2. Nouis; Zouis; Narry; Zarry; Ziall
Hier sind die anderen 5. Ich hoffe es gefällt euch.
Schwarzfahren für Anfänger
NOUIS:
Die gelben Halteschlaufen der S-Bahn schwingen hin und her. An manchen Schlaufen hängen Menschen und halten sich fest. Louis sieht aus dem Fenster: Draußen ist finsterste Nacht. Er hat gesagt: Ich rufe dich an. Dann die ausgetretenen Treppen runter, zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Vorbei am Bäcker, bei dem er neulich Brötchen geholt hat, Nialls Eltern waren nicht da, und der Honig ist aufs Bettlaken getropft. Die Rosenstraße lang, dann rechts. Der Eingang zum S-Bahnhof, Stufen hoch, Gleis 1, die nächstbeste S-Bahn.
Jetzt ist Louis wieder dort, denn die S-Bahn fährt im Kreis. Er blinzelt, bis Gleis 1 zwischen seinen Wimpern verschwimmt. Wie gerne wäre er jetzt woanders, in einer Stadt, die ihn nicht kennt.
Endlich fährt die S-Bahn weiter. Ein paar Leute sind zugestiegen, auch eine Frau um die vierzig. Sie trägt normale Kleidung, aber dann holt sie ein Klemmbrett aus der Tasche und sagt: „Fahrgastbefragung". Drinnen Neonlicht, draußen Schwärze. Louis ist ein Schwarzfahrer. Normalerweise erkennt er Kontrolleure schon aus zwanzig Metern Entfernung und verdrückt sich rechtzeitig. Aber heute war er wohl abgelenkt, wegen der Sache mit Niall.
Niall gehört zu den Leuten, die immer ein Ticket haben und auch sonst alles richtig machen. In der spiegelnden Scheibe beobachtet Louis, wie die Frau in seine Richtung läuft. Neben seinem Sitz bleibt sie stehen. Louis muss wohl oder übel zu ihr aufschauen.
„Hallo. Kann ich dir ein paar Fragen stellen?" Louis nickt so halb und starrt auf die polierten Schuhe der Frau. Die zückt ihren Stift.
„Alter?" „Sechzehn", murmelt Louis.
„Wo bist du eingestiegen?" Da, wo Niall wohnt. Louis wünscht sich dorthin zurück, seinen Kopf zurück in Nialls Schoß. Sie haben Musik gehört und Gummibärchen gegessen. Vor einer Stunde war noch alles okay. „Rosenstraße", antwortet Louis. Die Frau kritzelt etwas auf ihr Klemmbrett.
„Und wo willst du hin?", fragt sie, ohne den Blick zu heben. Wo will man hin, wenn man mit der S-Bahn im Kreis fährt? Die Frage ist wohl eher, wo man nicht hinwill. Das ungeduldige Klicken des Kulis reißt Louis aus den Gedanken. „Wo willst du aussteigen?" „Keine Ahnung", stammelt Louis. „Ich ... ich mach das manchmal gerne, einfach so rumfahren."
Warum hat er nicht irgendeine blöde Haltestelle genannt? Aber da ist der Satz schon raus. Die Frau sagt „Aha" und mustert Louis abschätzig. Louis ist gerade ziemlich neben der Spur. Aber das ist doch noch lange kein Grund, ihn so anzusehen. Schließlich hat es genauso angefangen mit Niall und ihm. Mit dem Rumfahren.
Manchmal hat Louis keinen Bock auf seine Mutter, keinen Bock auf zu Hause. Dann fährt er rum und schaut raus auf seine Stadt. Oder er guckt sich die Leute in der S-Bahn an und malt sich aus, wie diese Leute wohl leben. So war es auch an dem Tag, an dem er Niall zum ersten Mal traf. Da wusste Louis natürlich noch nicht, dass er Niall heißt, da war er nur irgend so ein Typ für ihn, der sich auf den Sitz gegenüber fallen ließ. Ungefähr in seinem Alter, obwohl das nicht leicht zu erkennen war, weil er die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem hielt er irgendwas in der Hand. Louis versuchte zu erkennen, was es war. Vielleicht eine Handtasche, die er einer Omi entrissen hatte ...
„Willst du eins?", fragte der Typ, der vielleicht ein Handtaschenräuber war. „Was?", fragte er. „Ob du ein Gummibärchen willst. Weil du dauernd auf die Packung starrst, dachte ich ..." „Oh. 'tschuldigung ... Darf ich wirklich?" „Klar. Welche Farbe?" „Egal, Hauptsache kein Rotes." „Die meisten mögen die Roten am liebsten." „Mir schmecken die nicht. Ich wette, die Leute nehmen sie nur wegen der Farbe. Rot wie rote Rosen, wie Liebe ... Das ganze Herz-Schmerz-Zeug. Nee, danke. Ich bin kuriert von roten Gummibärchen."
So haben Louis und Niall sich kennengelernt. Sie haben die Gummibärchenfrage ausdiskutiert, und nachdem sie zweimal im Kreis gefahren waren, haben sie Handynummern ausgetauscht. Danach haben sie sich noch oft getroffen, nicht nur in der S-Bahn. Aber jetzt ...
Louis merkt plötzlich, dass ihm etwas das Gesicht runterläuft, und dreht sich zum Fenster. Die Frau mit dem Klemmbrett starrt ihn an, das spürt er. Kann die nicht endlich abhauen? Er wünscht sich eine Stunde zurück, seinen Kopf wieder in Nialls Schoß, seine streichelnden Finger in seinem kurzen, stacheligen Haar.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben?", hat er gefragt. „Ich musste eigentlich zum Basketballtraining. Aber als die Haltestelle kam, bin ich einfach weitergefahren." „Warum das denn?", hat er gefragt und sich im nächsten Moment gewünscht, er könnte die Worte wieder zurück in seinen Mund stopfen und sie könnten einfach liegen bleiben und Musik hören. Doch es war zu spät, Niall nahm sein Gesicht in seine Hände und küsste Louis auf den Mund. Er schmeckte nach roten Gummibärchen und jeder Menge Herz-Schmerz-Zeug. „Darum", sagte er. „Ich ... ich glaub, ich bin in dich verliebt." So was hatte er noch nie zu ihm gesagt, so was sagten sie nicht zueinander, das machte alles kaputt!
Louis rückte von Niall ab, wischte sich über den Mund, aber das Gefühl an seinen Lippen ging nicht weg und sein Herz hämmerte, hämmerte. So wie eine S-Bahn, die zu schnell fährt, eine S-Bahn, die gleich entgleist. Sein warmer Atem auf seiner Haut. Sein fragender Blick. Louis dachte daran, wie sie einmal nachts S-Bahn gefahren waren. Sie waren die Letzten im Abteil gewesen und hatten auf die Lichter draußen geschaut. Und es war so ein Gefühl, als würde die Stadt ihnen ganz allein gehören. Als ob alles möglich wäre. Doch dann musste Louis an seine Mutter denken, die sich auf den Boden geworfen hatte, als Papa wegging, einfach auf den Boden, und geschluchzt hatte: Es tut so weh, so weh ...
„Sag was, Lou.", bat Niall. Aber Louis sagte nichts. Er war stumm vor Wut. Wie konnte Niall sich so sicher sein? Was ist das eigentlich, Liebe? Und woher weiß man, dass man sie hat? Woher weiß man, dass es kein schrecklicher Irrtum ist? Louis sagte nichts. Und dann: Ich muss jetzt los. Ich ... ich ruf dich an. Danach ging er. Zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Nächstbeste S-Bahn. Und jetzt sitzt er hier. Fühlt sich irgendwie beschissen. Von Niall. Von der Bahn. Vom Leben. Von sich selbst.
„Junge, ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, aber ich würde gerne mal deinen Fahrschein sehen", fordert die Frau. Louis zuckt die Achseln. „Hab keinen Fahrschein", murmelt er, zu erschöpft, um zu lügen. Anscheinend ist er sogar zu blöd zum Schwarzfahren. Die Frau presst die Lippen zusammen. „Dann hätte ich jetzt gerne deinen Personalausweis." Louis kramt nach seinem Portmonee, den Kopf gesenkt, sodass er die Kontrolleurin nicht ansehen muss, sondern nur ihre polierten Schuhe.
Plötzlich gerät ein Paar Turnschuhe in Louis Blickfeld. Nicht irgendwelche Turnschuhe – die da kennt er! „Da haben Sie seinen Fahrschein", sagt Niall. Dann hält er der Frau ein Ticket unter die Nase. Sie prüft es sorgfältig auf Gültigkeit und nickt dann. „Könnte ich bitte auch deinen Fahrschein sehen, junger Mann?" „Ich hab keinen", entgegnet Niall und schaut der Kontrolleurin gelassen in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem kurzen Lächeln. Aber vielleicht hat Louis sich das auch nur eingebildet. Anschließend stellt die Kontrolleurin Niall einen Bußgeldbescheid aus. Die ganze Zeit über muss Louis ihn anstarren wie ein Wunder.
„Was machst du denn hier?", platzt es aus ihm raus, kaum dass die Kontrolleurin gegangen ist. „War klar, dass du in die nächste S-Bahn steigst", antwortet Niall und lässt sich auf den Sitz neben ihm fallen. „Ich musste einfach nur am Bahnsteig stehen bleiben und warten, bis du irgendwann vorbeigefahren kommst. War Glück, dass ich dich gesehen hab." Dann schweigen sie und trauen sich beide nicht, sich richtig anzusehen.
Louis weiß nicht, was er sagen soll. Also sagt er: „Mit dem Schwarzfahren, das hast du irgendwie noch nicht so richtig drauf." „Dann musst du wohl noch ganz viel mit mir üben", antwortet Niall und grinst ihn an. Gemeinsam betrachten sie die Halteschlaufen, die in den Kurven hin und her schwingen.
Niall fragt leise: „Hast du Angst, Lou?" „Ja", flüstert er. „Ein bisschen." Sie fahren durch die schwarze Nacht, Louis und sein Schwarzfahrer, da nimmt er seine Hand. Seine Hand ist warm.
ZOUIS:
Die gelben Halteschlaufen der S-Bahn schwingen hin und her. An manchen Schlaufen hängen Menschen und halten sich fest. Zayn sieht aus dem Fenster: Draußen ist finsterste Nacht. Er hat gesagt: Ich rufe dich an. Dann die ausgetretenen Treppen runter, zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Vorbei am Bäcker, bei dem er neulich Brötchen geholt hat, Louis Eltern waren nicht da, und der Honig ist aufs Bettlaken getropft. Die Rosenstraße lang, dann rechts. Der Eingang zum S-Bahnhof, Stufen hoch, Gleis 1, die nächstbeste S-Bahn.
Jetzt ist Zayn wieder dort, denn die S-Bahn fährt im Kreis. Er blinzelt, bis Gleis 1 zwischen seinen Wimpern verschwimmt. Wie gerne wäre er jetzt woanders, in einer Stadt, die ihn nicht kennt.
Endlich fährt die S-Bahn weiter. Ein paar Leute sind zugestiegen, auch eine Frau um die vierzig. Sie trägt normale Kleidung, aber dann holt sie ein Klemmbrett aus der Tasche und sagt: „Fahrgastbefragung". Drinnen Neonlicht, draußen Schwärze. Zayn ist ein Schwarzfahrer. Normalerweise erkennt er Kontrolleure schon aus zwanzig Metern Entfernung und verdrückt sich rechtzeitig. Aber heute war er wohl abgelenkt, wegen der Sache mit Louis.
Louis gehört zu den Leuten, die immer ein Ticket haben und auch sonst alles richtig machen. In der spiegelnden Scheibe beobachtet Zayn, wie die Frau in seine Richtung läuft. Neben seinem Sitz bleibt sie stehen. Zayn muss wohl oder übel zu ihr aufschauen.
„Hallo. Kann ich dir ein paar Fragen stellen?" Zayn nickt so halb und starrt auf die polierten Schuhe der Frau. Die zückt ihren Stift.
„Alter?" „Sechzehn", murmelt Zayn.
„Wo bist du eingestiegen?" Da, wo Louis wohnt. Zayn wünscht sich dorthin zurück, seinen Kopf zurück in Louis Schoß. Sie haben Musik gehört und Gummibärchen gegessen. Vor einer Stunde war noch alles okay. „Rosenstraße", antwortet Zayn. Die Frau kritzelt etwas auf ihr Klemmbrett.
„Und wo willst du hin?", fragt sie, ohne den Blick zu heben. Wo will man hin, wenn man mit der S-Bahn im Kreis fährt? Die Frage ist wohl eher, wo man nicht hinwill. Das ungeduldige Klicken des Kulis reißt Zayn aus den Gedanken. „Wo willst du aussteigen?" „Keine Ahnung", stammelt Zayn. „Ich ... ich mach das manchmal gerne, einfach so rumfahren."
Warum hat er nicht irgendeine blöde Haltestelle genannt? Aber da ist der Satz schon raus. Die Frau sagt „Aha" und mustert Zayn abschätzig. Zayn ist gerade ziemlich neben der Spur. Aber das ist doch noch lange kein Grund, ihn so anzusehen. Schließlich hat es genauso angefangen mit Louis und ihm. Mit dem Rumfahren.
Manchmal hat Zayn keinen Bock auf seine Mutter, keinen Bock auf zu Hause. Dann fährt er rum und schaut raus auf seine Stadt. Oder er guckt sich die Leute in der S-Bahn an und malt sich aus, wie diese Leute wohl leben. So war es auch an dem Tag, an dem er Louis zum ersten Mal traf. Da wusste Zayn natürlich noch nicht, dass er Louis heißt, da war er nur irgend so ein Typ für ihn, der sich auf den Sitz gegenüber fallen ließ. Ungefähr in seinem Alter, obwohl das nicht leicht zu erkennen war, weil er die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem hielt er irgendwas in der Hand. Zayn versuchte zu erkennen, was es war. Vielleicht eine Handtasche, die er einer Omi entrissen hatte ...
„Willst du eins?", fragte der Typ, der vielleicht ein Handtaschenräuber war. „Was?", fragte er. „Ob du ein Gummibärchen willst. Weil du dauernd auf die Packung starrst, dachte ich ..." „Oh. 'tschuldigung ... Darf ich wirklich?" „Klar. Welche Farbe?" „Egal, Hauptsache kein Rotes." „Die meisten mögen die Roten am liebsten." „Mir schmecken die nicht. Ich wette, die Leute nehmen sie nur wegen der Farbe. Rot wie rote Rosen, wie Liebe ... Das ganze Herz-Schmerz-Zeug. Nee, danke. Ich bin kuriert von roten Gummibärchen."
So haben Zayn und Louis sich kennengelernt. Sie haben die Gummibärchenfrage ausdiskutiert, und nachdem sie zweimal im Kreis gefahren waren, haben sie Handynummern ausgetauscht. Danach haben sie sich noch oft getroffen, nicht nur in der S-Bahn. Aber jetzt ...
Zayn merkt plötzlich, dass ihm etwas das Gesicht runterläuft, und dreht sich zum Fenster. Die Frau mit dem Klemmbrett starrt ihn an, das spürt er. Kann die nicht endlich abhauen? Er wünscht sich eine Stunde zurück, seinen Kopf wieder in Louis Schoß, seine streichelnden Finger in seinem kurzen Haar.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben?", hat er gefragt. „Ich musste eigentlich zum Basketballtraining. Aber als die Haltestelle kam, bin ich einfach weitergefahren." „Warum das denn?", hat er gefragt und sich im nächsten Moment gewünscht, er könnte die Worte wieder zurück in seinen Mund stopfen und sie könnten einfach liegen bleiben und Musik hören. Doch es war zu spät, Louis nahm sein Gesicht in seine Hände und küsste Zayn auf den Mund. Er schmeckte nach roten Gummibärchen und jeder Menge Herz-Schmerz-Zeug. „Darum", sagte er. „Ich ... ich glaub, ich bin in dich verliebt." So was hatte er noch nie zu ihm gesagt, so was sagten sie nicht zueinander, das machte alles kaputt!
Zayn rückte von Louis ab, wischte sich über den Mund, aber das Gefühl an seinen Lippen ging nicht weg und sein Herz hämmerte, hämmerte. So wie eine S-Bahn, die zu schnell fährt, eine S-Bahn, die gleich entgleist. Sein warmer Atem auf seiner Haut. Sein fragender Blick. Zayn dachte daran, wie sie einmal nachts S-Bahn gefahren waren. Sie waren die Letzten im Abteil gewesen und hatten auf die Lichter draußen geschaut. Und es war so ein Gefühl, als würde die Stadt ihnen ganz allein gehören. Als ob alles möglich wäre. Doch dann musste Zayn an seine Mutter denken, die sich auf den Boden geworfen hatte, als Papa wegging, einfach auf den Boden, und geschluchzt hatte: Es tut so weh, so weh ...
„Sag was, Zaynie.", bat Louis. Aber Zayn sagte nichts. Er war stumm vor Wut. Wie konnte Louis sich so sicher sein? Was ist das eigentlich, Liebe? Und woher weiß man, dass man sie hat? Woher weiß man, dass es kein schrecklicher Irrtum ist? Zayn sagte nichts. Und dann: Ich muss jetzt los. Ich ... ich ruf dich an. Danach ging er. Zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Nächstbeste S-Bahn. Und jetzt sitzt er hier. Fühlt sich irgendwie beschissen. Von Louis. Von der Bahn. Vom Leben. Von sich selbst.
„Junge, ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, aber ich würde gerne mal deinen Fahrschein sehen", fordert die Frau. Zayn zuckt die Achseln. „Hab keinen Fahrschein", murmelt er, zu erschöpft, um zu lügen. Anscheinend ist er sogar zu blöd zum Schwarzfahren. Die Frau presst die Lippen zusammen. „Dann hätte ich jetzt gerne deinen Personalausweis." Zayn kramt nach seinem Portmonee, den Kopf gesenkt, sodass er die Kontrolleurin nicht ansehen muss, sondern nur ihre polierten Schuhe.
Plötzlich gerät ein Paar Turnschuhe in Zayns Blickfeld. Nicht irgendwelche Turnschuhe – die da kennt er! „Da haben Sie seinen Fahrschein", sagt Louis. Dann hält er der Frau ein Ticket unter die Nase. Sie prüft es sorgfältig auf Gültigkeit und nickt dann. „Könnte ich bitte auch deinen Fahrschein sehen, junger Mann?" „Ich hab keinen", entgegnet Louis und schaut der Kontrolleurin gelassen in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem kurzen Lächeln. Aber vielleicht hat Zayn sich das auch nur eingebildet. Anschließend stellt die Kontrolleurin Louis einen Bußgeldbescheid aus. Die ganze Zeit über muss Zayn ihn anstarren wie ein Wunder.
„Was machst du denn hier?", platzt es aus ihm raus, kaum dass die Kontrolleurin gegangen ist. „War klar, dass du in die nächste S-Bahn steigst", antwortet Louis und lässt sich auf den Sitz neben ihm fallen. „Ich musste einfach nur am Bahnsteig stehen bleiben und warten, bis du irgendwann vorbeigefahren kommst. War Glück, dass ich dich gesehen hab." Dann schweigen sie und trauen sich beide nicht, sich richtig anzusehen.
Zayn weiß nicht, was er sagen soll. Also sagt er: „Mit dem Schwarzfahren, das hast du irgendwie noch nicht so richtig drauf." „Dann musst du wohl noch ganz viel mit mir üben", antwortet Louis und grinst ihn an. Gemeinsam betrachten sie die Halteschlaufen, die in den Kurven hin und her schwingen.
Louis fragt leise: „Hast du Angst, Zaynie?" „Ja", flüstert er. „Ein bisschen." Sie fahren durch die schwarze Nacht, Zayn und sein Schwarzfahrer, da nimmt er seine Hand. Seine Hand ist warm.
NARRY:
Die gelben Halteschlaufen der S-Bahn schwingen hin und her. An manchen Schlaufen hängen Menschen und halten sich fest. Niall sieht aus dem Fenster: Draußen ist finsterste Nacht. Er hat gesagt: Ich rufe dich an. Dann die ausgetretenen Treppen runter, zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Vorbei am Bäcker, bei dem er neulich Brötchen geholt hat, Harrys Eltern waren nicht da, und der Honig ist aufs Bettlaken getropft. Die Rosenstraße lang, dann rechts. Der Eingang zum S-Bahnhof, Stufen hoch, Gleis 1, die nächstbeste S-Bahn.
Jetzt ist Niall wieder dort, denn die S-Bahn fährt im Kreis. Er blinzelt, bis Gleis 1 zwischen seinen Wimpern verschwimmt. Wie gerne wäre er jetzt woanders, in einer Stadt, die ihn nicht kennt.
Endlich fährt die S-Bahn weiter. Ein paar Leute sind zugestiegen, auch eine Frau um die vierzig. Sie trägt normale Kleidung, aber dann holt sie ein Klemmbrett aus der Tasche und sagt: „Fahrgastbefragung". Drinnen Neonlicht, draußen Schwärze. Niall ist ein Schwarzfahrer. Normalerweise erkennt er Kontrolleure schon aus zwanzig Metern Entfernung und verdrückt sich rechtzeitig. Aber heute war er wohl abgelenkt, wegen der Sache mit Harry.
Harry gehört zu den Leuten, die immer ein Ticket haben und auch sonst alles richtig machen. In der spiegelnden Scheibe beobachtet Niall, wie die Frau in seine Richtung läuft. Neben seinem Sitz bleibt sie stehen. Niall muss wohl oder übel zu ihr aufschauen.
„Hallo. Kann ich dir ein paar Fragen stellen?" Niall nickt so halb und starrt auf die polierten Schuhe der Frau. Die zückt ihren Stift.
„Alter?" „Sechzehn", murmelt Niall.
„Wo bist du eingestiegen?" Da, wo Harry wohnt. Niall wünscht sich dorthin zurück, seinen Kopf zurück in Harrys Schoß. Sie haben Musik gehört und Gummibärchen gegessen. Vor einer Stunde war noch alles okay. „Rosenstraße", antwortet Niall. Die Frau kritzelt etwas auf ihr Klemmbrett.
„Und wo willst du hin?", fragt sie, ohne den Blick zu heben. Wo will man hin, wenn man mit der S-Bahn im Kreis fährt? Die Frage ist wohl eher, wo man nicht hinwill. Das ungeduldige Klicken des Kulis reißt Niall aus den Gedanken. „Wo willst du aussteigen?" „Keine Ahnung", stammelt Niall. „Ich ... ich mach das manchmal gerne, einfach so rumfahren."
Warum hat er nicht irgendeine blöde Haltestelle genannt? Aber da ist der Satz schon raus. Die Frau sagt „Aha" und mustert Niall abschätzig. Niall ist gerade ziemlich neben der Spur. Aber das ist doch noch lange kein Grund, ihn so anzusehen. Schließlich hat es genauso angefangen mit Harry und ihm. Mit dem Rumfahren.
Manchmal hat Niall keinen Bock auf seine Mutter, keinen Bock auf zu Hause. Dann fährt er rum und schaut raus auf seine Stadt. Oder er guckt sich die Leute in der S-Bahn an und malt sich aus, wie diese Leute wohl leben. So war es auch an dem Tag, an dem er Harry zum ersten Mal traf. Da wusste Niall natürlich noch nicht, dass er Harry heißt, da war er nur irgend so ein Typ für ihn, der sich auf den Sitz gegenüber fallen ließ. Ungefähr in seinem Alter, obwohl das nicht leicht zu erkennen war, weil er die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem hielt er irgendwas in der Hand. Niall versuchte zu erkennen, was es war. Vielleicht eine Handtasche, die er einer Omi entrissen hatte ...
„Willst du eins?", fragte der Typ, der vielleicht ein Handtaschenräuber war. „Was?", fragte er. „Ob du ein Gummibärchen willst. Weil du dauernd auf die Packung starrst, dachte ich ..." „Oh. 'tschuldigung ... Darf ich wirklich?" „Klar. Welche Farbe?" „Egal, Hauptsache kein Rotes." „Die meisten mögen die Roten am liebsten." „Mir schmecken die nicht. Ich wette, die Leute nehmen sie nur wegen der Farbe. Rot wie rote Rosen, wie Liebe ... Das ganze Herz-Schmerz-Zeug. Nee, danke. Ich bin kuriert von roten Gummibärchen."
So haben Niall und Harry sich kennengelernt. Sie haben die Gummibärchenfrage ausdiskutiert, und nachdem sie zweimal im Kreis gefahren waren, haben sie Handynummern ausgetauscht. Danach haben sie sich noch oft getroffen, nicht nur in der S-Bahn. Aber jetzt ...
Niall merkt plötzlich, dass ihm etwas das Gesicht runterläuft, und dreht sich zum Fenster. Die Frau mit dem Klemmbrett starrt ihn an, das spürt er. Kann die nicht endlich abhauen? Er wünscht sich eine Stunde zurück, seinen Kopf wieder in Harrys Schoß, seine streichelnden Finger in seinem kurzen, stacheligen Haar.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben?", hat er gefragt. „Ich musste eigentlich zum Basketballtraining. Aber als die Haltestelle kam, bin ich einfach weitergefahren." „Warum das denn?", hat er gefragt und sich im nächsten Moment gewünscht, er könnte die Worte wieder zurück in seinen Mund stopfen und sie könnten einfach liegen bleiben und Musik hören. Doch es war zu spät, Harry nahm sein Gesicht in seine Hände und küsste Niall auf den Mund. Er schmeckte nach roten Gummibärchen und jeder Menge Herz-Schmerz-Zeug. „Darum", sagte er. „Ich ... ich glaub, ich bin in dich verliebt." So was hatte er noch nie zu ihm gesagt, so was sagten sie nicht zueinander, das machte alles kaputt!
Niall rückte von Harry ab, wischte sich über den Mund, aber das Gefühl an seinen Lippen ging nicht weg und sein Herz hämmerte, hämmerte. So wie eine S-Bahn, die zu schnell fährt, eine S-Bahn, die gleich entgleist. Sein warmer Atem auf seiner Haut. Sein fragender Blick. Niall dachte daran, wie sie einmal nachts S-Bahn gefahren waren. Sie waren die Letzten im Abteil gewesen und hatten auf die Lichter draußen geschaut. Und es war so ein Gefühl, als würde die Stadt ihnen ganz allein gehören. Als ob alles möglich wäre. Doch dann musste Niall an seine Mutter denken, die sich auf den Boden geworfen hatte, als Papa wegging, einfach auf den Boden, und geschluchzt hatte: Es tut so weh, so weh ...
„Sag was, Ni.", bat Harry. Aber Niall sagte nichts. Er war stumm vor Wut. Wie konnte Harry sich so sicher sein? Was ist das eigentlich, Liebe? Und woher weiß man, dass man sie hat? Woher weiß man, dass es kein schrecklicher Irrtum ist? Niall sagte nichts. Und dann: Ich muss jetzt los. Ich ... ich ruf dich an. Danach ging er. Zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Nächstbeste S-Bahn. Und jetzt sitzt er hier. Fühlt sich irgendwie beschissen. Von Harry. Von der Bahn. Vom Leben. Von sich selbst.
„Junge, ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, aber ich würde gerne mal deinen Fahrschein sehen", fordert die Frau. Niall zuckt die Achseln. „Hab keinen Fahrschein", murmelt er, zu erschöpft, um zu lügen. Anscheinend ist er sogar zu blöd zum Schwarzfahren. Die Frau presst die Lippen zusammen. „Dann hätte ich jetzt gerne deinen Personalausweis." Niall kramt nach seinem Portmonee, den Kopf gesenkt, sodass er die Kontrolleurin nicht ansehen muss, sondern nur ihre polierten Schuhe.
Plötzlich gerät ein Paar Turnschuhe in Nialls Blickfeld. Nicht irgendwelche Turnschuhe – die da kennt er! „Da haben Sie seinen Fahrschein", sagt Harry. Dann hält er der Frau ein Ticket unter die Nase. Sie prüft es sorgfältig auf Gültigkeit und nickt dann. „Könnte ich bitte auch deinen Fahrschein sehen, junger Mann?" „Ich hab keinen", entgegnet Harry und schaut der Kontrolleurin gelassen in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem kurzen Lächeln. Aber vielleicht hat Niall sich das auch nur eingebildet. Anschließend stellt die Kontrolleurin Harry einen Bußgeldbescheid aus. Die ganze Zeit über muss Niall ihn anstarren wie ein Wunder.
„Was machst du denn hier?", platzt es aus ihm raus, kaum dass die Kontrolleurin gegangen ist. „War klar, dass du in die nächste S-Bahn steigst", antwortet Harry und lässt sich auf den Sitz neben ihm fallen. „Ich musste einfach nur am Bahnsteig stehen bleiben und warten, bis du irgendwann vorbeigefahren kommst. War Glück, dass ich dich gesehen hab." Dann schweigen sie und trauen sich beide nicht, sich richtig anzusehen.
Niall weiß nicht, was er sagen soll. Also sagt er: „Mit dem Schwarzfahren, das hast du irgendwie noch nicht so richtig drauf." „Dann musst du wohl noch ganz viel mit mir üben", antwortet Harry und grinst ihn an. Gemeinsam betrachten sie die Halteschlaufen, die in den Kurven hin und her schwingen.
Harry fragt leise: „Hast du Angst, Ni?" „Ja", flüstert er. „Ein bisschen." Sie fahren durch die schwarze Nacht, Niall und sein Schwarzfahrer, da nimmt er seine Hand. Seine Hand ist warm.
ZARRY:
Die gelben Halteschlaufen der S-Bahn schwingen hin und her. An manchen Schlaufen hängen Menschen und halten sich fest. Harry sieht aus dem Fenster: Draußen ist finsterste Nacht. Er hat gesagt: Ich rufe dich an. Dann die ausgetretenen Treppen runter, zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Vorbei am Bäcker, bei dem er neulich Brötchen geholt hat, Zayns Eltern waren nicht da, und der Honig ist aufs Bettlaken getropft. Die Rosenstraße lang, dann rechts. Der Eingang zum S-Bahnhof, Stufen hoch, Gleis 1, die nächstbeste S-Bahn.
Jetzt ist Harry wieder dort, denn die S-Bahn fährt im Kreis. Er blinzelt, bis Gleis 1 zwischen seinen Wimpern verschwimmt. Wie gerne wäre er jetzt woanders, in einer Stadt, die ihn nicht kennt.
Endlich fährt die S-Bahn weiter. Ein paar Leute sind zugestiegen, auch eine Frau um die vierzig. Sie trägt normale Kleidung, aber dann holt sie ein Klemmbrett aus der Tasche und sagt: „Fahrgastbefragung". Drinnen Neonlicht, draußen Schwärze. Harry ist ein Schwarzfahrer. Normalerweise erkennt er Kontrolleure schon aus zwanzig Metern Entfernung und verdrückt sich rechtzeitig. Aber heute war er wohl abgelenkt, wegen der Sache mit Zayn.
Zayn gehört zu den Leuten, die immer ein Ticket haben und auch sonst alles richtig machen. In der spiegelnden Scheibe beobachtet Harry, wie die Frau in seine Richtung läuft. Neben seinem Sitz bleibt sie stehen. Harry muss wohl oder übel zu ihr aufschauen.
„Hallo. Kann ich dir ein paar Fragen stellen?" Harry nickt so halb und starrt auf die polierten Schuhe der Frau. Die zückt ihren Stift.
„Alter?" „Sechzehn", murmelt Harry.
„Wo bist du eingestiegen?" Da, wo Zayn wohnt. Harry wünscht sich dorthin zurück, seinen Kopf zurück in Zayns Schoß. Sie haben Musik gehört und Gummibärchen gegessen. Vor einer Stunde war noch alles okay. „Rosenstraße", antwortet Harry. Die Frau kritzelt etwas auf ihr Klemmbrett.
„Und wo willst du hin?", fragt sie, ohne den Blick zu heben. Wo will man hin, wenn man mit der S-Bahn im Kreis fährt? Die Frage ist wohl eher, wo man nicht hinwill. Das ungeduldige Klicken des Kulis reißt Harry aus den Gedanken. „Wo willst du aussteigen?" „Keine Ahnung", stammelt Harry. „Ich ... ich mach das manchmal gerne, einfach so rumfahren."
Warum hat er nicht irgendeine blöde Haltestelle genannt? Aber da ist der Satz schon raus. Die Frau sagt „Aha" und mustert Harry abschätzig. Harry ist gerade ziemlich neben der Spur. Aber das ist doch noch lange kein Grund, ihn so anzusehen. Schließlich hat es genauso angefangen mit Zayn und ihm. Mit dem Rumfahren.
Manchmal hat Harry keinen Bock auf seine Mutter, keinen Bock auf zu Hause. Dann fährt er rum und schaut raus auf seine Stadt. Oder er guckt sich die Leute in der S-Bahn an und malt sich aus, wie diese Leute wohl leben. So war es auch an dem Tag, an dem er Zayn zum ersten Mal traf. Da wusste Harry natürlich noch nicht, dass er Zayn heißt, da war er nur irgend so ein Typ für ihn, der sich auf den Sitz gegenüber fallen ließ. Ungefähr in seinem Alter, obwohl das nicht leicht zu erkennen war, weil er die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem hielt er irgendwas in der Hand. Harry versuchte zu erkennen, was es war. Vielleicht eine Handtasche, die er einer Omi entrissen hatte ...
„Willst du eins?", fragte der Typ, der vielleicht ein Handtaschenräuber war. „Was?", fragte er. „Ob du ein Gummibärchen willst. Weil du dauernd auf die Packung starrst, dachte ich ..." „Oh. 'tschuldigung ... Darf ich wirklich?" „Klar. Welche Farbe?" „Egal, Hauptsache kein Rotes." „Die meisten mögen die Roten am liebsten." „Mir schmecken die nicht. Ich wette, die Leute nehmen sie nur wegen der Farbe. Rot wie rote Rosen, wie Liebe ... Das ganze Herz-Schmerz-Zeug. Nee, danke. Ich bin kuriert von roten Gummibärchen."
So haben Harry und Zayn sich kennengelernt. Sie haben die Gummibärchenfrage ausdiskutiert, und nachdem sie zweimal im Kreis gefahren waren, haben sie Handynummern ausgetauscht. Danach haben sie sich noch oft getroffen, nicht nur in der S-Bahn. Aber jetzt ...
Harry merkt plötzlich, dass ihm etwas das Gesicht runterläuft, und dreht sich zum Fenster. Die Frau mit dem Klemmbrett starrt ihn an, das spürt er. Kann die nicht endlich abhauen? Er wünscht sich eine Stunde zurück, seinen Kopf wieder in Zayns Schoß, seine streichelnden Finger in seinem kurzen, stacheligen Haar.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben?", hat er gefragt. „Ich musste eigentlich zum Basketballtraining. Aber als die Haltestelle kam, bin ich einfach weitergefahren." „Warum das denn?", hat er gefragt und sich im nächsten Moment gewünscht, er könnte die Worte wieder zurück in seinen Mund stopfen und sie könnten einfach liegen bleiben und Musik hören. Doch es war zu spät, Zayn nahm sein Gesicht in seine Hände und küsste Harry auf den Mund. Er schmeckte nach roten Gummibärchen und jeder Menge Herz-Schmerz-Zeug. „Darum", sagte er. „Ich ... ich glaub, ich bin in dich verliebt." So was hatte er noch nie zu ihm gesagt, so was sagten sie nicht zueinander, das machte alles kaputt!
Harry rückte von Zayn ab, wischte sich über den Mund, aber das Gefühl an seinen Lippen ging nicht weg und sein Herz hämmerte, hämmerte. So wie eine S-Bahn, die zu schnell fährt, eine S-Bahn, die gleich entgleist. Sein warmer Atem auf seiner Haut. Sein fragender Blick. Harry dachte daran, wie sie einmal nachts S-Bahn gefahren waren. Sie waren die Letzten im Abteil gewesen und hatten auf die Lichter draußen geschaut. Und es war so ein Gefühl, als würde die Stadt ihnen ganz allein gehören. Als ob alles möglich wäre. Doch dann musste Harry an seine Mutter denken, die sich auf den Boden geworfen hatte, als Papa wegging, einfach auf den Boden, und geschluchzt hatte: Es tut so weh, so weh ...
„Sag was, Haz.", bat Zayn. Aber Harry sagte nichts. Er war stumm vor Wut. Wie konnte Zayn sich so sicher sein? Was ist das eigentlich, Liebe? Und woher weiß man, dass man sie hat? Woher weiß man, dass es kein schrecklicher Irrtum ist? Harry sagte nichts. Und dann: Ich muss jetzt los. Ich ... ich ruf dich an. Danach ging er. Zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Nächstbeste S-Bahn. Und jetzt sitzt er hier. Fühlt sich irgendwie beschissen. Von Zayn. Von der Bahn. Vom Leben. Von sich selbst.
„Junge, ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, aber ich würde gerne mal deinen Fahrschein sehen", fordert die Frau. Harry zuckt die Achseln. „Hab keinen Fahrschein", murmelt er, zu erschöpft, um zu lügen. Anscheinend ist er sogar zu blöd zum Schwarzfahren. Die Frau presst die Lippen zusammen. „Dann hätte ich jetzt gerne deinen Personalausweis." Harry kramt nach seinem Portmonee, den Kopf gesenkt, sodass er die Kontrolleurin nicht ansehen muss, sondern nur ihre polierten Schuhe.
Plötzlich gerät ein Paar Turnschuhe in Harrys Blickfeld. Nicht irgendwelche Turnschuhe – die da kennt er! „Da haben Sie seinen Fahrschein", sagt Zayn. Dann hält er der Frau ein Ticket unter die Nase. Sie prüft es sorgfältig auf Gültigkeit und nickt dann. „Könnte ich bitte auch deinen Fahrschein sehen, junger Mann?" „Ich hab keinen", entgegnet Zayn und schaut der Kontrolleurin gelassen in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem kurzen Lächeln. Aber vielleicht hat Harry sich das auch nur eingebildet. Anschließend stellt die Kontrolleurin Zayn einen Bußgeldbescheid aus. Die ganze Zeit über muss Harry ihn anstarren wie ein Wunder.
„Was machst du denn hier?", platzt es aus ihm raus, kaum dass die Kontrolleurin gegangen ist. „War klar, dass du in die nächste S-Bahn steigst", antwortet Zayn und lässt sich auf den Sitz neben ihm fallen. „Ich musste einfach nur am Bahnsteig stehen bleiben und warten, bis du irgendwann vorbeigefahren kommst. War Glück, dass ich dich gesehen hab." Dann schweigen sie und trauen sich beide nicht, sich richtig anzusehen.
Harry weiß nicht, was er sagen soll. Also sagt er: „Mit dem Schwarzfahren, das hast du irgendwie noch nicht so richtig drauf." „Dann musst du wohl noch ganz viel mit mir üben", antwortet Zayn und grinst ihn an. Gemeinsam betrachten sie die Halteschlaufen, die in den Kurven hin und her schwingen.
Zayn fragt leise: „Hast du Angst, Haz?" „Ja", flüstert er. „Ein bisschen." Sie fahren durch die schwarze Nacht, Harry und sein Schwarzfahrer, da nimmt er seine Hand. Seine Hand ist warm.
ZIALL:
Die gelben Halteschlaufen der S-Bahn schwingen hin und her. An manchen Schlaufen hängen Menschen und halten sich fest. Niall sieht aus dem Fenster: Draußen ist finsterste Nacht. Er hat gesagt: Ich rufe dich an. Dann die ausgetretenen Treppen runter, zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Vorbei am Bäcker, bei dem er neulich Brötchen geholt hat, Zayns Eltern waren nicht da, und der Honig ist aufs Bettlaken getropft. Die Rosenstraße lang, dann rechts. Der Eingang zum S-Bahnhof, Stufen hoch, Gleis 1, die nächstbeste S-Bahn.
Jetzt ist Niall wieder dort, denn die S-Bahn fährt im Kreis. Er blinzelt, bis Gleis 1 zwischen seinen Wimpern verschwimmt. Wie gerne wäre er jetzt woanders, in einer Stadt, die ihn nicht kennt.
Endlich fährt die S-Bahn weiter. Ein paar Leute sind zugestiegen, auch eine Frau um die vierzig. Sie trägt normale Kleidung, aber dann holt sie ein Klemmbrett aus der Tasche und sagt: „Fahrgastbefragung". Drinnen Neonlicht, draußen Schwärze. Niall ist ein Schwarzfahrer. Normalerweise erkennt er Kontrolleure schon aus zwanzig Metern Entfernung und verdrückt sich rechtzeitig. Aber heute war er wohl abgelenkt, wegen der Sache mit Zayn.
Zayn gehört zu den Leuten, die immer ein Ticket haben und auch sonst alles richtig machen. In der spiegelnden Scheibe beobachtet Niall, wie die Frau in seine Richtung läuft. Neben seinem Sitz bleibt sie stehen. Niall muss wohl oder übel zu ihr aufschauen.
„Hallo. Kann ich dir ein paar Fragen stellen?" Niall nickt so halb und starrt auf die polierten Schuhe der Frau. Die zückt ihren Stift.
„Alter?" „Sechzehn", murmelt Niall.
„Wo bist du eingestiegen?" Da, wo Zayn wohnt. Niall wünscht sich dorthin zurück, seinen Kopf zurück in Zayns Schoß. Sie haben Musik gehört und Gummibärchen gegessen. Vor einer Stunde war noch alles okay. „Rosenstraße", antwortet Niall. Die Frau kritzelt etwas auf ihr Klemmbrett.
„Und wo willst du hin?", fragt sie, ohne den Blick zu heben. Wo will man hin, wenn man mit der S-Bahn im Kreis fährt? Die Frage ist wohl eher, wo man nicht hinwill. Das ungeduldige Klicken des Kulis reißt Niall aus den Gedanken. „Wo willst du aussteigen?" „Keine Ahnung", stammelt Niall. „Ich ... ich mach das manchmal gerne, einfach so rumfahren."
Warum hat er nicht irgendeine blöde Haltestelle genannt? Aber da ist der Satz schon raus. Die Frau sagt „Aha" und mustert Niall abschätzig. Niall ist gerade ziemlich neben der Spur. Aber das ist doch noch lange kein Grund, ihn so anzusehen. Schließlich hat es genauso angefangen mit Zayn und ihm. Mit dem Rumfahren.
Manchmal hat Niall keinen Bock auf seine Mutter, keinen Bock auf zu Hause. Dann fährt er rum und schaut raus auf seine Stadt. Oder er guckt sich die Leute in der S-Bahn an und malt sich aus, wie diese Leute wohl leben. So war es auch an dem Tag, an dem er Zayn zum ersten Mal traf. Da wusste Niall natürlich noch nicht, dass er Zayn heißt, da war er nur irgend so ein Typ für ihn, der sich auf den Sitz gegenüber fallen ließ. Ungefähr in seinem Alter, obwohl das nicht leicht zu erkennen war, weil er die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem hielt er irgendwas in der Hand. Niall versuchte zu erkennen, was es war. Vielleicht eine Handtasche, die er einer Omi entrissen hatte ...
„Willst du eins?", fragte der Typ, der vielleicht ein Handtaschenräuber war. „Was?", fragte er. „Ob du ein Gummibärchen willst. Weil du dauernd auf die Packung starrst, dachte ich ..." „Oh. 'tschuldigung ... Darf ich wirklich?" „Klar. Welche Farbe?" „Egal, Hauptsache kein Rotes." „Die meisten mögen die Roten am liebsten." „Mir schmecken die nicht. Ich wette, die Leute nehmen sie nur wegen der Farbe. Rot wie rote Rosen, wie Liebe ... Das ganze Herz-Schmerz-Zeug. Nee, danke. Ich bin kuriert von roten Gummibärchen."
So haben Niall und Zayn sich kennengelernt. Sie haben die Gummibärchenfrage ausdiskutiert, und nachdem sie zweimal im Kreis gefahren waren, haben sie Handynummern ausgetauscht. Danach haben sie sich noch oft getroffen, nicht nur in der S-Bahn. Aber jetzt ...
Niall merkt plötzlich, dass ihm etwas das Gesicht runterläuft, und dreht sich zum Fenster. Die Frau mit dem Klemmbrett starrt ihn an, das spürt er. Kann die nicht endlich abhauen? Er wünscht sich eine Stunde zurück, seinen Kopf wieder in Zayns Schoß, seine streichelnden Finger in seinem kurzen, stacheligen Haar.
„Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben?", hat er gefragt. „Ich musste eigentlich zum Basketballtraining. Aber als die Haltestelle kam, bin ich einfach weitergefahren." „Warum das denn?", hat er gefragt und sich im nächsten Moment gewünscht, er könnte die Worte wieder zurück in seinen Mund stopfen und sie könnten einfach liegen bleiben und Musik hören. Doch es war zu spät, Zayn nahm sein Gesicht in seine Hände und küsste Niall auf den Mund. Er schmeckte nach roten Gummibärchen und jeder Menge Herz-Schmerz-Zeug. „Darum", sagte er. „Ich ... ich glaub, ich bin in dich verliebt." So was hatte er noch nie zu ihm gesagt, so was sagten sie nicht zueinander, das machte alles kaputt!
Niall rückte von Zayn ab, wischte sich über den Mund, aber das Gefühl an seinen Lippen ging nicht weg und sein Herz hämmerte, hämmerte. So wie eine S-Bahn, die zu schnell fährt, eine S-Bahn, die gleich entgleist. Sein warmer Atem auf seiner Haut. Sein fragender Blick. Niall dachte daran, wie sie einmal nachts S-Bahn gefahren waren. Sie waren die Letzten im Abteil gewesen und hatten auf die Lichter draußen geschaut. Und es war so ein Gefühl, als würde die Stadt ihnen ganz allein gehören. Als ob alles möglich wäre. Doch dann musste Niall an seine Mutter denken, die sich auf den Boden geworfen hatte, als Papa wegging, einfach auf den Boden, und geschluchzt hatte: Es tut so weh, so weh ...
„Sag was, Ni.", bat Zayn. Aber Niall sagte nichts. Er war stumm vor Wut. Wie konnte Zayn sich so sicher sein? Was ist das eigentlich, Liebe? Und woher weiß man, dass man sie hat? Woher weiß man, dass es kein schrecklicher Irrtum ist? Niall sagte nichts. Und dann: Ich muss jetzt los. Ich ... ich ruf dich an. Danach ging er. Zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Nächstbeste S-Bahn. Und jetzt sitzt er hier. Fühlt sich irgendwie beschissen. Von Zayn. Von der Bahn. Vom Leben. Von sich selbst.
„Junge, ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, aber ich würde gerne mal deinen Fahrschein sehen", fordert die Frau. Niall zuckt die Achseln. „Hab keinen Fahrschein", murmelt er, zu erschöpft, um zu lügen. Anscheinend ist er sogar zu blöd zum Schwarzfahren. Die Frau presst die Lippen zusammen. „Dann hätte ich jetzt gerne deinen Personalausweis." Niall kramt nach seinem Portmonee, den Kopf gesenkt, sodass er die Kontrolleurin nicht ansehen muss, sondern nur ihre polierten Schuhe.
Plötzlich gerät ein Paar Turnschuhe in Nialls Blickfeld. Nicht irgendwelche Turnschuhe – die da kennt er! „Da haben Sie ihren Fahrschein", sagt Zayn. Dann hält er der Frau ein Ticket unter die Nase. Sie prüft es sorgfältig auf Gültigkeit und nickt dann. „Könnte ich bitte auch deinen Fahrschein sehen, junger Mann?" „Ich hab keinen", entgegnet Zayn und schaut der Kontrolleurin gelassen in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem kurzen Lächeln. Aber vielleicht hat Niall sich das auch nur eingebildet. Anschließend stellt die Kontrolleurin Zayn einen Bußgeldbescheid aus. Die ganze Zeit über muss Niall ihn anstarren wie ein Wunder.
„Was machst du denn hier?", platzt es aus ihm raus, kaum dass die Kontrolleurin gegangen ist. „War klar, dass du in die nächste S-Bahn steigst", antwortet Zayn und lässt sich auf den Sitz neben ihm fallen. „Ich musste einfach nur am Bahnsteig stehen bleiben und warten, bis du irgendwann vorbeigefahren kommst. War Glück, dass ich dich gesehen hab." Dann schweigen sie und trauen sich beide nicht, sich richtig anzusehen.
Niall weiß nicht, was er sagen soll. Also sagt er: „Mit dem Schwarzfahren, das hast du irgendwie noch nicht so richtig drauf." „Dann musst du wohl noch ganz viel mit mir üben", antwortet Zayn und grinst ihn an. Gemeinsam betrachten sie die Halteschlaufen, die in den Kurven hin und her schwingen.
Zayn fragt leise: „Hast du Angst, Ni?" „Ja", flüstert er. „Ein bisschen." Sie fahren durch die schwarze Nacht, Niall und sein Schwarzfahrer, da nimmt er seine Hand. Seine Hand ist warm.
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Veröffentlicht: 28. Juni 2020
Überarbeitet: 22. Dezember 2020
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