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❝Alles hier
Aus Papier❞
SIE WENDETE DEN Grashalm, sodass die Schnittflächen nach oben zeigten. Erstaunt beugten sich die beiden neben ihr weiter hinunter. Auch Liz tapste schniefend zu ihnen. Dort, wo Bianca das Gewächs zerrissen hatte, war es weiß. Aus den Zacken ragten haarige Fitzelchen. Sie wog den trockenen Halm in ihren Händen. Er fühlte sich anders an. Anders als richtiges Gras.
"Was ist das da?", fragte Finley und zeigte mit dem Finger auf das Gewächs.
"Jedenfalls kein Gras", vermutete Sam gedankenversunken. Bianca zerteilte es wieder und wieder, bis kaum mehr etwas Grünes zu sehen war. In ihren Händen lag ein Haufen weißer fasriger Schnipsel.
"Ich habe da eine wilde Theorie, was das sein könnte", deutete Bianca an und ließ die Fitzchen durch ihre Finger rieseln. Ihren Kopf legte sie in den Nacken. Sie kniff die Augen zusammen. "Wisst ihr, warum der Himmel so weiß ist?"
"Nein", antwortete Liz auf die rhetorische Frage.
"Weil er aus Papier ist. Alles hier ist aus Papier", fuhr Bianca fort und blinzelte dem hell strahlenden Nichts entgegen. Das Knistern der im Wind raschelnden Blätter ähnelte dem Geräusch von zusammengeknüllten Zetteln.
"Aus Papier?", fragte Finley. "Habe ich richtig gehört? Aus Papier? Wie soll das denn gehen?" Er trat einen Schritt zurück und wollte nach seinem Hut greifen. Mitten in der Bewegung hielt er inne, als fiele im jetzt erst ein, dass er ihn verloren hatte.
"Weiß nicht. Keine Ahnung." Bianca machte eine ausschweifende Bewegung, als wolle sie die vielen Fragen wie nervige Fliegen verjagen. "Aber es ergibt Sinn. Gerade du solltest das erkennen. Schließlich hast du ein Loch im Himmel gesehen. Hat es zufällig ausgesehen wie eingerissenes Papier?" Erwartungsvoll sah sie ihn an. Ihre Blicke quetschten geradezu die Erinnerung aus ihm heraus.
"Hm, ja, das ist möglich", überlegte er und nickte. "Ja, wenn ich so nachdenke, sehe ich es wirklich als das vor mir. Ein Blatt Papier, in das jemand mit einem überdimensional großen Stift ein Loch gebohrt hat."
"Ich hab da übrigens noch eine viel wildere Vermutung", gab Bianca zögerlich zu.
"Noch wilder?", fragte Finley und zog die Augenbrauen hoch. Er pflückte eine Blume und schälte sie aus ihren falschen Blüten, als suche er nach der Wahrheit hinter dem Rätsel um diese Papierwelt.
"Aber ich weiß echt nicht, was ihr dazu sagen werdet", warnte sie schulterzuckend vor.
"Sag es einfach. Wenn es helfen könnte, ist es das wert", merkte Sam an und betrachtete sie neugierig. Liz legte den Kopf schief und wandte sich ihr zu.
"Also gut", begann Bianca und kratzte sich am Kinn. "Aber kommt nicht auf die Idee, mich im Nachhinein als verrückt abzustempeln. Die Sache ist nämlich die, dass wir meiner Meinung nach in einem Buch drinnen sind. Zumindest deutet alles darauf hin." Sie tippte mit dem Finger auf ihre Lippen und beobachtete die im Wind wiegenden Blätter. Ein sanftes Grollen in der Ferne stimmte mit dem Rauschen ein.
"In einem Buch?", fragte Finley ungläubig. Bianca dachte daran zurück, wie in der Bibliothek der Riss in ihr Buch hineingeragt hatte. Als wäre der Spalt im Boden des Lesesaals ein Tor zu der Fantasiewelt gewesen, die zwischen den Zeilen der Lektüre schlummerte. Doch nicht nur deswegen ergab es ihrer Meinung nach Sinn.
"Jep. Aber nicht in irgendeinem Buch, sondern in dem, das ich gerade lese. Oder besser gesagt: Zuletzt gelesen habe." Sie verschränkte ihre Arme und ließ ihren Blick über die Landschaft gleiten.
"Wie kommst du darauf?", fragte Sam und folgte ihrem Blick.
"Mein Gefühl sagt mir, dass ich das hier alles schon einmal erlebt habe", antwortete sie nachdenklich. Sie fuhr sich durch ihre Haare. "Zumindest kommt mir alles vertraut vor."
"Aber wenn du das schon alles gelesen hast, weißt du dann auch, was jetzt alles passieren wird?", fragte Liz und rieb sich das Gesicht, als Bianca sie anstarrte.
"Nein", gab sie schlicht von sich. "Seit ich hier aufgewacht bin, weiß ich nicht einmal mehr, worum es in dem Buch geht. Das klingt alles seltsam, aber mir kommt es vor, als wären meine Erinnerungen an die Handlung gelöscht. Obwohl es nicht einmal lange her ist, als ich es das letzte Mal in meinen Händen gehalten habe." Sie seufzte und setzte sich ins Gras. Es gab ein knisterndes Geräusch von sich, als es unter ihr nachgab.
"Mach dir keine Sorgen", tröstete Sam sie und ging in die Knie. "Vielleicht kommt die Erinnerung wieder mit der Zeit." Bianca fuhr mit der Hand über die kleinen Blüten.
"Möglich. Aber ich komme mir mit meiner Behauptung dumm vor. Ich müsste eigentlich wissen, was als Nächstes passiert, da ich das Buch fast bis zum Schluss gelesen habe." Sie stand auf und ignorierte demonstrativ Sams Blick. Sie straffte ihre Schulter. "Aber egal. Ich finde schon einen Weg, es euch zu beweisen. Das ist sicher kein Hirngespinst, das weiß ich." Ihre Augen fanden Finley, in dessen Gesichtsausdruck Skepsis abzulesen war.
Bianca wollte bereits den Mund öffnen, um noch etwas hinzuzufügen, doch plötzlich raschelte es im Gebüsch. Alle Blicke schossen zu der Stelle und die Gedanken rund um ihre verrückte These verpufften in der Luft. Taube Angst erfüllte die Atmosphäre. Angst vor dem Unbekanntem. Sie starrten konzentriert auf die Stelle und spannten ihre Glieder an. Bianca war kurz davor zusammenzufahren und die Flucht zu ergreifen.
Aus dem dichten Gestrüpp trat ein Mann heraus, der doppelt so alt war wie Bianca. Seine freundliche Miene ließ sie erleichtert die Luft ausstoßen. Ihr Gefühl meldete sich in ihrem Bauch und gab Entwarnung. Liz neben ihr zuckte bei ihrem Ausatmen zusammen. Finley und Sam waren noch immer wie Figuren aus Stein.
"Guten Tag. Ich habe euch bereits erwartet", erklärte der Fremde erfreut. Doch in seinen Falten lag auch Sorge. "Zum Dorf ist es nicht sehr weit. Am besten wir machen uns gleich auf den Weg." Finley und Sam lösten sich aus der Starre und ihre Blicke suchten ratlos Bianca. Diese nickte ihnen stumm zu. Sie nahmen es als Zeichen auf, dass sie dem Mann vertrauen konnten und entspannten sich.
"Guten Tag", erwiderte Bianca. Den anderen schien es die Sprache verschlagen zu haben. "Wir würden es vorziehen, wenn wir noch ein bisschen rasten, bevor wir aufbrechen." Sie senkte den Kopf. Mit zusammengebissenen Zähnen hoffte sie darauf, dass der Fremde Verständnis entgegenbrachte. Ihr Bauchgefühl ließ sie Gegenteiliges vermuten.
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