Seite 21

╝ Seite 21 ╔
❝Richtige Richtung❞

BIANCA BISS SICH auf die Lippe. Sie rechnete damit, dass seine Erinnerungen nun doch zurückkehrten und machte sich auf eine Standpauke gefasst. Innerlich ballte sie alle Kraft zusammen, um dem Gerede vom Schicksal und den Regeln gefasst entgegenzutreten. Sie sog die duftende Luft ein, sodass ihre Gedanken einen Hauch positiver wurden.

"Du hast mich gezeichnet? Du hast mich gezeichnet und dann bin ich lebendig geworden? Wie ist das möglich? Wie hast du das gemacht?", fragte Sam. Seine Worte waren scharf, aber nicht auf der gleichen Weise wie bei Dark-Sam. Bianca hielt einen Moment inne, um zu überlegen. Nein, er erinnerte sich doch nicht. Je länger sie ihn betrachtete desto sicherer wurde sie.

"Also ich habe nur herumgekritzelt und dann warst da plötzlich du auf dem Papier. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich dich gezeichnet habe. Auf jeden Fall habe ich mich weggedreht und plötzlich bist du aufgetaucht. Und die Zeichnung ist verschwunden." Bianca zuckte mit den Schultern und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Seltsam. Draußen im Nichts hatte sie sich noch genau erinnert, was ab jetzt noch alles passieren würde. Nun wusste sie nichts mehr, während sie die Bäume betrachtete. 

Sie befanden sich auf einer ähnlichen Blumenwiese wie ganz am Anfang. In der Ferne konnte sie einen Wald ausmachen, der ringsherum zu sehen war. Sie drehte sich um ihre Achse und stellte fest, dass er sie einkesselte. Ihre Augen weiteten sich, als die Erinnerung an das Rauschen der Wellen sie einholte. Doch dieser Ort hier war vollkommen fremd. Sie blickte zurück und suchte die Mitte dieser riesigen Landschaft. Schnell wurde sie fündig, als ihre Ohren einem dumpfen Grollen folgten. Im Zentrum war ein Wasserfall zu sehen, der von einem hohen Berg hinunterfloss. Eine dampfende Wolke verdeckte die Spitze. Der Nebel umwaberte den gesamten Mittelteil, als beschütze er einen wertvollen Schatz.

"Bianca, wenn das wahr ist, kannst du auch Finley und Liz zurückbringen?", fragte Sam mit funkelnden Augen. Sie runzelte die Stirn. So viel zum Thema, das Schicksal hätte ihren Tod besiegelt. Vielleicht hatte Dark-Sam auch nur übertrieben. Vielleicht hatte es gereicht, dass Sam wieder in der Papierwelt drinnen hockte und er musste nicht zwingend zum Moment zurück, von dem sie ihn herausgeholt hatte. 

In Biancas Hals bildete sich ein Kloß. Aber an wie viel von Sam erinnerte sie sich überhaupt noch? Sie strengte sich und begab sich gedanklich in die Bibliothek. Den Ort, wo sie ihn das erste Mal getroffen hatte. Aber er wirkte rückblickend betrachtet noch immer sehr ruhig und schüchtern. Wie ein Schatten, der irgendwie da war, aber keine Form angenommen hatte. Ein Schauder durchlief sie. Möglicherweise war dieser Schaden irreversibel. Trotzdem war der Löschungsprozess anscheinend angehalten, sonst wüsste sie schon viel weniger über ihn. Gedanken blitzten in ihr auf, wie er sich ihr vorgestellt hatte. Oder wie sie sich über das Gebirge - das Meer -, gestritten hatten. Alles noch da.

"Bianca", fragte Sam und artikulierte jeden Buchstaben überdeutlich, "hast du mir zugehört?" Sie blinzelte und tauchte aus ihrer Gedankenwelt auf, um sich wieder auf ihn zu konzentrieren.

"Was? Was hast du gesagt?", murmelte sie verwirrt.

"Ob du Finley und Liz zurückbringen kannst", half er ihr auf die Sprünge. Er tippte ungeduldig mit dem Bein auf dem Boden. Auch der letzte Rest der Müdigkeit und Verwirrung war aus seinen Gliedern gewichen.

"Keinen Plan. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert", überlegte sie. Noch während sie sprach, verschwanden ihre Hände in der Hosentasche und kramten nach Sams Schachtel Streichhölzern. Sie hielt inne und wurde kreidebleich. "Nein."

"Was?", fragte Sam und zog die Augenbrauen zusammen. "Was ist denn?"

"Ich hab sie liegenlassen. Ich hab sie oben liegenlassen."

"Du hast was?"

"Ich hab die verdammten Streichhölzer oben vergessen. Oben im Nichts", erklärte sie und griff sich an die Stirn. In dem Stress, den Dark-Sam ihr gemacht hatte, war die Box bestimmt irgendwo liegengeblieben.

"Meine Streichhölzer? Wozu brauchst du die?" Er schüttelte den Kopf und schien gar nicht zu kapieren, was in Biancas Kopf vor sich ging.

"Ich brauch sie, um zu zeichnen. Was anderes gibt es ja nicht. Oder siehst du hier irgendwo zufällig einen Bleistift? Einen Kugelschreiber?" Die Wut auf sich selbst ließ sie am Boden aufstampfen. "Nein, natürlich nicht. Weil ja alles hier aus gottverdammtem Papier besteht! An Schreibmaterial mangelt es hier ja nicht, aber wieso zur Hölle gibt es keine verdammten Stifte?" Sie entlud ihren Zorn in der idyllischen Landschaft und die Bäume wehten zur Antwort sanft im Wind. Die Blätter raschelten wie Zeitung.

"Bianca, beruhige dich. Das bringt nichts. Vielleicht gibt es ja doch etwas zu schreiben und wir müssen nur ein bisschen suchen", schlug er vor. Viel zu optimistisch für ihren Geschmack. Aber auszuschließen war das nie. Noch bevor sich ihr Mund eigenständig machen konnte, hielt sie sich selbst zurück. Sie mussten es versuchen. Immerhin ging es um Finley und Liz.

"Alles klar, machen wir uns auf die Suche", seufzte sie. Sie hauchte den Ärger aus und senkte ihren Kopf. Die Energie verließ sie. Der Gefühlsausbruch kostete sie die letzten Kräfte. Doch das musste sie nun ignorieren. Unmotiviert stapfte sie in eine Richtung, zufällig leitete sie ihr Unterbewusstsein zum Wasserfall. Vielleicht wurde es vom Zentrum angezogen. Wenn dem so war, musste sie dringend darauf hören. Sie hätte nie gedacht, dass sie das jemals behaupten würde, aber heute war es das Wichtigste von allen Dingen - sie musste auf ihre Gefühle achten. Auf sie war mehr Verlass als auf die Logik und die Gesetze der Physik. Hier herrschte nicht Mutter Natur, sondern Vater Papier.

"Wohin gehst du? Auf den Wasserfall zu?", fragte Sam. Sie war schon einige Schritte gelaufen, als seine Stimme ertönte. Er holte zu ihr auf, schien aber nicht umkehren zu wollen. 

"Jep", bestätigte Bianca. Ihre Gesichtszüge gaben kaum eine Regung von sich. Man könnte im Moment nichts an ihr ablesen, was Sam allerdings bemüht versuchte.

"Sagt dir das dein Bauchgefühl?", durchbohrte er sie weiter. Wahrscheinlich wusste er es, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Langsam fühlte Bianca die Löcher in ihrem Kopf in Form von Schmerzen, die er mit seiner ewigen Fragerei verursacht hatte. Aber für Streit hatte sie keine Nerven mehr. Sie presste ihre Lippen aufeinander und nickte knapp.

"Dann ist es die richtige Richtung, die wir einschlagen. Egal, was wir finden."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top