Kapitel 9
Jahr 1902
Es regnet in Strömen, sodass ich Schwierigkeiten habe, durch den Dreck zu laufen, der zu allen Seiten spritzt. Also verlangsame ich mich und wandere im ruhigen Schritt weiter. Das schlechte Wetter dauert schon seit drei Tagen ohne Pausen an und ich komme somit gar nicht voran. Doch ich habe gehört, in der Nähe muss es eine Stadt geben. Und das ist mehr als erfreulich, denn da kann ich mir endlich einen Unterschlupf aufsuchen. Noch ein bisschen...
Das Hotel ist eines mittleren Standes, doch Geld habe ich sowieso keins. Ich rede der Frau am Eingang ein, vorgezahlt zu haben, und sie gibt mir lächelnd den Schlüssel zu einem Zimmer. Dabei brennt es mir die ganze Zeit über zwischen den Schultern, als würde man mich beobachten. Und ich glaube, dieses Gefühl verspüre ich nicht aus Zufall. Doch ich drehe mich nicht zurück, um mich in meinem Ahnen zu vergewissern, sondern steige nur die Treppe hoch in das zweite Stockwerk.
Am nächsten Abend sitze ich im Restaurant, als eine junge Frau Platz an meinem Tisch nimmt. Ihr Aussehen mit den listigen grünen Augen, langen blonden Haaren und aufrichter Haltung lässt mich ihren Alter auf 23 Jahre einschätzen. Doch ich spüre ihre Kräfte und lasse mich nicht so einfach täuschen. Sie müsste in Wirklichkeit ungefähr so alt sein wie Josephine.
“Schönen Abend.“, sagt die Vampirin mit ernstem Gesicht.
Ich nicke ihr zu. “Schönen Abend. Sie haben mich gestern beobachtet, nicht wahr?“
Sie lächelt. “Du hast es also gespürt. Schade. Mein Name ist Alexandra.“
Es kostet mich alle Mühe, sie immer noch mitteilungslos anzublicken. Alexandra... Dieser Name ist mir durchaus bekannt.
Doch mir kommt eine gute Idee.
Ich lächle. “Es wundert mich immer wieder, dass Leute wie ich sich mir jedes Mal vorstellen.“
Sie mustert mich forschend. “Wie alt bist du? Ich kann deinen Alter nicht einschätzen.“
Und das ist sogar mehr als gut., denke ich zufrieden.
“Mein Name ist Joshua und ich bin 56 Jahre alt. Wenn Sie verstehen, welchen Alter ich meine.“
Sie nickt. “Gewiss. Und wenn wir gerade dabei sind, über uns zu reden.“ Sie beugt sich über den Tisch und senkt leicht die Stimme. “Ich bin Anführerin eines großen Clans. Wenn ich mich nicht irre, gehörst du keinen Clan an. Möchtest du dich mir vielleicht anschließen, Joshua?“
Wäre es nicht so riskant, könnte ich in ihren Gedanken nach einem Grund dieses Vorschlags suchen, doch sie würde es aller Wahrscheinlichkeit nach spüren. Und ist nicht gerade der Sinn meines Plans. Ich möchte mich nur ein bisschen einmischen. Lange werde ich mich ohnehin nicht bei ihr aufhalten.
Jahr 1938
Christopher geht nervös auf und ab.
“Was ist denn los?“, fragt Aurora drängend.
“In der Politik ereignen sich gerade sehr unschöne Sachen.“, antwortet er angespannt.
Ich zucke gleichgültig die Schultern. “Was kümmert uns die menschliche Politik?“
“Joshua, ein Krieg wird uns und unsere Pläne durchaus stören.“, entgegnet Maximilian.
Sie haben besondere Pläne? Interessant. Dann werde ich wohl aus einigen Sachen herausgehalten. Das ist amüsant. Es ist auch amüsant, dass die Vampire meinen Worten so einfach Glauben schenken. Sie haben wirklich geglaubt, ich sei über 50 Jahre alt. Oder sie geben es vor, das darf man selbstverständlich auch nicht vergessen.
Ich spüre eine angespannte Energie zwischen Maximilian, Christopher und Diana. Die Älteren beschimpfen ihn wahrscheinlich, dass er zu viele Informationen Preis gegeben hat. So ein Missgeschick.
“Ein Krieg kann für uns Vampire kaum so schlimm werden.“, sage ich, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
“Glaube uns, Joshua, es ist schlimmer als man denkt.“, erwidert Christopher aufrichtig.
Genau meine Meinung, ehrlich gesagt. Doch ich kann das nicht einfach zugeben.
“Aber du bist noch jung, du wirst noch die Zeit haben, den Krieg am eigenen Leibe zu spüren.“, wirft Aurora leicht grinsend ein.
“Na das ist aber nett.“, schnaube ich.
Maximilian verdreht verärgert die Augen. “Wie sonst auch immer.“
Aurora verbeugt sich. “Aber sicherlich.“
Ihr theatralisches Wesen geht mir schon von Anfang an auf die Nerven. Es wundert mich, wie Christopher, der übrigens ihr Lebensgefährte ist, sie überhaupt ertragen kann.
Unser Gespräch wird von einem eiligen Klopfen unterbrochen und wir blicken uns gegenseitig an.
“Wir haben keine Gäste erwartet, oder irre ich mich?“, frage ich.
“Ich gehe hoch und gucke, wer da ist.“, meldet sich Miximilian und verlässt Christophers Arbeitszimmer.
In nächster Sekunde wird sein besorgtes Rufen hörbar. “Christopher? Ich brauche hier deine Hilfe.“
Der Älteste sieht sowohl Aurora als auch mich mit einem kalten Blick an. “Ihr bleibt hier.“
Und im nächsten Augenblick ist er ebenfalls fort.
Aurora grinst mich an. “Wollen wir sehen, was da oben los ist?“
Ich schüttle den Kopf. “Wir werden bestraft.“
Die Vampirin lacht. “Warum denn 'wir'? Ich werde Christopher sagen, dass es deine Idee war.“
Ich werde immer wieder überrascht von ihrem Ideen!
Ich kann es nicht anders, als die Augen zu verdrehen. “Wunderbar!“
Doch ehe wir die Tür öffnen, kracht etwas einige Räume weiter.
“Wer ist da?“, ruft Aurora in die magische Dunkelheit des langen Flures hinein.
“Aurora! Joshua! Beide sofort herkommen!“, befehlt Christopher scharf.
Es gefällt mir nicht, seine ständigen Anweisungen zu befolgen, doch das Leben in einem Clan funktioniert leider so.
Aurora und ich eilen aus dem Zimmer in eines der noch unbewohnten. Auf einem neutral gehaltenen Bett liegt schweratmend ein Junge, mit zerzausten braunen Haaren und einer stark blutenden Wunde im Bauch.
“Er stirbt.“, sagt Maximilian. “Wir müssen Alexandra rufen.“
“Oder sein letztes Blut trinken.“, widerspricht Aurora.
“Wir töten keine Menschen.“, erinnere ich sie finster.
“Er wird die Verwandlung ohnehin nicht überleben.“, rechtfertigt sie sich und zuckt gleichgültig die Schultern.
“Wird er nicht.“, widerspreche ich in der unangenehmen Erinnerung an meine eigene Verwandlung.
“Vielleicht wollte er sterben?“, mischt sich Maximilian nachdenklich ein.
“Hil...fe...“, stöhnt der Junge gequält von Bett aus.
“Oder auch nicht.“, verbessert sich der Vampir gleich.
“Alle still. Ich rufe die Anführerin.“, unterbricht uns Christopher hart.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top