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❝Auf der Kippe❞

SAM TAUCHTE IN Biancas Blickfeld auf und verdeckte das dystopische Bild. Auf einen Schlag wusste sie wieder wie man atmete und rang wie wild nach Luft. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wie nah der Riss war, aber jeden Moment konnte es so weit sein. Jeden Moment bestand die Chance, dass er hinter Sam auftauchte und seinen Rücken aufschlitzte. Er hingegen hatte sein Gesicht ihr zugewendet und suchte ihre Aufmerksamkeit.

"Bianca, sieh nur mich an, okay?", redete er auf sie ein. Er wollte sie an den Händen hochziehen, doch sie reagierte nicht. Schließlich schlang er seinen Arm um ihre Taille und half ihr sich aufzurichten. Ihre Beine zitterten. Der Mut, den es sie kostete, sich für den Tod zu entscheiden, raubte ihr jede Energie.

"Bianca?", fragte Sam, als ihre Augen hin- und herschweiften, als suchten sie nach einem kleinen bisschen Halt. Die Pupillen irrten umher, bis er ihr Gesicht in seine Hände nahm und sich ihr Blick sofort auf ihn richtete. Das näherkommende Knirschen wurde ihr mit einem Mal egal. Wichtig war nur, wie viel Vertrauen sie an ihm ablesen konnte. Es linderte ihre Angst und erinnerte sie daran, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Sam verschloss die Lücke zwischen ihnen. Seine weichen Lippen auf ihren fühlten sich so echt an wie nichts anderes in ihrem Leben. Sie erwiderte den Kuss und schlang ihre Arme um seinen Hals. Ihre Haut brannte an den Stellen, an denen er seine Hände entlangwandern ließ. Der Moment durfte nicht aufhören. Sie wollte nicht sterben und doch wollte sie nicht anders sterben als auf diese Weise. Er löste sich von ihr und als sie die Augen aufschlug und ihn ansah, blickte sie in die Unendlichkeit.

"Bianca", er strich seufzend über ihre Lippen und ihre Gedanken setzten aus, "Bianca, wenn du bei mir bist, fühle ich mich wie ein Mensch." In diesen Augenblick mischte sich Trauer und seine Miene verdunkelte sich. Sie legte ihre Hand auf seine Wange.

"Das ist jetzt alles egal geworden", murmelte Bianca und legte ihre Lippen auf seine, in der Hoffnung, sie könnte den Schmerz wegküssen. Er löste sich viel zu schnell von ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern.

"Es tut mir leid. Wirklich", flüsterte er und Biancas Stirn legte sich in Falten. "Es tut mir leid, aber du wirst leben." In ihren Kopf sickerte Erkenntnis hinein, doch noch bevor sie weiterdenken konnte, gab ihr Sam einen kräftigen Schubs in Richtung des Wasserfalls. Die strömenden Bücher saugten sie ein und erstickten ihren Schrei. Ihr war so schwindelig, dass sie keinen letzten Blick auf ihn erhaschen konnte, sondern nur einen Brei aus Farben zu sehen bekam.

Bianca war eingeklemmt in einer Schwebe aus Büchern, die sie blitzschnell hinaufkatapultierten. Harte Ecken bohrten sich in ihre Arme und Beine, als sie nach Halt suchte und in der Luft ruderte. Wie bunte Farbkleckse schwirrten die Gegenstände um sie herum und rasten um die Wette nach oben. Der Schmerz und die Angst legten sich wie eine Schlinge um ihren Hals. Atmen war unmöglich. Sie roch trockenes Papier und ihre Furcht.

Tausend Gedanken zermalmten ihren Kopf und riefen ihr verzweifelte Anweisungen zu. Jeder einzelne wurde zerschmettert, sobald das nächste Buch wie aus dem Nichts auftauchte und ihren Körper traf. Mit klopfendem Herzen hielt sie sich den Arm. Blutete sie? Nein. Doch ihre Haut durfte übersät sein mit blauen Flecken. Um sie zischte es und Funken sprühten. Sie musste ihren Schädel schützen. Nein. Sie musste sich einrollen.

Sie blinzelte durch das Bücherwirrwarr. Über ihr lichtete sich der bunte Tunnel. Der Papierhimmel. Die weiße Oberfläche raste viel zu schnell auf sie zu. Nein. Das überlebte man nicht. Ihr Herz drohte ihr aus der Brust zu springen und ihre Augen weiteten sich. Sie legte die Arme schützend um ihren Kopf und spannte jede Faser ihres Körpers an. Keinen Atemzug später explodierte ihr Schädel vor Schmerz.

Bianca durchbrach den Papierhimmel. Ihre Haut fühlte sich taub an. War sie tot? Nein. Sie riss ihre Augen auf. Noch immer flog sie durch die Luft, aber die Bücher waren weg. Mit hoher Geschwindigkeit raste ihr Körper durch das weiße Nichts. Mit einem Mal wurde sie abgestoppt. Gummiartiges Gewebe fing sie ab. Wegen ihres Schwungs wurde sie wie wild hin- und hergewirbelt. Das Adrenalin pulsierte in ihren Adern, während sie den Sinn dafür verlor, wo oben und unten war.

Wie in einen Kokon aus Grauen wickelte sich klebrige Masse um sie herum. Sie wurde hunderte Male um ihre eigene Achse gedreht, bis ihr so speiübel war, dass ihre Hände in einem Akt aus Verzweiflung nach irgendeiner Form von Halt schnappten. Sie umklammerte das Erste, was sie zu fassen bekam. Vor ihren Augen verschwamm alles. Sie sah einen weißlichen Einheitsbrei und hörte dumpf das Rauschen des Bücherwasserfalls. Ihre Finger krallten sich in ein gummiartiges Seil und stoppten die Rotation. Sie kam so abrupt zum Stillstand, dass sich ihr Kopf weiterdrehte und ihre Muskeln zusammensackten. Sie hing an einem dickem Faden, der sich fest um ihren Körper gewickelt hatte und sie erkannte, dass sie sich nicht festhalten musste. Es hatte keinen Zweck, da sie sich sowieso nicht vom Fleck bewegen konnte und es sie nur Energie kostete. Sie ließ vorsichtig los und ihre Sinne kehrten Stück für Stück zurück.

Im Takt ihres schlagenden Herzens wurde ihre Sicht schärfer. Aus verschwommenen Rändern und grauen Punkten entwickelte sich ein bizarres aber stabiles Bild. Sie sah geradewegs dorthin, wo sie hergekommen war. Der Papierhimmel. Von hier oben sah er genauso wie vom Grund der Fantasiewelt aus. In dem dicken gebleichten Karton prangte ein Loch. Die Zacken bogen sich in alle Richtungen, doch im Gesamten deuteten sie verräterisch auf Bianca.

Als sie ihren Blick löste und an der Himmelsoberfläche entlangwandern ließ, fand sie kein Ende. Die Fläche erinnerte an die Papierwände, nur das hier oben die Schwerkraft keinen Richtungswechsel unternommen hatte. Dafür gingen andere verwirrende Dinge vor sich. Die Bücher aus dem Wasserfall verließen die Welt nicht. Statt durch die Öffnung zu strömen, klatschten sie wie an einer unsichtbaren Wand auf und zergingen zu Papierbrei. Sie flossen zur Seite und verschmolzen mit dem weißlichen Himmel. Von der Bibliothek gab es keine Spur.

Die Taubheit verschwand aus Biancas Knochen und damit kehrten Angst und Panik in ihre Beine zurück. Als sie den Kopf in den Nacken legte, sah sie breite Streifen bestehend aus Fäden unterschiedlicher Dicke. Sie hingen wie hunderte von Girlanden quer über, unter, links und rechts von ihr, ohne dass man den Ursprung oder das Ende ausmachen konnte. Sie sah an sich herunter und starrte das weiße Seil an, das um ihren Oberkörper gewickelt war. Dieser dicke Faden gehörte zu einem der Konstrukte, die lose in der Luft hingen. Sie hatte es durch ihre Wucht vorhin aus der Bahn gerissen und sich darin verfangen. Sie wollte sich befreien, doch als sie ihren Blick unter ihre Füße schwenkte, erstarben ihre Zuckungen. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt von diesen Fesseln lösen. Da war nichts als unendliche Tiefe.

Unter ihr kam Bewegung in die Szene. Der Papierhimmel wölbte sich unter einer Kraft, die von innen auf ihn einwirkte. Die Welt implodierte. Mit dem Geräusch tausend zerreißender Seiten löste sich die Oberfläche auf. Zum Vorschein kamen nichts als weiße Linien und zerschlissene Netze, die in kleinere Fetzen geteilt wurden. Die Wucht der Explosion traf Bianca verzögert, aber mit voller Wucht. Ihre Haare wirbelten durch die Luft und sie wurde weggeschleudert. Das gummiartige Seil um ihrem Körper bewahrte sie davor, ins bodenlose Nichts geworfen zu werden. Erneut wurde sie blitzschnell eingedreht, als wäre sie in einem Karussell statt auf der Kippe zu stehen.

Chaos und Übelkeit schnürten das Korsett um ihr Herz noch enger. Der Schwindel blieb diesmal nicht so lang und voller Erwarten starrte sie die Stelle an, wo sich der Papierhimmel umtransformierte. Von der glatten Fläche war nichts mehr übrig. Sie war nur noch ein Fetzen. Eine verwahrloste Erinnerung an die Fantasiewelt. Sie löste sich Faden für Faden auf, bis man durch sie durchsehen konnte. Unter ihr pulsierte ein schwarzer Fleck.

Biancas Augen verengten sich zu Schlitzen. Alles in ihr schrie sie an, dass es nicht wahr sein durfte und dass sie weg musste. Sich von den Gummifesseln befreien sollte. Sie mit aller Kraft durchreißen sollte. Doch stattdessen sackte ihr Herz zusammen. Hinter den letzten Resten des Papierhimmels war nichts. Gar nichts. Die Welt war wie weggeweht. Ein Haufen weißer Linien schimmerte durch das Netz durch. Mehr war nicht übrig.

Nur der Riss. Nur der Riss waberte dort unten herum. Er suchte sich einen Weg zu Bianca. Sie biss die Zähne zusammen und starrte mit tränenden Augen die Stelle an, wo der dunkle Schatten des bösartigen Wesens herumgeisterte. Er wurde größer. Kam näher. Mit einem Mal durchtrennte er das Netz, das den Blick auf Bianca verdeckt hatte und das Herz rutschte ihr in de Hose.

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