Zu den Sternen

Der Ausdruck, dass Ketsu in einem Pulverfass aufwuchs, war noch eine Untertreibung. Das Mädchen steckte in dieser schwierigen Lage fest, kam einfach nicht heraus, und mit jedem neuen Tag schien es nur immer schlimmer zu werden.
Der Planet, auf dem ihre Familie lebte, war nicht gerade wohlhabend. Der Verfall war immer, überall präsent, ganz egal, wo man sich aufhielt und was man gerade tat. Alle möglichen Spezies lebten hier... wobei man das tägliche hin und her wandeln von harter Arbeit und zurück, um anschließend halbtot umzukippen und am nächsten Morgen genau so weiterzumachen, eigentlich kaum Leben nennen konnte. Vielleicht war der Aufenthalt hier als Strafe gedacht. Genau wusste Ketsu es nicht, es gab niemanden, den sie hätte fragen können, immerhin durfte sie kaum vor die Tür... aber irgendwie schien es ihr bei den Bedingungen einleuchtend. Mit Strafen kannte sie sich aus, mehr als mit irgendetwas sonst. Sie fragte sich, ob diese Leute im Gegensatz zu ihr wussten, was sie falsch gemacht hatten.
Was ihre Mutter außerhalb des Hauses tat, wusste Ketsu nicht – aber sie schloss sie jedes Mal ein, wenn sie ging, und dann war das kleine Mädchen ganz allein. Ihr Vater arbeitete jeden Tag in einer der Fabriken, die überall auf dem Planeten verteilt waren und die Luft so sehr mit Rauch füllten, dass es Ketsu manchmal schwer fiel, zu atmen. Sie wusste nicht einmal genau, was dort hergestellt wurde – sie wusste nur, dass, was immer ihr Vater machte, ihn sehr wütend und aggressiv werden ließ.
Wenn er abends ausflippte, zerschlug er immer alles mögliche, aber sein Ärger verrauchte nie so recht, bis er Ketsus Mutter schlug.
„Schlampe! Mich kannst du nicht verarschen! Ich weiß, was du getan hast!", brüllte er dann immer – oder zumindest etwas in die Richtung.
Danach kam ihre Mutter immer aus dem Zimmer heraus – wankend und blutend und nach Alkohol riechend.
„Verdammter Brutalo, verdammter Säufer!", fluchte sie meistens, ihre eigenen Verletzungen verarztend.
Wann immer sie das sagte, versuchte Ketsu, wegzurennen, weil sie genau wusste, was folgen würde. Die Tür war jedes Mal abgeschossen, und die Fenster waren alle so hoch, dass sie sie nicht erreichen konnte. Also versteckte sie sich, in der Hoffnung, dass sie sie nicht finden würde – nicht, dass das je etwas gebracht hätte. Ganz egal, ob sie sich im Schrank hinter der Kleidung oder unter dem Bett ihrer Eltern versteckte... ihre Mutter fand sie jedes Mal und tat ihrer Tochter dann genau das an, was ihr selbst gerade angetan worden war.
Jedes Mal schlug sie das Mädchen, bis ihr kleiner Körper in sich zusammensackte, bis ihre Kleider sich vom Blut rot färbten. Es gab keinen Tag, an dem das Mädchen nicht am ganzen Körper überzogen von Verletzungen und blauen Flecken war.
Sie fragte sich immer wieder, ob es ihrem Vater wohl einfach egal war, was ihre Mutter ihr antat, oder ob er ihre Mutter schlug, weil diese Ketsu schlug. Eigentlich war es allerdings egal. Ändern würde es sowieso nichts.
Sie hatte noch nie verstanden, warum ihre Mutter sie eigentlich schlug. Offenbar machte sie Ketsu für alles verantwortlich, was in ihrem Leben mies gelaufen war... aber das Mädchen hatte nicht die leiseste Ahnung, warum.

Wann immer Ketsu auf der Straße vor ihrem Fenster ein Paar sah, von denen einer fröhlich lachend ihr Kind hochhob, es liebevoll in den Arm nahm – nicht, dass es so wahnsinnig oft passiert wäre, in dieser Gegend gab es nicht sonderlich viele Kinder – schaute sie ungläubig, verständnislos dabei zu, und frage sich, ob sich so die Liebe von einem Elternteil eigentlich anfühlen sollte. Und, ob die Kinder diese Liebe wohl für selbstverständlich hielten, weil sie die Art, wie Ketsu behandelt wurde, nicht kannten. Die Art, bei der ein Elternteil einen Wirbel um jeden noch so kleinen Fehler machte, den das Kind scheinbar beging – auch wenn der nur darin bestand, gerade an der falschen Stelle zu stehen oder in die falsche Richtung zu atmen – damit er oder sie sich nicht schlecht fühlen musste, wenn sie dem Kind als Disziplinarmaßnahme weh tat.
Ketsu wusste, dass ihre Mutter sie nicht wirklich bestrafte, wenn sie sie schlug. In gewisser Weise bestrafte sie sie für ihre Existenz... aber hauptsächlich baute sie wohl dadurch Stress ab.
Das Mädchen verkroch sich vor Schmerzen stöhnend im Bett ihrer Eltern und schluchzte dort vor sich hin, wenn diese nicht zuhause waren.

Es gab nicht den kleinsten Hoffnungsschimmer in Ketsus Leben. Sie hatte keine Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen. Ihr einziger Lichtblick war der nächtliche Blick aus dem Fenster, hinaus in den dunklen Himmel.
Das Mädchen träumte davon, umherzureisen. Sie beneidete die Leute, die die Galaxis bereisen konnten. Sie wusste, dass es diese Leute gab, denn die Dinge im Nachthimmel waren nicht bloß Sternschnuppen. Wenn es dunkel wurde, öffnete sie die Läden in dem kleinen Zimmer, das sie ihr eigen nennen konnte, das eigentlich von der Größe her eher ein Wandschrank mit Fenster war. Ein Bett hatte sie selbst nicht – manchmal bekam sie ein dünneres, manchmal ein dickeres Laken, abhängig von der Außentemperatur und der Laune ihrer Mutter. Die Schnur, die zum Öffnen vom Fensterbrett herunterhing, konnte sie gerade so erreichen. Hinaus sah sie nur dann, wenn sie sich so weit wie möglich vom Fenster entfernte. Wenn sie ein Raumschiff vorbei fliegen sah, träumte sie sich hinein. Hoch zu den Sternen. Weg von dieser Hölle, die sie ihr Zuhause nannte.
Anders als tagsüber, wo sie den Laden nur manchmal öffnete, war er nachts immer offen.

Ketsu liebte und hasste die Nacht zugleich. Sie liebte sie für den wunderschönen Sternenhimmel. Deshalb, weil sie sie daran erinnerte, dass es auch schöne Dinge im Leben gab, auch wenn sie weit weg waren. Und sie hasste die Nacht, weil sie dann träumte. Sie träumte von den Dingen, die ihr jeden Tag widerfuhren. Es hörte nicht auf, nicht tagsüber, nicht nachts. Sie lebte in ständiger Angst, in ständigen Schmerzen. Das Mädchen hatte keine Ahnung, wie sich echte Liebe anfühlte. Ihr Vater ignorierte sie bloß... und ihre Mutter zeigte ihre Liebe durch ihre Schläge. Diese Art von Liebe wollte sie nicht. Sie wollte weg... und nie wieder von jemandem auf diese Art geliebt werden.
Zumindest zu Essen bekam sie... gerade so viel, dass sie überlebte. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie starb, denn dann hätte sie niemanden mehr gehabt, an dem sie ihren Frust auslassen konnte. Ketsu hätte versuchen können, es zu verweigern, um einfach zu sterben... aber sie war ein kleines Kind, das Angst vor dem Tod hatte und sich aus irgendeinem Grund an ihrem wertlosen Leben festklammerte.
»Vielleicht habe ich nach dem Tod keine Schmerzen mehr«, versuchte sie, sich einzureden... aber letzten Endes kam sie zu dem immer selben Schluss.
Ihrer Mutter würde sie zwar kurz weh tun, wenn sie sterben würde, aber vergleichbar mit ihrem eigenen Schmerz, mit dem sie gelebt hatte, war das nicht. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter so über ihr Leben bestimmte. Dass das, was ihre Mutter ihr antat, für immer die einzige Art Liebe war, die sie kannte. Sie wollte auch hochgenommen werden. Dass jemand mit ihr lachte, wenn sie Blödsinn machte. Und mehr als alles andere wollte sie, dass sich jemand um sie kümmerte, wenn sie fiel, statt auch noch auf sie einzutreten.
Wenn sie auf den Nachthimmel sah, konnte sie träumen, dass es irgendwo da draußen so jemanden gab. Dass sie diese Person erreichte, wenn sie von hier fort kam. Mit jedem Tag wurde ihre Sehnsucht größer. Sie wollte weg von hier. So weit sie nur konnte. Weil es irgendwo dort oben vielleicht jemanden gab, der sie besser behandelte.

Als Ketsu neun wurde, war sie endlich groß genug, um aufs Fensterbrett zu klettern. Sie wartete, bis ihre Eltern eine Weile weg waren... dann kletterte sie hinauf, öffnete das Fenster und fing an zu rennen, so schnell sie ihre kurzen, schmerzenden Beine tragen würden.
Nach einer Weile kam sie in eine Umgebung, die sie nicht kannte. Der Boden war überzogen mit Schutt, welcher das Vorankommen erschwerte. Ketsu erinnerte sich dunkel, dass ihre Eltern mal Besuch gehabt hatten, der von irgendeinem Krieg gesprochen hatte, der für die Trümmer verantwortlich war, aber Ketsu war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach.
Es hatte inzwischen angefangen zu Regnen... die Neunjährige mochte das Gefühl des kalten Regens, der auf sie hinunter fiel, überhaupt nicht, weil es so furchtbar brannte, als er die Kleidung durchdrang und die Wunden auf ihrer Haut erreichte.
Sie wusste nicht einmal, wohin sie ging – sie kannte sich hier nicht aus, und sie hatte ohnehin keine Credits, die sie benutzen konnte, um irgendwo hin zu kommen – sie wusste, dass man das brauchte, denn ihre Mutter schrie sie dauernd auf alle möglichen Arten an, dass sie keine Ahnung hatte, wie viel sie sie eigentlich kostete.
Inzwischen war sie in einer Gegend mit Lagerhäusern angekommen. Dass es hier so viele gab, wunderte sie eigentlich nicht, immerhin musste das, was in dem Fabriken hergestellt wurde – was auch immer das sein mochte – auch irgendwo aufbewahrt werden.
Ketsu überlegte, ob sie sich vielleicht in einem der Lagerhäuser verstecken konnte – fürs erste zumindest. Dort kam immerhin der Wind nicht hinein, und dort konnte auch kein Regen sie erreichen. Inzwischen war sie tropfnass und fror fürchterlich. Deshalb entschied sie sich dafür... doch sie bereute es einige Stunden später, als sie aus ihrem kurzen Schlaf zwischen den Kisten gerissen wurde.
„Sieh mal einer an. Was machst du denn hier? Deine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen um dich."
Es war einer der Freunde ihrer Eltern, der mit ihrem Vater in der Fabrik arbeitete. Er hatte gerade eine Lieferung in die Halle gebracht – die letzte des Tages. Inzwischen war es draußen stockdunkel.
„Nein, bitte, ich will nicht zurück!", krisch sie... aber er nahm keine Rücksicht auf sie, sondern nahm sie einfach hoch und brachte sie zurück zu dem Ort, den sie Zuhause nennen musste.
Ihre Mutter empfing sie mit offenen Armen und drückte sie an sich, als der Mann sie ihr übergab. Das tat Ketsu unglaublich weh, weil sie offensichtlich gezielt die Stellen am festesten drückte, an denen die schmerzhaftesten Wunden waren.
„Bist du denn wahnsinnig geworden? Du dummes Mädchen, du hättest dich verletzen können", sagte ihre Mutter und lächelte wie eine Irre, als sie sie absetzte. Warum sie so tat, als sei sie tatsächlich besorgt gewesen, verstand Ketsu nicht, aber als sich die Tür hinter dem Freund ihrer Eltern schloss, war das vorbei. In Sekundenschnelle landete das Mädchen an der Wand. „Undankbare kleine Kröte! Für wen hältst du dich, du Miststück?!"
Der erste Schlag traf ihre Schulter, der zweite ihren Bauch. Das Mädchen krümmte sich vor Schmerzen, aber ihre Mutter nahm darauf keine Rücksicht. Der Dritte traf ihre Lippe, die auf der Stelle anfing zu bluten.
„Es tut mir leid, es tut mir leid", krisch sie, wieder und wieder, aber ihre Mutter hörte ihr gar nicht zu.
Beim vierten Schlag auf ihren Bauch glaubte sie, etwas krachen zu hören. Ihre Brust schmerzte mit einem mal so sehr, dass sie es kaum ertragen konnte. Und damit nicht genug. Ihre Mutter machte weiter, und weiter und weiter, bis das Mädchen sich kaum noch bewegen konnte, und sie lachte dabei.
„Es hat keinen Sinn, wegzulaufen. Je länger du fort bleibst, desto mehr tust du mir weh, und desto mehr wird es dir weh tuen, wenn du letzten Endes doch zurück kommst. Du kannst doch sowieso sonst nirgends bleiben. Wer würde dich je wollen?"
Ketsu war inzwischen fast blind vor Schmerz, aber das, wonach ihre Mutter jetzt griff, hätte sie immer und überall erkannt. Der beißende Geruch von Alkohol stieg ihr in die Nase. Es musste eine der Flaschen sein, die ihre Mutter erst an diesem Abend geleert hatte.
„Nein... bitte..."
Das Mädchen wollte weinen, aber sie hatte nicht genug Kraft dazu. So weit war ihre Mutter noch nie gegangen.
„Du dummes Kind, du machst mir nichts als Ärger."
Im nächsten Moment traf sie etwas am Kopf. Ketsu stieß einen erstickten Schrei aus, bevor der Schmerz sie vollkommen übermannte. Das laute Klirren der Scherben, die auf dem Boden aufschlugen, war das Letzte, was sie hörte, bevor endgültig alles schwarz wurde.

Am nächsten Morgen zerrte ihre Mutter sie tatsächlich zu einem Arzt, weil sie zu viel Blut verloren hatte. Er brachte außerdem ihre Rippe in Ordnung, entfernte die Glassplitter und gab ihr Schmerzmittel – aber als er anfing, etwas über Credits zu sagen, griff Ketsu Mutter nach einem der größeren Skalpelle, die auf dem OP-Tisch lagen, und einen Moment später lag er mit dem Skalpell im Hals auf dem Boden und erstickte, während sie seelenruhig seine Luftröhre noch ein gutes Stück weiter durchtrennte, dann wiederholt auf ihn einstach und sein Blut sich immer weiter auf dem Boden ausbreitete.
„Siehst du das? Das ist nur passiert, weil du weggelaufen bist. Du hast ihn umgebracht, verstehst du das?"
Ihre Mutter lächelte, als sie ihrer Tochter einen unsanften Stups verpasste uns diese neben dem Toten auf dem Boden landete. Als sie sich wieder aufrichtete, verschwamm das Bild vor ihren Augen. Ihre Hände zitterten, und so sehr sie auch ihren Blick abwenden wollte... sie konnte nicht.
An diesem Tag hatte Ketsu zum ersten Mal in ihrem Leben Blut an den Händen, das nicht ihr eigenes war.
In diesem Moment war ihre Mutter die stärkere gewesen... aber sie selbst hätte die Waffe genauso wenig gegen Ketsus Vater richten können, wie ihre Tochter sie gegen sie richten konnte.
Der Fall des Arztes wurde nie untersucht. In dieser Gegend passierte so etwas häufig, und solange die Arbeiter taten, was sie sollten, kümmerten die Kontrolleure die Verbrechen der Einheimischen nicht. Der Arzt war immerhin keine Arbeitskraft gewesen, und selbst wenn er es gewesen wäre... der Aufwand, einer solchen Sache nachzugehen war wesentlich größer, als er es für sie wert gewesen wäre. Eigentlich griffen sie überhaupt nur ein, wenn jemand nicht zur Arbeit erschien, obwohl er noch am Leben war, oder am Arbeitsplatz nicht ausreichend schuftete.
Ketsu tat ihr Möglichstes, um den Vorfall zu vergessen... aber seit diesem Tag konnte sie kein Blut mehr sehen. Und immer wieder wachte sie nachts schreiend auf, die Stimme der Mutter in ihrem Kopf.
»Du hast ihn umgebracht.«

Sie musste weg. Sie musste unbedingt weg, so schnell wie möglich. Eigentlich hätte der Vorfall Ihr Angst machen müssen... so viel, dass sie nie wieder weglief. Das dachte ihre Mutter wohl auch, denn danach zerrte sie das Mädchen zwar noch ein paar Tage lang hinter sich her, machte allerdings anschließend mit der zuvor üblichen Routine weiter. Und natürlich machte ihr das, was passiert war, Angst. Sie machte sich auch Vorwürfe... ihre Mutter hatte schon wieder gewonnen, denn sie gab sich tatsächlich die Schuld. Aber genau das war es, was sie in ihrem Vorhaben bekräftigte. Sie hatte es satt. Satt, dass ihre Mutter immer gewann. Mehr als alles andere wollte sie laufen, weit weg, und sich nie wieder umdrehen. Sie wollte, dass das alles Vergangenheit war. Ihre Mutter nie wieder gewinnen lassen.

Diesmal bereitete sie sich besser vor. Sie durfte nicht einfach wieder weglaufen. Sie musste wissen, wo sie hin lief, und sich vorbereiten. In den nächsten Tagen legte sie von der wenigen Nahrung, die sie bekam - meistens trockenes Brot und etwas Wasser - immer einen Teil zur Seite. Außerdem schaute sie eine ganze Weile lang nachts jedes Mal den Schiffen zu, statt zu schlafen. Morgens fehlten die Lichter, deshalb waren sie dort nicht ganz so zu sehen. Sie prägte sich ein, an welcher Stelle die Lichter am niedrigsten waren. Dort hin würde sie laufen. Wenn sie auf eines der Schiffe kam... dann würde sie verschwinden, und ihre Mutter würde sie nicht mehr erreichen können. Das hoffte sie zumindest.
Sobald sie wusste, wohin sie musste, schlief sie wieder mehr. Musste wieder mehr schlafen. Sie brauchte alle Kraft, die sie kriegen konnte.
Schließlich, an einem Morgen, an dem ihre Verletzungen nicht ganz so schlimm waren und es nach Regen aussah - Regen war, obwohl er so unglaublich kalt war, tatsächlich ziemlich nützlich, wie Ketsu festgestellt hatte, denn er ließ die Fußspuren der Leute im grauen Sand verschwinden. Wenn sie nicht wieder stehen blieb, sobald sie nicht mehr konnte, würde sie es schaffen. Sie wickelte das gesammelte Essen in ihre dünne Decke und wartete.
Und kaum war sie sich sicher, dass ihre Eltern in einer ausreichenden Entfernung waren, fing sie an zu laufen, immer und immer schneller, bis ihre Beine vor Schmerz brannten und ihre Lunge sich anfühlte, als würde sie zerbersten. Und auch dann lief sie noch weiter, durch den Wind und schließlich auch durch den Regen, die Decke zu einem kleinen Sack zusammengeknotet und über ihre Schulter geworfen, bis es schließlich Abend wurde und sie die Lichter wieder sehen konnte. So nah war sie ihnen noch nie gewesen. Und sie führten das Mädchen den Rest der Strecke.

Als sie am Raumhafen ankam, staunte sie nicht schlecht. Das Gebäude war riesig, größer als alles, was sie in ihrem Leben je gesehen hatte – nicht, dass das viel zu sagen hatte. Kein anderes in der Gegend war so gut ausgeleuchtet. Und die Leute hier... eine Frau lief in etwas herum, von dem Ketsu fast glaubte, dass es mehr gekostet hatte als ihr gesamtes Wohnhaus. In dieser Gegend wirkte sie völlig deplatziert... aber zumindest innerhalb des Gebäudes war es sehr viel angenehmer als draußen. Nicht kalt, nicht nass... und trotz des regen Treibens war das Gebäude wesentlich ordentlicher als alles, was Ketsu je gesehen hatte – auch wenn das, bei ihrer geringen Welterfahrung, natürlich nicht viel zu sagen hatte.
Und natürlich hatte sie ohnehin nicht viel Zeit, um sich umzusehen. Sie musste sich beeilen und auf eines dieser Schiffe kommen, bevor jemand bemerkte, dass sie nicht hier her gehörte. Das Mädchen war nicht so weit gekommen, um jetzt noch erwischt zu werden.
Als ein paar Leute in Uniformen sie passierten, duckte Ketsu sich hinter einen Stapel Kisten. Dann sah sie es. Es war ein etwas kleineres Schiff, stand ein Stückchen abseits und war nicht so gut bewacht wie die anderen. Ihr wurde auch schnell klar, woran das lag: der Besitzer war riesig, ein richtiger Brocken. Er wirkte stark und bedrohlich. Was er war, konnte Ketsu nicht sagen... nur, dass er offensichtlich kein Mensch war. Das alles hätte Ihr Angst machen sollen... aber so ängstlich Ketsu auch war, nichts war so unheimlich wie die Vorstellung wie jene, dass ihre Mutter sie erneut wiederfand. Sich aufs Schiff zu schleichen bedeutete, dass sie nie wieder nach Hause gehen musste. Es bedeutete Freiheit.
»Das wird funktionieren. Das muss es einfach«, sprach sie sich in ihrem Kopf selbst gut zu und wartete darauf, dass der Mann abgelenkt war, bevor sie an ihm vorbei aufs Schiff schlüpfte.
So mancher hätte sie für mutig, kühn gehalten, weil sie so handelte... aber in Wahrheit war sie das nicht, sie war nur ein kleines Mädchen, das solche Angst davor hatte, nach Hause zurück zu müssen, dass sie ihr Schicksal lieber in die Hände eines Fremden legte.

Sobald sie drinnen war, öffnete sie einen der Lüftungsschächte und kletterte hinein. Hier war sie sicher. Hier konnte ihre Mutter sie nicht finden... und doch, die Angst, dass sie durch die ganze Stadt, durch die Wände des Schiffes hindurch sehen konnte, ließen ihr einfach keine Ruhe... drückten ihr die Luft aus der Lunge.
Sie nahm die zur Tasche umfunktionierte Decke ab und klammerte sich daran fest. Sie fühlte sich so unendlich allein, und nichts hätte sie lieber getan als zu weinen... aber sie hatte zu große Angst, gehört zu werden, also nahm sie bloß ein Stück Brot aus der Decke und knabberte, so leise sie konnte... ihr grummelnder Magen wäre mehr aufgefallen, entschied sie, aber vielleicht lag ihre Entscheidung auch einfach nur daran, dass sie inzwischen so großen Hunger hatte, dass es weh tat. Ein Bissen, zwei, drei... das Brot stillte ihren Hunger kaum, aber sie war selten wirklich satt geworden, deshalb war sie daran gewöhnt. Noch ein Stück verschwand in ihrem Mund, und noch eines, und noch eines, bis schließlich alles aufgebraucht war. Sie wusste, dass das vermutlich keine gute Idee gewesen war, weil sie nicht wusste, was noch auf sie zukam und es gut sein könnte, dass sie lange nichts mehr zu essen hatte... aber sie war durchnässt, ihr war kalt und sie wollte sich wieder in ihre Decke wickeln, und das Schiff schien ihr nicht sauber genug, um Nahrungsmittel in den Schacht zu legen... besser die Nahrung gleich verbrauchen als später durch die krank zu werden, entschied sie.
Als sie fertig war, legte sie sich auf den Boden des Schachtes, wickelte sich in die Decke und schlief schnell.

„Nein! NEIN! ICH WILL NICHT! ES TUT MIR LEID!", krisch Ketsu und fuhr schweißgebadet hoch. Ihre Mutter hatte sie wieder gefunden, und sie hatte sie geschlagen, viel schlimmer als jemals zuvor. Sie atmete hektisch. Tastete ihre Arme nach Blut ab, dann ihren Kopf und ihre Beine. Kein Blut. Nur ein Traum. Sie zitterte am ganzen Körper. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Ort, wo sie sich jetzt befand, auf keinen Fall jener sein konnte, an dem sie eingeschlafen war. Sie lag auf einer Art Klappbett, unter einer richtigen Decke.
»Was ist denn...?«
Dann ging das Licht an. Sie musste ihre Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Schließlich schlug sie sie blinzelnd wieder auf.
„Du bist wach, wie ich sehe." Die dunkle Stimme musste zum Besitzer des Schiffes gehören. Er hatte die Arme verschränkt und schaute sie ernst an. „Wer zur Galaxie bist du?"
„I-Ich bin die neue Mechanikerin", stammelte sie und benutzte dabei eins der Worte, die sie zuvor am Raumhafen aufgeschnappt hatte.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was eine Mechanikerin war, oder was sie tat. Ketsu versuchte, ein gewöhnliches Grinsen aufzusetzen, um überzeugender  rüberzukommen, aber das war noch nie ihre Stärke gewesen. Sie hatte in ihrem Leben noch nicht viel Grund zum Lächeln gehabt, und niemand hatte sie je angelächelt, also hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie ein »gewöhnliches« Lächeln auszusehen hatte.
„Soll das ein Witz sein?", fragte der Schiffsbesitzer mit erhobener Braue.
Er wirkte eigentlich momentan weniger bedrohlich als verwirrt, wenn Ketsu ehrlich sein sollte, aber sie schlug dennoch schützend die Hände vors Gesicht.
„Ich-Ich weiß nicht viel, aber ich kann lernen. Schnell. Versprochen."
„Lass den Blödsinn, Kleines. Was zum Rancor hast du hier verloren?"
„I-Ich arbeite umsonst. Ich werde tun, was ich kann, alles, was Sie wollen, aber... bitte... bitte schicken Sie mich nicht zurück, ich..."
Jetzt fing sie wirklich an zu weinen, und es fühlte sich an, als würde ihre Mutter gerade jetzt, in genau diesem Moment, auf sie einschlagen. Auch wenn nicht wirklich etwas passierte, die Schmerzen spürte sie dennoch.
„Familie kann ein furchtbares Volk sein, was?", murmelte er und beäugte sie. Sie nickte langsam. „Hör mal, ich bin kein guter Kerl und ich werde dir ganz sicher nicht helfen, aber... ich weiß, wer es kann. Die Imperialen sind mit Sicherheit eines der schrecklichsten Dinge, die der Galaxis je passiert sind, aber... wenn du in unserer Welt überleben willst, musst du lernen, dich zu verteidigen. Und das wirst du dort. Vorher wirst du ein paar Tage hier bleiben, natürlich nur, bis du dich etwas erholt hast und deine Wunden verheilt sind, damit sie dich auch nehmen. Für die eigentliche Akademie bist du noch etwas zu jung, aber sie haben Vorbereitungsklassen für Leute wie dich. Ich hab dich nicht lange am Hals, und du mich nicht. Klingt das nach einem Plan?"
Sie verzog ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln. Ihr Herz flatterte in ihrer Brust. Sie musste nicht mehr zurück. Wenn sie sich gut anstellte, würde sie nie wieder zurück müssen.
„Ja. Danke. Ich- darf ich Ihren Namen erfahren?"
Er schüttelte den Kopf.
„Das wäre zu persönlich, meinst du nicht auch? Am Ende denken die Leute noch, ich wäre ein wichtiger Teil deines Leben gewesen, oder so", antwortete er und klang ein wenig amüsiert.
„Okay, und wie nenne ich Sie dann?"
Er überlegte einen Moment lag.
„»Du« reicht völlig, ist ja momentan außer uns keiner da, Kleine", erwiderte er dann.
Das Mädchen zuckte die Schultern.
„Auch gut. Wenn du mich Kleine nennst, darf ich dich dann Großer nennen?", fragte Ketsu daraufhin vorsichtig, woraufhin der Fremdweltler lachte.
„Gut, darfst du. Ich mag dich. Und jetzt solltest du schlafen."
„Dein Schiff ist wirklich schön, Großer", murmelte sie, während sich ihre Augen wieder schlossen.
„Du kleine Schmeichlerin. Die alte Schrottkiste sieht aus, als würde sie jeden Moment auseinanderfallen", lachte er amüsiert. „Ruh dich aus, ich besorge uns was zu essen. Betonung liegt auf »besorgen«, ich bin nicht gerade besonders gut im kochen. Möchtest du was bestimmtes?"
Aber da war sie schon eingeschlafen.

Die nächsten paar Tage schlief Ketsu auf dem Klappbett. Es war nicht besonders weich, aber es war so viel gemütlicher als alles, auf dem sie zuhause jemals geschlafen hatte. Weil es ein tatsächliches Bett war. Weil sie hier keine Angst haben musste.

Der Lasat schaute dem Mädchen hinterher, das in Richtung der Akademie verschwand.
„Karabst...", murmelte er leise und hoffte, dass das, was er getan hatte, kein Fehler gewesen war.
Sie war ein kluges Mädchen, oder? Sie würde nicht wirklich glauben, dass das, was das Imperium tat, gut für die Galaxie war.
Vielleicht, überlegte er, hätte er sie doch nach ihrem Namen fragen sollen. Auch wenn sie sich vielleicht nicht an ihn erinnern würde... sie hatte einen größeren Einfluss auf sein Leben gehabt, als sie wusste. Sie erinnerte ihn an jemanden. Und das brachte ihn darauf, dass es vielleicht doch an der Zeit war, endlich nach Hause zurückzukehren.

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