58. Kapitel - Ash

Ash Lesharo

Violet antwortet nicht auf meine Nachriten und geht auch nicht an ihr Handy. Seit über zwanzig Minuten versuche ich sie zu erreichen, denn so lange sollte sie schon hier sein, in meinem Unterricht. Tristan und Tina scheinen auch besorgt zu sein. Offenbar meldet sie sich bei niemandem und das gefällt mir überhaupt nicht.

Das erinnert mich an den ersten Mittwoch hier, als sie wegen dem Besuch bei ihrem Frauenarzt zu spät gekommen ist. Da war ich auch besorgt, aber jetzt bin ich es mehr. Irgendetwas muss passiert sein.

>Entschuldigung, ich habe verschlafen<, platzt Violet plötzlich in die Klasse, genau so bleich sie vor zwei Wochen und ich muss mich wirklich zusammenreißen, sie nicht darauf anzusprechen.

>Verschlafen?<, hakt Tristan gleich nach, doch sie setzt sich wortlos auf ihren Platz zwischen ihm und Tina. Ohne auf ihre Umgebung zu achten, schlägt sie ihr Mathebuch auf, sieht bei Tristan nach, welche Aufgaben sie lösen sollen und beginnt dann damit.

>Dramaqueen<, flüstert jemand und wenn ich das richtig deute, war es Penny. Diese sitzt heute neben Luca, hat mit seinem Sitznachbarn den Platz getauscht. Solange sich die beiden ruhig verhalten, habe ich als Referendar keinen Grund sie voneinander zu trennen, nur darum habe ich sie das machen lassen. Obwohl es Violet stören wird, wie sich Penny an Luca ran macht. Aber zumindest hat sie mir noch keine schmachtenden Blicke oder sonst etwas zugeworfen.

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Grübelnd stehe ich in der Tür, an den Türrahmen gelehnt und betrachte Violet. Sie schläft im Gästezimmer, tief und fest, rührt sich keinen Millimeter. Sie war den ganzen Tag schon müde, in der Schule habe ich sie kaum lächeln gesehen. Sie ist hier aufgetaucht, kurz nachdem ich nach Hause gekommen bin, ohne vorher etwas zu sagen. Sie wollte nicht reden, hat mich gebeten, sich hier hinlegen zu können und selbstverständlich habe ich ihr mein Schlafzimmer und das Gästezimmer angeboten. Hier war es ihr lieber und sie hat sich auch sofort hingelegt. Das war vor vier Stunden.

>Danke<, sagt sie verschlafen, öffnet langsam ihre Augen. Sie ist nicht mehr so blass, aber wirklich gesund sieht sie auch nicht aus. Ich bin erleichtert, dass sie nicht den ganzen Nachmittag und Abend geschlafen hat, obwohl ihr das vielleicht sogar ganz gutgetan hätte.

>Was ist los?< Eigentlich wollte ich sie erst Mal in Ruhe lassen, warten, dass sie selbst etwas sagt, aber sie hat die ganze Zeit geschlafen, ich war wach und habe mir den Kopf zerbrochen. Womöglich mehr, als es nötig gewesen wäre, aber genau das will ich gerade herausfinden.

>Zu viel<, sagt sie leise, reibt sich den Schlaf aus den Augen. >Meine Mutter weiß, dass ich die Pille abgesetzt habe und mich deswegen zur Rede gestellt<, erklärt sie, unterdrückt ein Gähnen und noch mehr Sorge steigt in mir auf. Ihre Eltern sollten von all dem nichts erfahren. >Ich habe mich rausgeredet, dass ich sie abgebrochen habe, weil ich keinen Freund habe und vom Abbruch nicht schwanger werden kann. Dann hat sie angedeutet, dass sie mich genau so rauswerfen wird wie meine Schwester, wenn ich schwanger werde und dann habe ich meine Tage bekommen.< Das ist sehr viel auf einmal, aber bei ihrem letzten Satz muss sie sich irren. Im Grunde weiß ich nicht mehr über Schwangerschaften, als jeder andere in meinem Alter, aber in dem Punkt bin ich mir sicher. >Das hat mich die ganze Nacht wachgehalten und ich habe auch Unterleibschmerzen, deshalb bin ich so müde. Aber laut meiner Frauenärztin ist das nur eine Zwischenblutung. So etwas kann in den ersten Wochen der Schwangerschaft vorkommen, mache Frauen haben die ganze Schwangerschaft über ihre Tage. Es ist nur ganz wenig, genau wie sie vermutet hat und in ein oder zwei Tagen auch wieder weg. Ich dachte erst, dass diese ganze Scheiße der letzten beiden Wochen umsonst war<, erklärt sie, ihr stehen die Tränen in den Augen und das kann ich verstehen. Der Gedanke, dass sie das alles durchgemacht haben könnte, wegen einem Irrtum, macht mir das Herz schwer. >Das wäre wirklich nicht in Ordnung gewesen.< Besorgt gehe ich zu ihr, helfe ihr, sich aufzusetzen, dann lasse ich mich neben ihr sinken und ziehe sie sanft in meine Arme. >Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Das war heute Morgen einfach zu viel für mich.<

>Schon in Ordnung<, versichere ich ihr, streiche über ihren Rücken und versuche sie zu beruhigen.

>Ist es nicht. Egal was passiert, wann ich mich wofür entscheide, irgendetwas geht den Bach runter<, schluchzt sie und so wirklich kann ich ihr da leider nicht widersprechen. >Wenn meine Eltern davon erfahren, verliere ich meine Familie. Wenn jemand von uns beiden erfährt, verlierst du deinen Job und vielleicht sogar deine ganze Karriere. Wenn ich das Baby bekomme, wird alles noch schlimmer und wenn ich es abtreibe, nur um das alles irgendwie am Leben zu halten, werde ich mir den Rest meiner Tage Vorwürfe machen.<

>Hey, hör auf<, bitte ich sie, nehme ihr Gesicht vorsichtig zwischen meine Hände, damit sie mich ansieht, streiche ihre warmen Tränen bei Seite. Ihre schönen, grünen Augen sind gerötet, sie sieht hilfesuchend zu mir auf. >Ich werde nicht weg gehen, okay? Wir haben in jedem Fall uns beide, Violet. Und du weißt nicht, ob man das mit deinen Eltern nicht doch wieder irgendwie hinbekommen könnte. Mach dich bitte nicht verrückt.< Sie lächelt ganz schwach, dann zieht sie meine Hände weg, um ihr Gesicht an meine Brust zu schmiegen.

>Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde<, gesteht sie leise, hält sich an mir fest. >Ich weiß es wirklich nicht.<

>Ich gehe nicht weg, versprochen.< Das ist wahr. Selbst, wenn wir es nicht schaffen, eine Beziehung zu führen, will ich sie niemals allein lassen. Selbst wenn nichts funktioniert und wir am Ende getrennte Wege gehen, werde ich für sie da sein.

>Danke.< Sie bleibt weiter so sitzen und ich halte sie einfach fest. Viel mehr kann ich gerade nicht für sie tun, aber ich denke auch, dass das für den Moment völlig ausreicht. >Kann ich dich um noch etwas bitten?<, will sie wissen, lässt ihr Gesicht jedoch weiter an meiner Brust liegen.

>Natürlich.< Sie holt tief Luft, wischt ihre Tränen bei Seite.

>Kannst du mich zu Tina bringen? In die Nähe würde schon reichen, aber so weit will ich nicht laufen, nicht in dem Zustand. Ich würde ja auch hierbleiben, aber das wäre eine wirklich schlechte Idee, glaube ich.< Da hat sie durchaus Recht. Ich hätte sie gern hier, würde mit ihr reden und ihr alle Sorgen nehmen oder es ihr wenigstens angenehmer machen, aber vielleicht ist es auch ganz gut, wenn sie eine Freundin um sich hat. Sie kann ihr auf eine andere Art und Weise helfen, außerdem fühlt sie sich bei ihr vermutlich wohler, was ihre Regel betrifft. Damit könnte ich ihr hier nämlich überhaupt nicht helfen.

>Sehr gern. Sag mir nur wann.< Sie nickt langsam, löst sich von mir und lächelt sogar schwach.

>Danke. Schon wieder.< Mit einem knappen Kopfschütteln streiche ich ihr eine Träne von der Wange, lächle aufmunternd.

>Nichts zu danken. Ich lasse dich jetzt ein bisschen allein und koche uns einen Tee. Komm runter, wenn du soweit bist.< Sie nickt knapp und eigentlich will ich aufstehen, doch sie küsst mich. Sie ist ganz sanft und vorsichtig, legt eine Hand dabei in meinen Nacken. Es fühlt sich irgendwie vertraut an, obwohl es ein salziger Kuss ist.

>Ich sollte mir das Gesicht waschen<, sagt sie leise, lächelt verlegen, klettert von meinem Schoß. >Und wieder zurück unter die Lebenden gehen. Ich bin bestimmt fürchterlich blass.<

>Das sind zwei hervorragende Ideen<, stimme ich ihr zu, stehe auf und gehe zu ihr, gebe ihr noch einen Kuss auf die Stirn. Sie schließt die Augen, genießt die kleine Berührung und dann gehe ich nach unten, gebe ihr Zeit für sich.

In der Küche suche ich mir zwei Tassen, stelle Wasser auf und stehe dann vor dem Tee. Für mich wird es wie üblich ein Kräutertee, aber ich bin mir nicht sicher, welchen sie nehmen will.

>Hey, kann ich bei dir schlafen?<, höre ich Violet im Wohnzimmer fragen, sehe mich fragend zu ihr um, doch sie hat ihr Handy am Ohr. Offenbar telefoniert sie mit Tina, kommt dabei aber zu mir, deutet auf eine der Teesorten. >Ja, natürlich. Also ab acht?<, fragt sie weiter und ich hänge uns die beiden Beutel in die Tassen. >Okay, dann bis später. Ich habe dich lieb<, verabschiedet sie sich, wartet noch ein paar Sekunden, dann legt sie auf. >Sie meldet sich noch Mal, wenn sie zu Hause ist, aber vermutlich wird es nicht vor acht<, erklärt sie, setzt sich an den Küchentisch. >Wie geht es dir eigentlich? Die letzten beiden Tage hat sich schon wieder alles nur um mich gedreht.<

>Mir geht es gut, ich mach mir nur Sorgen um dich<, versichere ich ihr, will mich zu ihr setzten, aber der Wasserkocher ist fertig, darum gieße ich uns erst den Tee auf.

>Okay, gut. Wie geht es June und Emil?< Schulterzuckend nehme ich die beiden Tassen, setzte mich zu ihr an den Tisch.

>Gut, soweit ich weiß. Es kann sein, dass sie ihn am Wochenende wieder her bringt, oder zu dir, je nachdem, wie es dir lieber ist. Und es kommt auch darauf an, wie lange. Wenn es wieder das ganze Wochenende wird, dann eher hier her.< Das lässt sie schmunzeln, ihr Schultern entspannen sich ein wenig und das freut mich.

>Dann komme ich her und spiele mit ihm, wenn du nichts einzuwenden hast<, schlägt sie vor und dagegen gibt es absolut nichts zu sagen.

>Ich melde mich, wenn ich etwas weiß<, versichere ich ihr und ich Lächeln wird noch entspannter.

>Oh ja, eine Dosis Sonnenschein-Emil kann ich sehr gut gebrauchen.< Es freut mich wirklich, sie so zu sehen. Sie hat heute viel zu wenig gelächelt. >Wäre June mir sehr böse, wenn ich ihn behalte?< Der Scherz lässt uns beide schmunzeln, dann seufzt sie, betrachtet kurz ihren Tee. >Ich schulde dir sehr viel, Ash<, sagt sie unvermittelt, was mich durcheinanderbringt.

>Wie kommst du denn darauf?< Sie hebt die Schultern, dann abwehrend die Hände.
>Versteh das bitte nicht falsch, es ist alles in Ordnung. Es ist nur so, dass ich dir das alles irgendwann zurück geben will. Was du alles für mich getan hast, wie sehr du für mich da bist. Eines Tages will ich mich dafür wirklich revangieren können.<

>Ach Violet.< Sie ist ein so guter Mensch. Niemand, den ich kenne, würde auf die Idee kommen, das so zu sagen und ich schätze sie als jemanden ein, der das auch wirklich tut. Sie wird sich den Kopf zerbrechen und einen Weg finden, wie sie das tun kann, aber das muss sie nicht. Ich helfe ihr sehr gern und erwarte dafür keine Gegenleistung. Solange sie glücklich ist, reicht mir das. 

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