Saite 5
╝ Saite 5 ╔
❝Bianca❞
BIANCA LANDETE AUF dem harten Boden und durchtriebene Schmerzen schossen durch jeden ihrer Knochen. Als wäre ein Schalter in ihr umgelegt worden, spürte sie mit einem Mal alle Wunden an ihrem Körper. Sie stöhnte unter der Pein auf und legte sich auf den Rücken. Als sie die Augen öffnete, sah sie den gleißend hellen Himmel und ein Loch darin. Der Krater. Eingerissenes Papier. Er streckte seine Fasern aus und reparierte sich selbst. Glättete das Blatt, bis es makellos war.
In der Ferne hörte Bianca ein Grollen und ihre Augen suchten die Papierdecke erneut ab, bis sie die altbekannte schwarze Linie gefunden hatten. Der Riss tropfte nicht allzu weit entfernt von ihr vom Himmel herunter. Sie konnte die Einschlagstelle nicht sehen, da ein Gebüsch um sie herum die Sicht verdeckte. Als sie sich aufrichten wollte, durchjagten Schmerzen ihren Körper und drückten sie zurück ins Gras. Schweißgebadet blieb sie liegen und starrte die weiße Decke an.
Es raschelte. Sie folgte dem Geräusch und erkannte einen älteren Mann, der sich durch die dornige Hecke kämpfte. Er hatte sie nicht bemerkt und würde es auch nicht tun, wenn sie nicht gleich etwas unternahm. Sie stützte sich unter beißendem Kopfschmerz vom Boden ab und robbte sich zitternd in seine Richtung. Ihr Mund öffnete sich und sie wollte schreien, aber es kam nur ein heiserer Ton hervor.
Der Mann kehrte ihr den Rücken zu und entfernte sich Schritt für Schritt von ihr. Bianca biss die Zähne zusammen und startete einen neuen Versuch. Sie drückte sich mit aller Kraft vom Boden weg und kam auf ihre Beine. Sie taumelte nach links und rechts, während ihre Sicht verschwamm und ein unangenehm hoher Ton in ihrem Ohr klingelte. Die Sträucher und Bäume sah sie doppelt und dreifach. Sie wurden mehr und mehr.
"Hey, Sie", brachte Bianca hervor. Ihr Zeigefinger deutete auf den verschwommenen Schemen. "Warten Sie. Der Riss. Sie müssen weg hier. Der Riss." Ihre Stimme war nicht mehr als ein Schatten ihrer selbst. Mit jedem zittrigen Schritt drohte sie unter ihren Schmerzen zu kollabieren. Sie konnte kaum geradeaus gehen, geschweige denn mit dem Tempo des Fremden mithalten.
Bianca meinte zu erkennen wie der Mann stehenblieb und sich vor ihm eine Gruppe von Leuten befand. Das waren sie! Sie musste sie warnen! Ihre stolpernden Schritte wurden energischer und der Ton in ihren Ohren unerträglich. "Hey, ihr! Ihr müsst sofort weg von dort. Gleich wird ein Blitz vor eurer Nase einschlagen und den Mann umbringen. Ihr müsst sofort weg!", rief sie krächzend. Durch den Lärm in ihrem Kopf konnte sie nicht einschätzen, ob die Worte zu ihnen durchgedrungen waren. Ihre Sicht war immer noch unscharf. Sie wurde nicht besser, nein schlechter. Jeden Moment würden ihre Beine nachgeben.
"Hey!", nur noch wenige Schritte, bis sie bei ihnen war, "warum sagt ihr nichts, ich spreche mit euch." Tränen füllten ihre Augen und sie streckte ihre Finger aus, um den Mann an der Schulter zu berühren. Kurz bevor sie ihn erreichte, stolperte sie über ihre Füße und landete auf dem harten Grund. Graue Punkte tanzten in ihrem ohnehin eingeschränkten Sichtfeld. Sie hob den Kopf und meinte zu erkennen, wie die Gruppe ihr schockierte Blicke schenkte. Ein Glück!
"Glotzt nicht so, helft mir doch endlich!", bettelte Bianca. Alles drehte sich. Ihr war speiübel. Sie fühlte sich, als wäre sie zur Hälfte hier und zur anderen tot und es wurde immer schlimmer. Die anderen schienen sich nicht zu regen, doch genau konnte sie es nicht sagen. Sie sah nur bunte pulsierende Flecken.
"Bitte", flüsterte Bianca und streckte sehnsüchtig den Arm aus. Der fremde Mann ging in die Hocke und schien ihr die Hand anzubieten. Unter blitzenden Schmerzen klammerte sie sich an ihn, da sie Angst hatte dass er wieder weggehen würde. Sie fühlte den Griff und die Wärme der Hand, doch gleichzeitig sprenkelten die Punkte ihr Sichtfeld voll. Ihr Kopf donnerte und drückte sie gegen den Boden. Die Furcht schnürte ihr den Hals zu.
Die Hand des Fremden war der einzige Fixpunkt. Wenn sie losließ, so schwor sie sich, würde sie ihr Bewusstsein verlieren und ihr Sein. Ihr war so übel und gleichzeitig fühlte sich ihr Körper an, als würde er jeden Moment aufhören zu existieren. Sie presste die Augen fest aufeinander, als die Funken sprühten und sich Blitze entluden, bis mit einem Mal die Wärme in ihrer Hand wie weggeblasen war. Stattdessen kühlte eine schleimige Nässe ihre Haut aus.
Bianca öffnete die Augen. Das Donnerwetter in ihrem Schädel war verpufft und die Sicht wurde besser, wenn auch nicht wirklich gut. Sie blinzelte ihre zitternde Hand an. Sie war in eine dunkelrote Flüssigkeit getunkt, die von ihren Fingerspitzen tropfte. Sie folgte dem Blick bis zu ihren Füßen, wo sich eine nach Tod und Verderben stinkende Pfütze befand. Alles in ihr zog sich zusammen vor Grauen, doch der Schock erinnerte sie zumindest daran, dass sie noch ein Körpergefühl besaß.
Bianca war der Riss. Die Erkenntnis blitzte durch jede ihrer Zellen, doch nur Taubheit meldete sich als Reaktion. Sie starrte geradeaus, wo die Gruppe davonrannte. Geradewegs in einen Wald. Sie fühlte die Pflicht in sich, die sie dazu drängte ihnen nachzulaufen. Auf einen Schlag sank dieser Impuls in sich zusammen und ließ nur einem Gedanken Platz; sie war der Tod. Dass sie den fremden Mann umgebracht hatte, war der Beweis. Sie war der Tod. Sie war die schwarze Linie. Sie hatte den Riss nicht verursacht. Sie war der Riss.
Ein vertrocknetes Wimmern verließ ihre Kehle. Zu mehr fehlte ihr die Kraft. Ihre Beine gaben unter ihr nach und sie prallte auf dem harten Boden auf. Ein Beben ging durch den Grund und von dort, wo sie saß, breitete sich ein runder weißer Fleck aus. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen. Nein. Andersrum. Das Gras löste sich auf und dahinter kam das Nichts zum Vorschein. Der Boden wurde durch eine helle Ebene ersetzt, die sich wie ein Virus immer weiter ausbreitete. Nein, es war keine Ebene. Es war als säße sie auf einer durchsichtigen Glasplatte.
Bianca blickte über die Schulter. Die Welt hinter ihr war bereits ausgelöscht. Tot. Dort war nicht mehr. Nur die schwarze Linie schlängelte sich durch das weißliche Nirvana. Als sie wieder nach vorne sah, merkte sie dass sich das Universum bis genau dorthin aufgelöst hatte, wo sie ihren Arm hingestreckt hatte. Als sie ihr Bein in Richtung des Waldes ausstreckte, weitete sich das Nichts ein kleines Stück aus, doch solange sie nicht weiterging, schien der Rest der Welt heilzubleiben.
Ein Zischen hinter ihr zog erneut ihre Aufmerksamkeit nach hinten zur strahlenden unendlichen Weite. Der Riss. Er forderte sie heraus. Machte ihr Druck. Angst. Doch ihre Gefühle trieften vor Widerspruch. Wenn Bianca der Riss war, was schlängelte sich dann da hinten im Zickzackmuster in ihre Richtung? War das etwa auch eine Version ihrer Selbst? Ihr Blick drehte sich um hundertachtzig Grad, wo in den Tiefen des Waldes gerade ihr Vergangenheitsich vor ihr flüchtete. Möglich war es.
Grauen erfüllte ihre Seele und es schien, als laste ein tonnenschwerer Fluch auf ihrem Herzen. Wie viele Ichs jagten sich wohl hinterher? War sie wirklich die zweite Version oder liefen womöglich hunderte Abbilder vor sich her? Wie viele Jahre ging das bereits so? Tausende? Millionen? Spielte Zeit überhaupt noch eine Rolle, wenn kaum mehr Raum existierte?
"Nein, nein, nein", jammerte Bianca und griff in ihre Haare. Sie zerzauste sie und brachte noch mehr Unordnung in sie hinein, als sowieso schon darin war. "Nein, das darf nicht wahr sein." Ein Schluchzer nach dem anderen überrollte sie, während das Knistern des Risses in der Ferne erklang. Was jetzt? Weiterrennen? Sie konnte nicht sitzenbleiben. Dann würde sie eingeholt und ausgelöscht werden von der zischenden Schlange. Sie wünschte sie könnte ihr im Wald herumirrendes Ich einholen und mit ihm reden. Wenn sie das schaffte, dann wäre der Teufelskreislauf durchbrochen!
Ihr Kopf hob sich und sah in die Tiefen des Waldes hinein. Nein! Sie irrte sich. Wenn sie jetzt dort hineinlief, besiegelte sie nur den Fluch. Dann würde sich nie etwas ändern. Sie wäre gefangen in einer Ewigkeit. Sie zog ihre Nase hoch und blickte sich um. Warum saß sie? Um sie herum war eine Leere, ein Nichts und unter ihr konnte sie keinen Boden ausmachen. Nicht mal mehr Fäden gab es. Nur endlose Tiefe. Müsste sie nicht in diesem grellen Vakuum schweben?
Eine plötzliche Wut durchzuckte sie und ihre Faust schlug gegen die unsichtbare Ebene. Der Schmerz in ihren Fingerknöcheln trieb ihren Zorn noch weiter an, ließ ein erbärmliches Krächzen aus ihrer Kehle treten, bis es abbrach. Verzweiflung ließ sie aufschluchzen. Sie wünschte Sam wäre hier. Sein Glaube an sie würde sie aufleben lassen, sie zum Weiterkämpfen bringen wie die vielen Male zuvor. Das alles hier war zu groß für ihr kleines Herz. Zu schwach war sie. Das konnte sie nicht ohne Hilfe durchstehen.
"Du hast es wieder getan, Bianca", erklang eine bekannte Stimme. "Du hast einfach denselben Fehler wiederholt. Wirst du es denn nie lernen?" Sie hob den Kopf. Sams farblose Variante blickte sie aus dunklen frustrierten Augen an.
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