FÜNF - FelsenClan
In Gedanken war Kaltpfote beim gestrigen Abend, als sie über das karge Grasland auf dem Hochplateau lief. Der junge Schüler aus dem FelsenClan, Blaupfote, der ins Meer gestürzt war, hatte es nicht zurück ans Ufer geschafft. Hilflos hatten sie selbst, Seehaar, Efeupfote und Fliederpfote zusehen müssen, wie er an seinen Ast geklammert davon getrieben war.
Auch, als sie durch den kleinen Nadelwald lief, der noch zum Territorium des FelsenClans gehörte, hatte sie noch das Bild vor Augen, wie Blaupfotes Gestalt in der Ferne immer kleiner geworden war.
Ab und an bemerkte sie auf ihrem Weg ein heilendes Kraut oder Spinnenweben, die sie sogleich einsammelte. Obwohl sie nicht sehr aufmerksam war, wuchs das Büschel, das sie in ihrem Maul trug immer weiter an.
Aufgrund ihrer verkrüppelten Pfote dauerte es, doch irgendwann kam sie an der Grenze zum Zweibeinerort an. Hier in der Nähe waren die Streuner gesichtet worden. Schneepfotes Ortsbeschreibung war recht dürftig gewesen, doch Kaltpfote war guter Dinge, dass sie die Stelle finden würde, an der am vorherigen Sonnenaufgang der Kampf stattgefunden hatte. Nur, dass sie dann auch auf die Katzen traf, die sie suchte, das war ungewiss. Was sie wirklich suchte, waren die Streuner selbst. Sie hoffte, zumindest einem von ihnen über den Weg zu laufen, wollte sich erkundigen, ob sie nach dem Kampf Hilfe brauchten. Schließlich konnte es sein, dass sich in ihrer Gruppe niemand mit Heilkräutern auskannte. Weder ihr Mentor Schwalbenfeder, noch der Anführer waren in ihre Mission eingeweiht, denn keiner von beiden hätte gebilligt, was sie gerade tat.
Kälte fuhr in ihre gesunde Vorderpfote und Kaltpfote zuckte zusammen. Es war, als hätte ihre Pfote eine dünne Eisschicht durchbrochen, obwohl es doch erst Blattfall war. Frost hatte es noch keinen gegeben. Dennoch sah Kaltpfote zersplittertes Eis auf der Pfütze treiben, in die sie getreten war. Ganz am Rand entdeckte sie eine kleine von Frost überzogene Beere, dessen rote Farbe deutlich hervorstach. Obwohl sie gern gefrorene Beeren aß, verzog sie das Gesicht. Die Kälte erinnerte sie an damals, als sie noch ein Junges gewesen und mit einer tiefen Fleischwunde an der Schulter durch den hohen Schnee gestolpert war.
Als sie ihren Blick wieder hob, hatte sich ihre Umgebung verändert. Der Nadelwald um sie herum war verschwunden, war ersetzt worden durch eine weitläufige Wiese, auf der die unterschiedlichsten Blumen blühten. Für die Zeit kurz vor der Blattleere waren es eindeutig zu viele Blüten.
»Kaltpfote.« Die Stimme ließ sie herumfahren. Hinter ihr stand eine Kätzin. Ihr braunes Fell funkelte, als befänden sich darin hunderte winzige Sterne. Es wehte in einer sanften Briese, die im Gegensatz zu den Eissplittern um Kaltpfotes Pfoten herum sogar recht warm war. »Alte Wunden werden wieder aufgerissen«, miaute die Kätzin, »und alte Pfade wirst du beschreiten müssen, damit die Splitter wieder zusammengefügt werden können.«
»Alte Pfade?«, wiederholte Kaltpfote, nicht sicher, was sie mit dieser Information anfangen sollte.
»Alte Pfade.« Die Kätzin nickte und im selben Moment spürte Kaltpfote, wie ihre Pfote leicht angehoben wurde.
Sie blickte nach unten und sah, wie die Eissplitter sich verschoben und unter ihren Pfoten wieder zu einer festen Schicht zusammenfügten. Selbst die Nässe verschwand aus ihrem Fell und kurz darauf war es, als sei Kaltpfote nie durch das Eis gebrochen.
»Alte Pfade... alte Wunden.« Die Stimme war leiser als eben und als Kaltpfote ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Fremde richtete, bemerkte sie, wie sie und ihre gesamte Umgebung zu verschwimmen begannen.
»Alte Pfade... alte Wunden«, raunte die Stimme abermals, wurde immer leiser, während alles um Kaltpfote herum in Schwärze versank.
Irgendwann war es still.
Und dunkel.
Selbst die Gerüche waren verschwunden und kein Wind wehte mehr.
»Was hat sie?«
»So leid es mir tut, das vermag ich nicht zu sagen.«
Kaltpfote blinzelte und auf einmal war alles wieder da: Kühler Wind, der über ihr Fell strich, der Nadelwald, der Geruch der Duftmarkierungen an der Grenze. Ihr gegenüber standen zwei ihr unbekannte Kätzinnen, die SternenClan-Kätzin hingegen blieb verschwunden. Eine von ihnen hatte kurzes, schwarzes Fell. Nur ihre Schnauze und ihre Brust waren weiß. Der Geruch nach Krankheit ging von ihr aus. Die andere hatte langen, weißen Pelz mit feinen silbernen Tigerstreifen. Sie schien gesund, doch um sicher zu gehen, müsste Kaltpfote näher heran gehen.
»Hallo«, miaute Kaltpfote, »seid ihr die Streuner, gegen die mein Clan gestern gekämpft hat?«
Sie beäugte die beiden Kätzinnen, suchte nach Anzeichen, dass sie verwundet waren, entdeckte aber nur ein paar kleinere Kratzer.
Die schwarzweiße wich einen Schritt zurück. »Du gehörst zu denen?«
»Ja«, miaute Kaltpfote und zeigte mit der Pfote auf die Kräuter, die ihr aus dem Maul gerutscht waren und nun auf dem Boden lagen. »Aber ich bin hier, um zu sehen, ob ihr Hilfe benötigt.«
Kaltpfote hoffte, die beiden würden ihr Angebot annehmen. Zwar fürchtete sie einerseits, einen Fehler zu begehen, indem sie den Streunern half - Falkenstern hätte das nicht gewollt - andererseits sah sie, dass zumindest eine der beiden Kätzinnen eine Behandlung brauchte, wenn auch nicht wegen des Kampfes. Wieder einmal verfluchte sie jenen Teil der Clankultur, der einer Katze Treue zu ihrem Clan - und nur ihrem Clan, niemandem sonst - vorschrieb. In Kaltpfotes Augen würde immer jede Katze gleich viel Wert sein, egal ob Clankatze, Streuner oder Hauskätzchen.
»Du kennst dich auch mit Kräutern aus?«
Kaltpfote nickte langsam. In Gedanken war sie noch immer bei der Vision, die sie gerade gehabt hatte. Alte Wunden sollten aufgerissen werden. Das klang gar nicht gut.
»Kälte?« Ein großer Kater trat unter einer nahen Tanne hervor. Er hatte dunkelbraunes, etwas zerzaustes Fell mit einer gelbbraunen Tigerung. Das Auffälligste an ihm aber waren seine Narben: Eine Kerbe teilte sein rechtes Ohr, an der linken Seite seiner Schnauze sah man ebenfalls die Überreste alter Wunden und auch sein rechtes Hinterbein war offenbar einmal schwer verletzt worden.
»Kälte?«, miaute er erneut und Kaltpfote ärgerte sich über sich selbst, dass sie erst jetzt auf ihren alten Namen reagierte. Den Namen, den sie als Streunerin getragen hatte.
»Tiger?«
Konnte das wirklich sein, war es wirklich ihr Bruder, dem sie gegenüber stand? Fast hätte sie ihn nicht erkannt.
»Ja«, miaute Tiger.
Kaltpfote schnurrte, humpelte auf ihren Bruder zu und drückte sich an ihn. So lange hatte sie gehofft, ihn wieder zu sehen. Sie hatte tausend Fragen, wusste aber nicht, welche sie als erste stellen sollte. Eine Weile standen die Geschwister schweigend da, dann fragte Kaltpfote: »Ist unsere Mutter auch hier?«
Tigers Haltung sank ein Stück in sich zusammen und er schüttelte den Kopf. »Sie ist tot.«
Kaltpfote hatte immer gewusst, dass es alles andere als sicher war, dass ihre Familie noch lebte. Doch nun Gewissheit zu haben, schmerzte fürchterlich. Sie hatte immer ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, es geliebt ihren Geschichten zu lauschen und auch sonst viel Zeit mit ihr Verbracht. All das war nun endgültig verloren. Es bestand keine Hoffnung mehr, Wanderin noch einmal wieder zu sehen.
»Wie ist das passiert?«, fragte sie nach einer Weile, obwohl sie es schon ahnte: Die zwei Einzelläufer waren Schuld, die sie damals in dieser verschneiten Nacht angegriffen hatten und wegen denen Kaltpfote von ihrer Familie getrennt und ihr Bein verletzt worden war.
Tiger bestätigte ihre Annahme.
Anschließend berichtete Kaltpfote den Streunern von ihrem Clan und wie es ihr in den letzten Monden ergangen war. Währenddessen begann sie, die schwarzweiße Kätzin zu untersuchen und ihr eine Kräutermischung zusammenzustellen, die gegen ihren Husten, die verklebten Augen und das leichte Fieber helfen sollten.
***
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als Kaltpfote von ihrem Platz neben Tiger aufstand. Sie hatten sich vieles erzählt, Kaltpfote vom Clan, den Kriegerahnen, ihren nicht immer ganz vernünftigen Gesetzen, aber auch dem Zusammenhalt und der Hilfe der Katzen untereinander. Tiger hatte von der Zeit nach Wanderins Tod berichtet, davon, wie er auf eine kleine Gruppe Streuner getroffen war und sich ihr angeschlossen hatte.
Die beiden anderen Streunerinnen, die wie es sich herausgestellt hatte Dové und Kiebitz hießen, waren schon vor einiger Zeit wieder gegangen.
»Schließe dich uns an«, miaute Tiger gerade. »Die anderen würden dich in unserer Gruppe sicherlich herzlich empfangen.«
Kaltpfote zögerte zu antworten. So lange hatte sie gehofft, ihre Familie eines Tages wieder zu sehen und nun war es endlich so weit. Sich nun wieder von Tiger trennen zu müssen, schien ihr schwierig. Gleichzeitig dachte sie aber auch an ihren Clan. Konnte sie ihn so einfach verlassen, nach allem, was er für sie getan hatte? Nein, das konnte sie nicht. Sie würde darauf vertrauen müssen, dass sie Tiger an der Grenze noch einmal über den Weg lief.
Irgendwann schüttelte Kaltpfote den Kopf. »Ich muss zurück zu meinem Clan. Aber ich hoffe, dass wir uns trotzdem wiedersehen.«
Tiger wirkte enttäuscht. »Morgen um Mondhoch?«
Diesmal nickte Kaltpfote.
Als sie sich abwandte und ging, glaubte sie zu wissen, was die SternenClan-Katze gemeint hatte, als sie von den alten Wunden sprach, die aufgerissen werden würden. Zumindest falls es möglich war, dass sich eine Prophezeiung so schnell bewahrheitete. Genau das war eben geschehen. Eine Zeit lang hatte Tiger sie ablenken können, doch nun, als sie den Rückweg zum Lager antrat, kreisten ihre Gedanken unablässig um die Nachricht des Todes ihrer Mutter. Es war, als ob sie sie erneut verloren hätte.
Die Beere, die sie während ihrer Vision in der Pfütze gesehen hatte, bestärkte Kaltpfote in ihrer Annahme, einen Teil der Prophezeiung verstanden zu haben. Eines der wenigen guten Dinge an der Blattleere war, dass sie in dieser Zeit übrig gebliebene Beeren in Pfützen legen konnte, um sie dann zu verspeisen. Das hatte sie schon als Junges getan und nun verband sie es mit der Erinnerung an ihren Bruder und daran, wie sie ihm stolz ihre Entdeckung gezeigt hatte. Es konnte also gut sein, dass die Vision irgendetwas mit Tigers Auftauchen zu tun hatte.
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