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❝Vertrautes Gesicht❞

"WAS ZUR HÖLLE?", entfuhr es Bianca. Sie legte den Kopf schief und betrachtete Sam mit einem Ausdruck von Sorge. Er starrte sie wortlos an und bewegte sich nicht. Das erinnerte sie fast daran, wie er in den Flammen gestanden war. Der Gedanke war wie ein Schlag in die Magengrube.

Sam war vollkommen blass. Nein, er war nicht blass, er war farblos. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es kam Bianca vor, als würde sie in einen Schwarz-Weiß-Fernseher blicken. Seine Gesichtszüge schienen mit dem stillen Nichts zu verschmelzen. Er war genauso ruhig und kalt wie der Hintergrund. Gleichzeitig sagte etwas in Bianca, dass er hier eigentlich nicht sein sollte.

"Wo bin ich?", fragte Sam. Seine Stimme war so trocken, als würde sie aus Papier bestehen. Ein Schauder lief Bianca den Rücken hinab. "Was ist das hier? Ich sollte doch tot sein." Er ließ seinen Blick über das Nichts gleiten und blieb bei ihr hängen. Plötzlich nahm die Schärfe in seinem Blick zu und er raste auf sie zu.

"Was-", stotterte sie.

"Oder bist du tot? Nein, du kannst nicht tot sein. Ich habe dich leben sehen", hauchte er ihr entgegen. Sein kalter Atem ließ sie frösteln. Er hielt sie eisern an den Schultern fest und starrte sie ungläubig an.

"Nein, Sam. Ich bin quicklebendig. So wie du", erklärte Bianca und schüttelte seinen Griff ab. An den Stelle, wo er sie berührt hatte, fühlte sie Todeskälte. "Erinnerst du dich nicht daran, wie wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben?" Die Erinnerung ließ sie schneller atmen.

"Natürlich weiß ich das noch", gab Sam bitter wider. Er wandte sich von ihr ab und trat einige Schritte auf die weiße Weite zu. "Ich hätte dort sterben sollen. Mein Schicksal ist besiegelt, genau wie Liz' und Finleys. Wir waren schon zum Tode verurteilt, bevor man sich uns zu Ende ausgedacht hat." Bianca stockte. Die Art, wie er sprach, machte sie unruhig. Das war nicht der Sam, den sie kannte. Da war sie sich sicher. Er hatte sich verändert.

"Warum sagst du so etwas? Du lebst doch jetzt. Ist das nicht das Einzige, das zählt? Das Schicksal kann mich mal", warf Bianca ihm entgegen und stapfte näher zu ihm. Je mehr er sich entfernte desto unwirklicher kam ihr seine Präsenz vor. Er durfte nicht davonrennen, sonst würde sie ihn wieder verlieren.

"Du verstehst das nicht! Du verstehst rein gar nichts von all dem, Bianca!", sprach Sam und sie zuckte zusammen. In seinen Augen spiegelte sich die Leere wider. "Du denkst, du kannst machen was du willst. Aber es gibt Regeln. Wenn man sich nicht an sie hält, macht man alles kaputt."

"Kaputt?", hauchte sie so leise wie möglich. Sie wollte Sam nicht reizen. Seine Worte machten ihr Angst. Es beunruhigte sie, dass er anscheinend tot sein wollte.

"Ja. Sieh dir das an", erklärte er und zeigte ihr seinen blassen Arm. Er drehte ihn so, dass seine Handfläche nach oben zeigte. Als Bianca ihre Augenbrauen zusammenzog und seine Haut fixierte, fiel ihr ein Schimmern auf. Sam flackerte. Für den Bruchteil der Sekunde konnte sie durch seine Finger hindurchsehen. Da es hier überall so hell war, fiel es kaum auf, wenn man nicht genau hinschaute.

"Verdammt", gab Bianca mit knirschenden Zähnen von sich.

"Meine gesamte Existenz löscht sich aus, wenn ich hier zu lange bleibe. Deine Erinnerungen an mich werden verschwinden, als wären sie nie dagewesen. Das ist wesentlich schlimmer als zu sterben." Düster senkte er den Kopf und atmete die kalte Luft aus. "Möglicherweise hat es sogar schon begonnen. Ohne, dass du es bemerkt hast. Was ist deine älteste Erinnerung an mich? Die Bibliothek, oder? Denk scharf nach. Weißt du noch, wie ich mich verhalten habe? War ich auffällig ruhig?" Biancas Unterlippe bebte.

"Aber meine Erinnerung an die Bibliothek ist doch falsch. Ihr habt alle drei behauptet, dass ihr dort nicht gewesen seid."

"Das ist egal. Vielleicht warst du einfach so stark in das Buch vertieft, dass du dir eingebildet hast, uns Protagonisten außerhalb vom Buch zu sehen. Das spielt jetzt keine Rolle. Was zählt, ist die Erinnerung an mich. Wie viel von mir weißt du noch? War ich still?" Mit seiner eiskalten Miene kam er näher zu ihr. Biancas Herz fror ein.

"Ja, das ist möglich." Sie schüttelte ihren Kopf. "Ich dachte, du wärst zurückhaltend. Dass das zu deiner Persönlichkeit gehört."

"Das ist falsch. Bin ich nicht", unterbrach sie Sam. "Also beginnt sich meine Existenz tatsächlich bereits aufzulösen." Ein düsterer Schatten wanderte über sein Gesicht.

"Und was machen wir jetzt?", fragte Bianca und schlang die Arme um ihren Körper.

"Ich muss unbedingt zurück. Zurück zum Augenblick meines Todes", erklärte er abgehakt. Er trat näher an sie heran und musterte sie zornig. "Wie hast du mich hier hergebracht? Das sollte unmöglich sein."

"Hab dich gemalt", gab sie von sich und zeigte auf den Boden. Sie blinzelte verwirrt, als sie bemerkte, dass die Zeichnung verschwunden war. "Seltsam, es ist weg."

"Dann lass dir was einfallen, wie du mich in die Welt zurückbringen kannst. Zum Moment, in dem ich sterbe", redete Sam ihr ins Gewissen. Er griff sie wieder eisern an der Schulter. "Jetzt. Schnell."

"Ist gut, beruhige dich", verlangte Bianca, schüttelte diesmal allerdings nicht seine Hand ab. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre er zu Eis erstarrt. Doch Wärme durchflutete ihre Gedanken. Eine Idee kam ihr wie ein Blitzschlag und ließ sie hoffnungsvoll lächeln. "Ich weiß etwas." Sie hatte Türchen gezeichnet. Immer wieder war sie im Nichts gelandet, aber vielleicht lag das daran, dass sie an keinen bestimmten Ort gedacht hatte.

"Was weißt du?", presste Sam hervor. Sein Griff wurde fester.

"Ich kann eine Tür zeichnen, durch die du in den Moment deines Todes zurückkannst. Wie ein Tor durch die Zeit. Oder besser gesagt - durch die Seiten dieses Buches." Er ließ sie mit einem Mal los und blickte sie erstaunt an.

"Und das soll funktionieren?" Der düstere Schatten in seinem Gesicht nahm Skepsis an. Doch die trockene Hoffnung brachte ihn dazu, Bianca weiter zuzuhören.

"Ja", antwortete Bianca und nickte heftig, "vertrau mir." Sie kramte die Schachtel mit den Streichhölzern hervor und widmete sich ihrem unendlich großen Zeichenblatt, nämlich dem Papierboden.

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