Kapitel 1

    Grauer Nebel verschlang die Häuser und Straßen des trübseligen Dorfes. Sonnenstrahlen versuchten sich einen Weg durch den dichten Schleier zu bahnen, doch bei jedem kläglichen Versuch, schien die Decke grauen Nebels nur noch größer zu werden.

Niemand sehnte den Sonnenaufgang herbei, denn das hieße ein neuer Tag, neue Arbeit, neue Qual.

Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete ich die Menschenmasse, die sich schon früh am Morgen durch die Straßen zu ihrem Arbeitsplatz drängte und sich schon sentimental auf den neuen anstrengenden Arbeitstag vorbereitete.

Frauen, die ihre Wäsche in Körben auf ihren Köpfen zum Fluss trugen, Männer, die samt ihrem Werkzeug ihre Arbeit aufsuchten und Kinder, die fröhlich durch die Gassen sprangen, noch unwissend von ihrem zukünftigen Leben, was ganz und gar nicht einfach werden kann.

Genießt euer bequemes Leben, genießt noch eure schöne Zeit, bis es zu spät ist, sandte ich in Gedanken an sie.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch sie sich schweren Leistungen und Aufgaben unterziehen mussten. Bis auch ihre zierlichen Körper unter den harten Anstrengungen leiden mussten. Bis ihr altes schönes Leben als eine einzige, blasse Erinnerung zurückbleiben und nach und nach in Vergessenheit geraten wird.

Kühle Brise erfasste meinen Körper und eiserne Kälte kroch sich unter meine lumpige Arbeitskleidung, welche ich zugleich auch als meine Alltagskleidung nutzte.

Ich strich mir über meinen zerknitterten Ärmel meines Hemdes bis hin zu meinem nackten Handgelenk, an dem ich mit meinen kalten Fingerspitzen verweilte.

Ich musterte neugierig einen etwas dunkler als mein Hautton gefärbten Fleck, den ich schon seit meiner Geburt trug. Jedoch war er nicht wie üblich rund, sondern wie aus Zauberhand formte das dunkle, hautfarbene Mal bei genauerem Hinsehen den Buchstaben U.

Verwundert über die Veränderung dessen, zog ich die dicke, geschwungene Linie des Buchstabens mit meinem Zeigefinger nach, während ich angestrengt darüber nachdachte, ob das Mal schon immer so aussah und ich die eigentliche Form nie erkannt hatte oder es sich einfach im Laufe des Alters durch die schwere Handarbeit verändert hatte, als eine mir allzu bekannte Stimme meinen Gedankengang unterbrach.

,,Carlae".

Ihre Stimme klang erschöpft, dennoch hörte ich sie, trotz der weiten Entfernung, klar und deutlich.

,,Gwyneth", rief ich und setzte eine heitere Miene auf, obwohl ich wusste, dass sie mich nur wieder zur Arbeit rufen wollte.

Allein schon bei dem Gedanken mich wieder an meinen Webstuhl zu setzen und weitere Kleidung herzustellen, zog sich mein Magen krampfhaft zusammen.

Früher hatte ich durchaus leichtere Aufgaben zu erledigen, wie das Sammeln von Kräutern und Pflanzen für unsere Mahlzeiten.

Doch das änderte sich schnell, als Dad eine Arbeit als Hufschmied in der Stadt angenommen hatte. Dadurch hatte er hier in Coastlet, dem Ort an dem ich aufgewachsen bin, alles aufgegeben. Sein Haus, seine Heimat, sogar seine Tochter.

Er hatte mich einfach bei seiner Schwester abgeschoben und einsam zurückgelassen, wie eine Raupe, nach ihrer Verwandlung, ihr Kokon. Erst ohne ihn, konnte sie sich völlig frei entfalten und war völlig unabhängig. Dass der Kokon ohne sie aber nur ein abgestorbener, nutzloser Haufen war, der alleine wertlos war, wusste sie natürlich nicht.

Aber Dad wusste es.

Und trotzdem ist er gegangen.

Eine schöne Kindheit konnte ich ab da also vergessen. In dieser Zeit gab es keinen Spaß oder Freude, wie es eigentlich hätte sein sollen. Nicht einmal eine glückliche Familie gab es.

Nur mich, meine Tante Gwyneth und Arbeit.

Anstrengende, harte Arbeit. Tag ein, Tag aus.

Ich würde nicht behaupten, dass ich meinen Dad deswegen hassen würde, aber diese Entscheidung, mich wegen seiner Arbeit zu verlassen, werde ich ihm wahrscheinlich nie verzeihen können, genauso wie er mir für immer die Schuld an den Tod von Maryam geben wird.

Maryam.

Meine Mutter, die ich nie kennenlernen konnte, weil sie bei meiner Geburt ums Leben gekommen war.

Durch mich hat Dad seine große Liebe verloren. Anstelle seiner Liebsten hatte er jetzt nun eine Tochter, die, wie die Ironie des Schicksals es nun mal will, natürlich auch noch wie seine tote Frau aussehen musste. Sein damaliger größter Schatz ist also durch eine billige Kopie ersetzt worden.

Kein Wunder, dass er einfach abgehauen ist.

Seine Verachtung mir gegenüber konnte ich also definitiv nachvollziehen.

Ich vernahm ein Räuspern.

Ich hatte ganz vergessen, dass Gwyneth mit Händen in die Hüfte gestemmt, vor mir stand. Sie blickte mich erwartungsvoll an, wobei ihre hellbraunen Augen einen mitleidigen Blick zeigten. Sie wusste genau worüber ich nachdachte.

Ihre schwarzen Locken hingen ihr ins Gesicht, doch sie gab sich keinerlei Bemühungen sie aus dem Gesicht zu streichen. Stattdessen schüttelte sie sanft den Kopf und streckte mir ihre Hand entgegen.

Mit einem traurig gezwungenen Lächeln ergriff ich sie mit leichtem Druck, welchen sie erwiderte.

,,Der Winter rückt immer näher, die Vorräte werden knapp."

Ihr Blick schweifte über die weiten Berge, deren Spitzen aus dem grauen Schleier hervorlugten, und wanderte hinab auf die Menschenmasse, welche jetzt deutlich kleiner wurde, da schon längst der offizielle Arbeitsanfang, welcher jeden Tag, außer sonntags, zu Beginn des Sonnenaufgangs, anfing.

,,Es gab schon wieder neue Anfragen nach Wintermänteln, auch Handschuhe werden dringend benötigt."

Ihr Kopf war immer noch auf das kleine Dorf gerichtet, welches von hier aus wie ein einziger, grauer Farbklecks aussah.

Ich wollte mich nicht wieder an die Arbeit machen. Ich wollte einfach die frische, kühle Luft auf meiner Haut genießen und nur für einen kurzen Moment nicht an Arbeit denken. Diesmal werde ich nicht nachgeben, heute nicht. Heute wollte ich einmal in meinem Leben erholsame Zeit für mich haben, die ich dringend benötigte.

Mein Blick folgte dem von Gwyneth und wanderte über die vor mir liegende Landschaft bis hin in das, von Trauer verschlungene, Dorf.

In meiner Freizeit, die sehr gering war, ging ich immer hier hinauf. Hier oben hatte ich das Gefühl frei zu sein. Frei von all den täglichen Pflichten, die ich stets zu erfüllen hatte.

Ich blickte auf den Anfang des kleinen Hügels, an dem die Weberei von Gwyneth stand.

Als mein Dad mich mit meinen damals zehn Jahren bei seiner Schwester abgesetzt hatte, brachte sie mir sofort das Weben bei. Damals zog ich noch krumme Maschen und war zu klein, um den Webstuhl zu bedienen.

Da ich aber jetzt schon siebzehn war, war ich groß genug und konnte wesentlich mehr leisten als früher.

Geld bekam ich nicht viel dafür, nur ab und zu holten Gesandte des Königs bestellte Kleidung ab, was mehr Münzen als üblich ergaben. Jedoch wurden die Bestellungen zurzeit immer weniger und füruns somit noch schwerer an Geld zu kommen.

Für die Dorfleute taten wir es eher kostenlos, da es sich viele nicht leisten konnten. Einige gaben uns trotzdem immer Mal ein paar Münzen für unsere Arbeit, sodass wir uns wenigstens ausreichend Essen kaufen konnten.

Unser Dorf litt andauernd unter Lebensmittel- und Kleidungsmangel, weswegen auch jeder, der arbeitsfähig war, mithalf diese zu reduzieren.

Schließlich stimmte mich wieder einmal der Gedanke an die Familien, die keinerlei warme Kleidung für den, nun kommenden Winter, besaßen, um.

Obwohl all meine Energie zum Weiterarbeiten verbraucht war, ließen mich die Bilder von den frierenden Dorfleuten, die widerwillig in meinem Kopf auftauchten, nicht los und zwangen mich zum Gehen. Zwangen mich zum Helfen. Zwangen mich zum Arbeiten.

Wieder schaffte ich es nicht meine Pflichten für einen Tag ausfallen zu lassen, da mich sonst unzählige Schuldgefühle, aufgrund meiner Rücksichtslosigkeit, plagen würden.

Ich spürte Gwyneth' fürsorglichen Blick in meinem Rücken, nachdem ich ihre wärmende Hand losgelassen und mich immer weiter von ihr wegbegeben hatte, als ihre liebevolle Stimme zu mir durchdrang.

,,Carlae, warte"

Mit schnellen Schritten eilte sie neben mich. Ihre Hände zupften nervös an ihrem Rock herum, während sie mir tief in die Augen blickte. Offenbar fiel ihr es schwer mir jene Frage zu stellen, da sie erst nach drei Anläufen einen richtigen Satz zustande brachte.

,,Wen möchtest du denn morgen alles zu deinem Geburtstag einladen?"

Nachdem sie diese Frage endlich über ihre Lippen gebracht hatte, senkte sie möglichst schnell ihren Kopf und blickte auf ihre beinahe nackten Füße, welche nur einen Hauch Stoff umgaben.

Der Geburtstag.

Mein Geburtstag.

Mein 18. Geburtstag.

Durch die viele Arbeit hatte ich meinen eigenen Geburtstag vollkommen vergessen. Eigentlich war dieser Tag auch nicht mein richtiger Geburtstag, da sich Gwyneth sowohl auch ich uns nicht erinnern konnten, wann ich tatsächlich geboren worden war.

Sie legte einfach den Tag des Winteranfangs fest, da Winter damals meine Lieblingsjahreszeit, trotz der täglichen Kälte, gewesen war.

Jedoch hat sich diese Meinung drastisch geändert, als ich älter wurde und die Krisen, welche diese Jahreszeit jedes Jahr aufs Neue auslöste, verstand.

Ab morgen werde ich also dann endlich erwachsen sein.

Naja, endlich war wohl nicht das passende Wort, denn volljährig zu sein hieß, ich musste genau wie Gwyneth anfangen viel zu hohe Steuern an den König zu zahlen. Das wiederum bedeutete noch weniger Geld, als ich eh schon besaß.

Schon allein der Gedanke, ab morgen noch mehr arbeiten zu müssen, um das verlorene Geld wieder reinzuholen, ließ meine Stimmung noch tiefer sinken.

Neben Enttäuschung breitete sich aber noch ein ganz anderes Gefühl aus, eines, was ich zuvor so gut wie noch nie verspürte.

Eines, was ich vorher immer zu verdrängen versuchte.

Nämlich Wut.

Ich war wütend auf die ganze Ungerechtigkeit, die schon immer über das Leben der Bürger bestimmte.

Wütend auf den Auslöser dieser ganzen Trauerlage, in der wir uns jetzt befanden. Einzig und allein wütend auf den König, dem wir dies alles zu verdanken hatten.

Bevor noch weiterer Zorn in mir aufsteigen konnte, schüttelte ich heftig den Kopf, so als könne ich damit alle Sorgen und Gedanken von mir abschütteln.

Als ich wieder klar denken konnte, riss ich mich zusammen und beantwortete Gwyneth' Frage, wen ich morgen einladen würde.

Mit ruhiger Stimme versicherte ich ihr, dass sie die Einzige ist, die ich morgen an meinem Geburtstag an meiner Seite haben möchte.

Wen auch sonst?

Es gab hier kaum jemanden in meinem Alter, da die meisten Kinder, aufgrund mangelnder Hygiene oder Hungersnot, maximal die ersten Jahre überlebten. Nur Dank Gwyneth' großes Wissen über Kräuter und Heilpflanzen, wurde ich erst so alt, sonst wäre ich wahrscheinlich schon längst wie alle anderen hilflos verkümmert.

Abgesehen von Freunden, die ich nicht besaß, gab es dann nur noch meine winzige Familie, die aus meinem Vater und meiner Tante bestand. Und da Dad sowieso nur alle zehn Tage, wenn überhaupt, hier aufkreuzte, konnte ich seine Anwesenheit also nicht in Erwägung ziehen.

Gwyneth schenkte mir daraufhin noch ein warmherzig zufriedenes Lächeln, bevor ich mich von ihr abwand, um meinen Weg zur Weberei fortzusetzen.

Die Arbeit wäre jetzt genau das Richtige um mich abzulenken.

Unwillkürlich brachte mich mein schlagartiger Meinungswechsel zum Lachen, da ich bis vor Kurzem noch selbst davon überzeugt war, heute die Arbeit ausfallen zu lassen.

Aber was ich auch tat, mein Tag begann und endete immer mit Arbeit.

Ich seufzte.

Willkommen in meiner Welt.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top