhlichen Verkäuferin.
Gedankenlos streckte er ihr die Hand entgegen und bereute dies sofort. Welcher normale Mensch gab sich denn heutzutage zum Abschied noch die Hand? Doch als sie grinsend nach seiner Hand griff und sie schüttelte, war es zu spät, sie wieder zurückzuziehen.
Die kurze Berührung ließ das Gefühlskarussell in ihm plötzlich anspringen und an Fahrt aufnehmen. Sein Herzschlag nahm an Geschwindigkeit zu, setzte plötzlich kurz aus, um im nächsten Moment wieder doppelt so stark zu schlagen. Völlig unregelmäßig pochte es in seiner Brust und er bekam Angst, dass die Frau ihm dies ansehen könnte. Die Nervosität trieb ihm den Schweiß aus den Händen, was ihm sie schnell aus ihrer entziehen ließ. Hastig wischte er sich die Handinnenflächen an seiner Jeanshose ab.
„Falls du mal Hilfe bei deinem Garten brauchst, dann ruf mich einfach an", sagte sie zum Schluss und drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. Dankend nickte er und eilte geradezu davon, um wieder Herr seines Körpers zu werden und die unsinnige Aufregung zu vertreiben.
„Grace Eddison", las er stumm den Namen auf dem kleinen Schildchen, welches mit gezeichneten Pflanzen geschmückt war.
Kopfschüttelnd blickte die rothaarige Frau ihm nach und fasste sich beruhigend mit der Hand an die rechte Brust, um ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. In Gedanken versunken stieß sie mit dem Ellenbogen einen der Kübel hinunter, welcher klirrend auf den Steinen zerbrach und die Erde überall verteilte.
Der kleine Unfall entzog ihr die Gedanken an die Begegnung mit dem jungen Mann und ließ sie die beinahe schon Teenager-mäßige Nervosität ihm gegenüber schnell vergessen.
Nachdem sie in den nächsten Stunden noch ein paar weitere ihrer Pflanzen und selbstgemachten Töpfe verkauft hatte, verstaute sie die restlichen in ihrem kleinen, grünen Transporter, welchen sie mit Sonnenblumen bemalt hatte.
In ihr Navigationsgerät tippte sie die Adresse ihres neuen Kunden, welcher sie vor einer Woche gebucht hatte. Dieser hatte sich ein Haus gekauft und wollte nun ihre Hilfe in Anspruch nehmen, um aus dem vernachlässigten Garten ein kleines Paradies zu zaubern.
Keine halbe Stunde später parkte sie ihr Auto auf dem Schotterparkplatz und stellte den Motor ab. Die Steine knirschten unter ihren Schuhsohlen und neugierig blickte sie sich einmal um.
Das kleine Landhaus stand etwas abgelegen von der nächsten Stadt und sah aus, als wäre es seit Jahrzehnten nicht mehr bewohnt gewesen. Die Fensterläden hingen traurig hinunter und lediglich die Rosenranken an der Steinfassade hauchten dem alten Gemäuer ein wenig Leben ein.
Auf der anderen Straßenseite erkannte sie ein kleines Gasthaus, vor welchem drei Autos geparkt hatten und dahinter erstreckte sich ein weites Feld, welches bis zum Horizont reichte.
„Guten Tag", sprach die förmliche Stimme eines Mannes hinter ihr und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich.
„Ich bin die Gartendesignerin", stellte sie sich vor, während sie sich schwungvoll zu ihm umdrehte und dabei ihre Locken fliegen ließ. Augenblicklich erstarrten die beiden, als sie einander erkannten.
„Grace, Grace Eddison", stammelte der junge Hausbesitzer vor ihr und kramte die Visitenkarte aus seiner Hosentasche heraus, welche sie ihm erst vor wenigen Stunden auf dem Markt in die Hand gedrückt hatte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen", lachte sie und reichte ihm mit schief gelegtem Kopf die Hand. Kurz hielt er inne, um seinem Kopf die Möglichkeit zu geben, diese Situation zu verstehen.
Sie war es also, die er für seinen Garten engagiert hatte? Weshalb hatte er ihren Namen vorhin nicht schon gleich erkannt?
„Freut mich", entgegnete er dennoch höflich und schüttelte ihre Hand. Doch er verpasste den Moment, um sie wieder loszulassen und hielt sie weiter fest in seiner. Ihr Lächeln wirkte wie Gravitationskräfte auf ihn und zog seinen Blick fast magisch an. Kichernd löste Grace ihre Hand aus seinem Griff.
„Also, wo ist denn Ihr Garten, Herr Hausbesitzer?", fragte sie frech und schlug – bereit für die Arbeit – ihre Hände zusammen.
„James, du kannst mich James nennen", bot er ihr sogleich an und führte sie durch das quietschende Gartentor hinter das Haus.
„Puhh, das wird eine Menge Arbeit", staunte sie, als sie das wuchernde Gras und die Unmengen an Unkraut erblickte. Vertrocknete Pflanzen steckten leblos in der Erde und drohten allein beim Ansehen, zu Staub zu verfallen. Der kleine Teich war gänzlich ausgetrocknet und trug keinen einzigen Wassertropfen mehr in sich.
„Darf ich fragen, seit wann hier nichts mehr getan wurde?", hakte sie kopfschüttelnd nach.
„Soweit ich weiß, steht das Haus schon seit 1966 leer. Aber nun bin ich ja da, um ihm wieder etwas Lebensenergie zu schenken", erzählte James der Rothaarigen, welche sich in ihrem Kopf bereits ausmalte, was sie alles aus diesem Rohdiamanten schaffen könnte.
„Was hältst du dort von einer kleinen Sitzecke? Und dort neben dem Haus ein Rosenbogen als Weg zum Tor vor? Und hier in die Mitte ein großer Kirschbaum", sprudelten die Gedanken geradewegs aus ihr heraus.
„Und dort -", sie stoppte. „Du hast Tiere?", fragte sie überrascht. In der hintersten Ecke war ein kleiner, hölzerner Stall zu sehen, aus welchem sie es blöken hörte.
„Ja, ein paar Schafe und Hühner", antwortete James ihr und beobachtete belustigt, wie die junge Frau vor Freude quietschend fortrannte, um sich die Wolltiere genauer anzusehen.
„Na du", sagte sie liebevoll und streichelte das kleine, weiße Schaf, welches gleich hinter der hölzernen Tür schlief. Ein paar Grashalme hingen in seiner Wolle, welche sie ihm mütterlich heraussuchte.
„Hinter dem Haus habe ich schon einen Zaun aufgebaut, sodass sie dort ein bisschen Auslauf haben", hörte sie James tiefe Stimme hinter sich und erschrak kurz, da seine plötzliche Nähe ihren Herzschlag anspornte. Im hinteren Bereich des Stalls erkannte sie noch einen Schafsbock mit zwei großen Hörnern. Neben ihm blökte ein dickes, weißes Schaf und noch ein kleineres mit schwarzer Wolle.
Aus dem Nichts kam ein gackerndes Huhn um die Ecke gelaufen und rannte mit wackelndem Po zwischen Grace' Beinen hindurch.
„Huch", rief sie überrascht und verlor sogleich ihr Gleichgewicht. Sanft landete sie ihm Stroh unter ihr, was James mit entsetztem Blick beobachtete. Doch als er erkannte, dass sie sich nichts weiter getan hatte, begann er zu lachen und hielt ihr helfend eine Hand entgegen.
„Hey, lach mich nicht aus", tadelte sie ihn, doch sie selbst konnte sich ebenfalls nur schwer zurückhalten, um nicht über die komische Situation zu lachen. Dankend ließ sie sich von ihm auf die Beine ziehen und klopfte sich anschließend den Schmutz von ihrem roten Sommerkleid.
„Für die Hühner wollte ich noch einen größeren separaten Stall bauen", merkte James an und fuhr sich durch die Haare, um seinen Händen eine Beschäftigung zu bieten. Er musste sich gezielt ablenken, um mit seinem Blick nicht noch länger an ihren verwuschelten Locken hängen zu bleiben.
„Du, ähm, du hast du noch was", flüsterte er zögerlich und griff nach einer ihrer roten Strähnen, in welcher sich etwas Stroh verirrt hatte. Grace spürte die Wärme, welche seine Hand so nah an ihrem Gesicht ausstrahlte und konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen einen zarten Rotton annahmen.
„Danke", sagte sie mit brüchiger Stimme und räusperte sich kurz. Nervös hob sie ihre Hand, um mit den Fingern nach ihrer Halskette zu greifen, welche ihr in Momenten der Aufregung etwas Ruhe spendete. Doch sie griff ins Leere und spürte lediglich den Stoff ihres Kleides.
„Wo ist sie nur?", stellte sie sich selbst die Frage und suchte sogleich mit ihren Augen den Boden ab.
„Was ist?", fragte James sie verwundert und ließ seinen Blick ebenfalls nach unten schweifen.
„Meine Halskette ist weg", lieferte sie ihm die Antwort und ging auf die Knie, um besser suchen zu können. „Ich habe sie schon, seit ich denken kann", erklärte sie mit anfliegender Panik.
Sofort machte James es ihr gleich und begann für sie zu suchen. Wie zwei kleine Babys krabbelten sie auf dem Untergrund umher, tasteten mit den Fingern über den Holzboden und schoben hier und da das Stroh zur Seite. Als James Finger etwas Kleines, Kühles spürten, griff er sofort danach und hielt es in die Höhe.
„Ist sie das?", fragte er sogleich, doch seine Miene verzog sich zu einem nachdenklichen Gesicht.
„Die sieht ja genauso seltsam aus wie meine", murmelte er mehr zu sich selbst und griff mit der anderen Hand zu seinem Hals. Er tastete nach dem kleinen, silbernen Anhänger und öffnete hastig den Verschluss, um beide Ketten nebeneinander zu halten.
Erstaunt betrachtete auch Grace die beiden merkwürdig geformten Figuren in seiner Hand, welche mit ihrer glatten Kante haargenau aneinanderpassten.
„Ich dachte immer, es wäre ein seltsames Herz mit einem kleinen, blauen Strassstein", flüsterte sie völlig verdattert.
„Und ich dachte, ich würde einen ausgefransten Schuh tragen", erwiderte er und legte seinen Kopf schief, um die Form des neu entstandenen Anhängers zu erraten.
„Ein Schuh?", fragte Grace und brach in schallendes Gelächter aus. „Wer würde einen ausgefransten Schuh als Anhänger erstellen und sich freiwillig als Kette um den Hals hängen?", hakte sie noch einmal nach und warf giggernd ihren Kopf in den Nacken.
„Na, keine Ahnung. Als ich die Kette als Kind im Urlaub fand, war es für mich wie ein riesiger Schatz. Etwas Geheimnisvolles, dessen Ursprung und Sinn kein anderer erfahren könnte. Ich fühlte mich wie der Auserwählte, der sie nun für immer bewahren müsse", verteidigte er sich.
„Der Herr und Geheimnisträger der zerfetzten Schuhe", sprach sie mystisch mit tief gestellter Stimme und begann erneut zu kichern. Lachtränen liefen ihr bereits über die Wangen und sie musste ihren schmerzenden Bauch halten.
„Dein Anhänger sieht auch nicht wirklich besser aus. Ein richtiges Herz erkenne ich auch nur mit viel Fantasie. Außerdem tragen sicher auch andere Menschen einen Schuh als Anhänger. Denk doch mal an Italien, das sieht auch wie ein Stiefel aus", stellte er klar, doch auch er musste nun über seine kindlichen Gedanken schmunzeln.
„Italien", murmelte Grace plötzlich, als hätte sie eine spontane Eingebung und runzelte die Stirn. Mit dem Kopf beugte sie sich über James Schoß, in welchem er die beiden Anhänger aneinandergehalten hatte.
„Vielleicht ist es ja tatsächlich eine Landkarte. Daher auch diese unregelmäßige Umrandung, die beinahe wie Fransen aussieht", sprach sie ihre Gedanken aus.
„Stimmt, aber welches Land sieht so aus?", fragte er ebenso in Gedanken versunken und senkte seinen Kopf noch ein Stückchen weiter, um besser sehen zu können. Urplötzlich machte sich sein galoppierendes Herz bemerkbar, da sein Körper Grace' Nähe gespürt hatte. Ihr Kopf war so nah an seinem, dass sie sich schon fast berührten.
James Gehirn ließ sich von dieser Wärme sogleich ablenken und vergaß das Rätsel um die Kette sofort. Seine Augen schweiften zur Seite und betrachteten ein weiteres Mal das Gesicht der jungen Frau. Selbst wenn sie ihre Stirn so nachdenklich kräuselte, hatte sie eine unglaublich natürliche Schönheit, welche sie ausstrahlte.
„James?", drang ihre Stimme leise an seine Ohren und riss seine Augen von ihrem Anblick ab.
„Ja?", fragte er hastig und zog seinen Kopf zurück, um etwas Abstand zu ihr zu erlangen.
„Warst du in Gedanken vertieft?", hakte sie kichernd nach, da er ihre vorherige Frage scheinbar nicht gehört hatte.
„Ähm ja, ich habe nur über die Bedeutung des Anhängers nachgedacht", flunkerte er und hoffte inständig, sie würde die Röte auf seinen Wangen nicht erkennen. Schmunzelnd betrachtete sie den jungen Mann.
„Ich habe nur gesagt, dass wir vielleicht erst einmal der Arbeit weiter nachgehen sollten. Ich würde mir den Garten gern noch einmal genauer ansehen und ausmessen. Über die Ketten können wir uns auch später noch die Köpfe zerbrechen."
Lächelnd blickte sie ihn an, doch James brauchte kurz etwas Zeit, um sich zu sammeln. Er hatte schon beinahe vergessen, weshalb Grace hier war. Ihre Begegnung auf dem Markt und anschließend das Wiedersehen hier in seinem Garten hatte er zuvor als Zufall abgestempelt. Doch der Fakt, dass sie beide seit Jahren eine seltsame Kette trugen, welche sie aus unbegreiflichen Gründen wie einen Schatz behütet hatten und welche nun perfekt zueinander passten, erschien ihm keineswegs mehr wie etwas Natürliches oder Alltägliches.
„Findest du das nicht auch etwas seltsam? Unser ganzes Aufeinandertreffen, die beiden Anhänger. Es kommt mir beinahe vor wie ... Schicksal", sprach er zögernd seine Gedanken aus und blickte zu Grace hinüber, um ihre Reaktion genau wahrzunehmen.
Ein kurzes, kaum sichtbares Grinsen stahl sich in ihr Gesicht. Er bekam das Gefühl nicht los, dass Grace ihm mehr am Herzen lag als jeder andere. Sie war eine Fremde, die lediglich seinen Garten gestalten sollte. Doch jede einzelne Faser seines Körpers schrie regelrecht ihren Namen, wollte nach ihr greifen und sie nie wieder verlassen. Als würde auf einmal ein tiefes, dunkles Loch in seinem Herzen gefüllt werden, welches sie perfekt auszufüllen schien.
Doch Grace wollte sich ihre Antwort noch etwas aufsparen, da sie nicht zu voreilig ihre kitschigen Gedanken aussprechen wollte. Schon seit sie ihn das erste Mal auf dem Markt gesehen hatte, überkamen sie die romantischen Vorstellungen, welche sie sonst zu Hause in ihren Liebesromanen las und welche sie stets an eine ebenso großartige Liebe glauben ließen.
Schon nach ihrem ersten Gespräch war er ihr vielmehr wie ein guter Bekannter vorgekommen. Beinahe so, als würden sie sich schon viel länger kennen, als sie es annahmen.
Doch da sie einander gerade mal seit wenigen Stunden kannten, bremste sie ihr aufgeregtes Herz, bevor es sich noch Hals über Kopf in etwas völlig Absurdes hineinstürzen würde. Sie wollte ihn erst noch ein wenig besser kennenlernen, da sie die fast gruseligen Dating Geschichten ihrer Freundinnen nur ungern fortführen wollte.
Daher erhob sie sich schlicht vom Boden und half James beim Aufstehen. Nachdem sie sich ihre Ketten jeweils wieder um den Hals gelegt hatten, verließen sie den kleinen Stall und widmeten sich erneut dem Garten. Grace notierte sich all ihre Ideen und Hindernisse, welche sie auf den ersten Blick erkannte.
Für den Start ihrer Arbeit machten sie sich den Beginn der nächsten Woche aus, sodass sie sich das Wochenende über noch mehr Gedanken machen konnte, wie genau sie den Garten verändern könnte, sodass es James auch in den nächsten Jahren noch gefallen würde.
Doch auch in den nächsten Tagen ging ihr das Rätsel der beiden Anhänger nicht mehr aus dem Kopf. Anstatt sich weiter ihrer Arbeit zu widmen und schon einmal im Voraus bei den Pflanzenhändlern nach ein paar Grünpflanzen und Blumen anzufragen, stöberte sie im Internet nach den Umrissen der verschiedensten Länder.
James Einwurf zu Italien hatte in ihr die Gewissheit geweckt, dass die Figur der beiden Anhänger gemeinsam eine Landkarte darstellen sollte. Bei der Recherche türmten sich hunderte von Ländernamen in ihrem Kopf, sodass sie die einfachste Antwort völlig übersah. Sie war schon fast blind geworden für die Wahrheit, welche all die Zeit direkt vor ihrer Nase lag.
Die ganze Nacht lag sie wach in ihrem Bett, den Blick an die Decke gerichtet und grübelte, als sie die Erleuchtung wie ein Blitz traf.
Wie von der Tarantel gestochen sprang sie unter der Bettdecke hervor, packte sich in eine dicke Jacke ein und sprang im noch Stockdunklen in ihr Auto. Normalerweise begann die Sonne zu dieser Zeit aufzugehen und der Welt ihre Wärme und ihr Licht zu schenken. Doch die grauen Wolken hingen tief über dem Land und ließen die Landschaft noch dunkler erscheinen.
Trotz der kühlen Temperaturen am frühen Morgen hatte Grace das Fenster ihres Autos geöffnet und genoss den frischen Fahrtwind in ihrem Gesicht. Die kalte Luft sog sie beinahe gierig ein und sie konnte bereits den Geruch des Regens in der Luft wahrnehmen.
Ein sanftes, tiefenentspanntes Grinsen schlich sich in ihr Gesicht, da sich ihr Herz vollkommen frei und voller Glück anfühlte. Dabei konnte sie den Ursprung dieser Freude nicht einmal ansatzweise erklären. Es kam aus den Tiefen ihres Körpers, als hätte sie sie schon immer in sich getragen.
Als sie das Auto nach kurzer Zeit zum Stehen brachte und sich an den Aufstieg des Berges machte, spürte sie vereinzelt Regentropfen auf ihre Schultern treffen. Sie war den steinigen Weg schon länger nicht mehr emporgestiegen, da sie immer mit der Arbeit beschäftigt gewesen war. So vergaß sie manchmal vollkommen, welch wundervolle Naturschönheiten ihre schottische Heimat doch bot.
Zu wärmeren und späteren Zeiten tummelten sich hier öfters Touristen, doch zu dieser frühen Morgenstunde hatte sie Glück, dass sie keine Menschenseele antraf. Grace verdrängte den Schmerz in ihren Beinen, da sie solche Wanderungen nicht mehr gewohnt war. Doch ihr Inneres trieb sie förmlich voran – Schritt für Schritt immer weiter hinauf.
Sie glaubte, dem Himmel ein kleines Stückchen näherzukommen, während ihr Herz voller Freude gegen ihre Brust schlug – auch wenn die Anstrengung einen beachtlichen Teil dazu beitrug. Sie stieg über Steine, umging kleine Erdlöcher im Boden.
Ihr unergründlicher Drang, endlich auf der Spitze des Berges anzukommen, gönnte ihre keine Pause. Ihre Regenjacke trotze der Nässe von oben und ihre Haare hingen ihr mittlerweile pitschnass über die Schultern. Lediglich die kleinen Babyhärchen über ihrer Stirn kräuselten sich ein wenig.
Ein Schritt mit dem rechten Fuß, einer mit dem linken Fuß. Und auf einmal hatte sie das Tal und den steilen Anstieg hinter sich gelassen. Vor ihr erstreckten sich die weiten Hügel, deren Gras einen rötlich-orangen Ton angenommen hatte. Sie erblickte das Meer in der Ferne und die Seen, welche ihr beinahe zu Füßen lagen.
Atemlos stoppte sie, als sie die Steinriesen erblickte, welche spitz in den Himmel ragten und welche ihr das Gefühl eines Déjà-vus gaben. Sie bekam den Gedanken nicht los, dass ihr dieser Moment mehr als bekannt vorkam. Es war nicht nur die Landschaft, welche sie bereits als Kind bestaunt hatte. Vielmehr waren es die Gefühle in ihrem Inneren, das aufgeregte Herz, welches rekordverdächtig schnell pochte und die unglaubliche Zuneigung, die in ihr eine Wärme auslöste.
Kaum hörbar schnappte Grace nach Luft, als sie die dunkle Silhouette wenige Meter vor sich erkannte. Die Gestalt stand regungslos an der Kante des Felsens und blickte wie auch sie hinab in das tiefe Tal. Noch immer entluden sich die Wolken über ihnen, als der Mann sich urplötzlich zu ihr umdrehte.
Für den Bruchteil einer Sekunde vergaßen ihre Herzen, dass sie zwangsläufig funktionieren mussten. Umso schneller setzte ihr Herzschlag wieder ein, als ihre Augen aufeinandertrafen und ein regelrechtes Feuerwerk in ihnen auslöste.
„James", hauchte sie, doch die Geräusche des Regens verschluckten ihren erstaunten Ausruf.
„Was machst du hier?", fragte auch er sichtlich verwundert. Noch immer war der Himmel grau gefärbt und die fehlende Sonne ließ die Kälte unter ihre Kleidung kriechen. Doch ihr unerwartetes Wiedersehen entfachte eine Wärme, welche ihre Körper fast glühen ließ.
„Die Anhänger", stammelte sie lediglich, da sie seine Anwesenheit noch immer nicht realisieren konnte. „Die Ketten zeigen die Isle of Skye und der kleine Strassstein zeigt den Standort dieser Felsformation", erklärte sie ihr Auftauchen und trat langsam ein paar Schritte an James heran. Der Regen hatte auch seine dunklen Haare durchnässt und lief ihm in kleinen Bächen über das Gesicht.
„Und du, weshalb bist du hier?", fragte sie atemlos, da sein Anblick ihr die Stimme raubte.
„Aus dem gleichen Grund", flüsterte er – völlig starr vor ihr stehend. Grace konnte kaum etwas gegen die Anziehung machen, welche sie immer näher auf ihn zugehen ließ. Als würden sich ihre Körper nacheinander sehen – als würden sie sich schon viel länger kennen, als wären sie einander vertraut.
Hätte ihr jemand gesagt, dass sie ihn doch gerade mal seit wenigen Tagen kannte, hätte sie sofort mit einem „Das stimmt doch gar nicht" geantwortet. Es kam ihr vor wie Monate, wie Jahre. Der fremde und zugleich so bekannte Mann knipste den rationalen Teil ihres Gehirns kinderleicht aus und gab ihrem romantisch veranlagten Part das Zepter. Dieser war bereit, sie für die nächste Zeit zu regieren und zu führen.
Flach atmend kam sie direkt vor ihm zum Stehen. Sie spürte seinen Atem an ihrem Gesicht und ließ ihren Blick keine Sekunde von seinen durchdringenden Augen abkommen.
„James, ich -", begann sie zögerlich, da sie nicht wusste, wie sie die übergroßen Gefühle in ihrem Inneren auch nur ansatzweise in Worte fassen sollte.
„Wir kennen uns kaum. Wir sind quasi Fremde, aber irgendwie ...", erneut stoppte sie und suchte nach den richtigen Worten, ohne direkt wie eine Verrückte zu wirken. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er ging dem Drang nach Nähe nach.
Sachte legte er seine Hand an ihre Wange und strich mit den Fingern den Konturen ihres Gesichtes entlang. Bei jedem anderen Menschen hätte Grace eine solche Berührung sofort abgeblockt, hätte sie als übergriffig empfunden. Doch bei James war es anders. Ihr Körper sehnte sich förmlich danach. Sie wollte, dass er weitermachte, dass er sie nie mehr losließ.
Vorsichtig glitten seine – vom Regen feuchten – Finger über ihr Kinn, den Hals hinunter und über den Stoff ihrer Jacke. Er berührte ihre Schulter, ihren Arm, bis seine Finger ihre Hand erreichte. Sprachlos blickte sie hinunter, wo er ihre Finger ineinander verschränkte und anschließend seinen Blick hob.
Schüchtern schauten sie einander an. Sie konnten ihre Köpfe fast lauthals rufen hören. Diese nach Antworten. Weshalb fühlte sich all dies so gut an?
„Ich weiß, was du meinst", sprach er, während seine andere Hand ebenfalls nach Grace suchte. Sie schluckte kurz, als er ihr über die nassen Haare strich und anschließend seine Stirn an ihre legte. Für einen Moment schloss er seine Augen, um die Nähe zu genießen.
„Am liebsten würde ich dich nie wieder gehen lassen. Wer bist du, dass du das mit mir anstellst?", fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten und lachte schwach auf.
James öffnete seine Augen wieder und blickte geradewegs in das strahlende Blau von Grace' Augen. Für wenige Sekunden hielten sie so inne, schauten sich unentwegt an, während ihr Inneres völlig ins Chaos gestürzt war. Die unterschiedlichen Gefühle lieferten sich regelrecht einen Kampf und rangen um den Platz an der Spitze.
Doch die nicht erklärbare Liebe in ihnen siegte letztendlich, preschte an den anderen Emotionen vorbei und ließ die Lippen der beiden Menschenseelen aufeinandertreffen. Grace spürte die tiefe Zuneigung, welche doch eigentlich erst nach Jahren der innigen Liebe entstand. Und doch hatte sie einfach das Gefühl, dass es richtig war. Dass sie gemeinsam richtig waren.
Und auch wenn es viel zu kitschig klang und geradezu einem Liebesroman entsprungen sein könnte, eine innere Stimme versicherte ihr, dass sie füreinander bestimmt waren. Dass sie – Grace und James – zusammengehörten.
Als sie ihre Arme mit der Intension – ihn nie mehr wieder von ihrer Seite gehen zu lassen – um seinen Oberkörper schlang und somit das nächste große Abenteuer – die wahre Liebe – einläutete, klatschte die Welt ihnen Beifall.
Die beiden Menschen hörten und sahen dies nicht. Sie spürten nicht einmal die Anwesenheit der Fügungswesen, welche sie von oben herab beobachteten und ihrem Zusammentreffen gespannt entgegengefiebert hatten.
Unweit von ihnen fielen sich das Schicksalswesen S-92 und die junge Frau K-4598 aus der Abteilung Karma freudestrahlend um den Hals. All die Jahre hatte das Karmawesen darauf gewartet, die beiden endlich wieder vereint zu sehen. Sie hatte das Glück und das Schicksal auf ihre Seite geholt. Hatte die Strippen im Hintergrund gezogen und dem Menschenpaar ihr lang ersehntes Wiedersehen ermöglicht.
Einst zufällig vom Schicksal zusammengeführt, von der Ungerechtigkeit entzweit und letztendlich wieder vereint. Doch von all dem Leid, das sie hatten durchstehen müssen, war nun nichts mehr zu spüren. Stattdessen erstrahlten sie voller Liebe.
Und selbst nach hunderten von Jahren erzählten sich die unsichtbaren Wesen im Himmelsjenseits noch immer die hoffnungsvolle Geschichte des 100-Prozent-Pärchens, welches überraschend sein Happy End gefunden hatte.
Sie diente den Fügungswesen als Beispiel der wahren, menschlichen Liebe und zeigte ihnen, dass die Menschen auf der Erde gar nicht so schwach waren, wie sie sich stets eingeredet hatten. Sie besaßen schließlich noch immer die mächtigste Fähigkeit des Universums: die Fähigkeit, Gefühle zuzulassen. Und mit solch einer starken Gabe schafften sie es tatsächlich, den Tod zu überwinden und Unglaubliches zu durchstehen.
Denn die wahre Liebe übersteht nun mal alles, nicht wahr?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top