Zehn

Draußen vor den Gemächern standen Tristan und Alain. Jay sah sie kurz nacheinander an. In ihren Gesichtern stand der selbe Ausdruck.
„Was?", fragte Jay und fühlte sich sofort unwohl angesichts dieser provokanten Mienen.
Sie kicherten tonlos, dann etwas lauter. Sie konnten sich nicht beherrschen und Jay versuchte sie zu ignorieren.

„Sorgt dafür, dass sie nicht auf noch mehr komische Ideen kommt und sich den Hals bricht."
Dann ballte er genervt die Fäuste neben seinem Körper und ließ seine Freunde alleine. Er nahm im Gästehaus ein Bad und wechselte seine Kleider.

Jedoch drängte es Jay zurück ins Haupthaus. Also schnappte er sich einfach die schwere Schwertscheide und ging eilig zurück. Er dachte nicht einmal daran sich weiter auszuruhen oder wenigstens etwas zu essen. Hunger spürte er selten. Sein Körper war es schon gewöhnt oftmals kaum Nahrung zu bekommen.
Zu anderen Zeiten würde er das nachholen und sich drei Tage lang ein üppiges Festmahl einverleiben, um seine Stärke zurück zu gewinnen.

Doch jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt dafür. Er wollte nicht länger als unbedingt notwendig von Sanjanas Seite weichen. Nicht nachdem es Jeremy so leicht gelungen war, sie zu vergiften.

Jay würde den Anblick nie vergessen, wie sie auf einmal vor ihm zusammengebrochen war. Sein Herz wurde ihm schwer. Er hatte versagt! Er hatte sie nicht vor Jeremy beschützen können. Der Mann kannte Jays Schwachstellen genau, obwohl dieser sie bis vor kurzem nicht einmal selbst kannte, und er hatte sie gekonnt ausgenutzt. Jay schwor sich so etwas nie wieder geschehen zu lassen. Er würde sich nicht mehr ablenken lassen.

Als er erneut vor Sanjanas Gemächern stand, ließ ihn sein schlechtes Gewissen zögern. Er hatte ihr gesagt, dass er bald wieder kommen würde. Vermutlich beruhigte sie seine Anwesenheit. Offensichtlich stand sie immer noch unter Schock und war verängstigt. Aber er konnte nicht zulassen, wieder von ihr abgelenkt zu werden. Das würde dort drinnen mit Sicherheit geschehen. Eigentlich stand es ihm auch nicht zu ihre Gemächer erneut zu betreten. Jay starrte die Tür an. Er stand unbewegt davor.

Tristan musste seine Zweifel gespürt haben, denn er legte eine Hand auf seine Schulter.
„Du kannst nicht davor weglaufen."
Jay sah seinen Freund an, halb verzweifelt, halb gefasst.
„Ausgerechnet du sagst mir das? Wenn ich nur den geringsten Fehler mache, bist du der Erste, der mich umbringt."

„Vielleicht...aber nur weil ich dich beschützen will. Ich weiß, dass du deine Gefühle nicht zeigen darfst. Du darfst ihnen auch niemals nachgeben. Das heißt aber nicht, dass ich dich nicht verstehen kann und dir nicht etwas anderes wünschen würde."
„Du hast absolut Recht. Ich bin ein Krieger, sie ist Senatorin. Das darf nicht sein und das ist mir vollkommen klar."
„Trotzdem zögerst du."

Tristan wusste Jays Unsicherheit genau zu deuten. Jay hatte sich zu sehr gehen lassen und nun befürchtete Tristan das gleiche, wie er selbst. Nämlich erneut die Oberhand über seine Gefühle zu verlieren, wenn er die Gemächer betrat.

Eigentlich musste er sich zusammen reißen. Er musste dort hinein gehen und seine gewohnte Rolle spielen. Jay entschloss sich aber feige zu sein. Es nützte nichts. Er würde nicht mehr so gut schauspielern können. Sobald er sie sehen würde, würde er sich nicht kontrollieren können. Schon allein, weil er sich solche Sorgen um sie machte. Sein Herz wollte sich erneut davon überzeugen, dass es ihr gut ging.

Doch Jay wandte sich von der Tür ab und stellte sich neben Tristan. Dieser warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
„Erspare mir deine Kommentare."
„Habe ich etwas gesagt?", meinte Tristan gespielt empört. Als Jay wagte ihn anzusehen, stellte er einen Funken Belustigung in seinen Augen fest.
„Ich hab gar nichts gesagt", protestierte Tristan wieder und beide grinsten.

So ging das ein paar Tage, bis zu Sanjanas vollständiger Genesung. Jay stand vor der Tür zu ihren Gemächern, wollte anklopfen und entschied sich jedes Mal anders. Er blieb nur daneben stehen und wartete bis sie heraus kam. Seine Freunde mussten ihn für verrückt halten. Nur wagte er nicht die letzte Grenze zu überschreiten und blieb auf Distanz.

Sanjana betrachtete ihn immer nur wortlos. Nickte ihm begrüßend zu. Doch einmal sprach sie ihn an, als sie morgens die Gemächer verließ. Sie hatte ihre Haare zu einem Zopf zurück geflochten und trug ein dunkelrotes schlichtes Kleid. Sie schenkte ihm - wie jeden Morgen - ein herzliches Lächeln.

„Ihr schlaft wohl nie, Major Mathur."
Jay zwang sich nicht auf ihre verführerischen Lippen zu sehen, die zum Glück wieder dunkelrosa waren.
„Wenn Ihr mich nicht seht, dann schlafe ich."
„Aha. Scheint ja äußerst selten vorzukommen."
„Ich muss mich halt um Eure Sicherheit kümmern, Mylady."

Das war eine schwache Ausrede. Ein Blick zu Tristan verriet, was dieser dachte. Vermutlich amüsierte er sich gerade königlich.
Als sie ihn komisch anschaute, fügte er noch hinzu: „Ich brauche nicht viel Schlaf, Mylady."
Das war nicht gelogen.

„Unsinn. Selbst der beste Krieger Dokrats braucht seinen Schlaf."
Jetzt war es an Jay sie komisch anzuschauen.
„Ich bin es gewohnt mehrere Tage nicht zu schlafen. Das ist alles eine Sache des Trainings."
„Verstehe."

Sie schwieg einen Moment und wechselte dann das Thema.
„Könntet Ihr nicht auf diese lästige Anrede verzichten?"
„Warum?"
„Weil es mich stört."
„Bedaure, das kann ich nicht tun."
„Weshalb nicht?"
„Weil Ihr eine Senatorin seid und ich ein Krieger. Es wäre äußerst respektlos Euch gegenüber."

„In diesem Haus bin ich nicht Senatorin Kinjan, sondern nur Sanjana Thamgeir."
„Ihr seid immer die Senatorin, egal wo Ihr Euch befindet."
Sie seufzte.
„Ihr seid anstrengend."
Tristan konnte nicht mehr an sich halten und lachte. Jay sah ihn vorwurfsvoll an. Er wusste genau, dass er diese Grenze nicht überschreiten durfte. Es war das letzte, dass Jay auf Abstand zu ihr hielt.
„Übernimm für mich, Tristan", meinte Jay an seinen immer noch grinsenden Freund gewandt und entfernte sich grummelnd.



~




„Was ist so lustig?", fragte Sanjana Tristan, der jetzt anscheinend Jays Aufgabe übernommen hatte und bei ihr bleiben musste.
„Es ist amüsant, wie Ihr immer wieder versucht mit ihm zu diskutieren."
Sanjana rümpfte die Nase. „Ich dachte nach allem, was passiert ist, würde einiges anders sein. Aber er ist so distanziert auf einmal..."

„Sanjana", unterbrach Tristan sie, „nehmt es nicht persönlich. Er macht sich nur Sorgen, wegen allem, was geschehen ist..."
Tristan stoppte kurz, fügte dann vorsichtig hinzu: „Er hat versagt."
Sie war verwirrt.
„Warum denn das? Er hat mir doch das Leben gerettet. Ebenso wie Alain...ihr alle...Niemals habe ich gedacht, dass einer von Euch versagt hat."

„Jay sieht das anders. Er macht sich heftige Vorwürfe."
„Muss er nicht."
„Doch. Denn es ist erschreckend, dass weder er noch ich Jeremy wahrgenommen haben, bis er direkt neben Euch gestanden hat. Es ist mir unklar, wie es ihm möglich war das Channa zu täuschen."

Sanjana sah, wie Tristan über etwas nachdachte. Bevor er ihr seinen Gedanken mitteilen konnte, hatte er schon wieder sein übliches Lächeln aufgesetzt.
„Wie gesagt, nehmt es nicht persönlich."

Auch wenn sie nicht weiter darüber gesprochen hatten, gingen ihr Tristans Worte für den restlichen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Jay ließ sich auch nicht mehr blicken und im ganzen Haus herrschte eine ungewohnte Stille. Es war fast zu ruhig. Als würde jeder mit einem neuen Anschlag rechnen.

Zu Sanjanas Beruhigung - und auch zu Samaras - blieb mindestens ein Krieger immer bei ihr. So sehr sie das anfangs gestört hatte, desto mehr beruhigte ihre Gegenwart sie jetzt.

Abends lag sie schlaflos in ihrem Bett. Wälzte sich unruhig hin und her.
Der Mond schien durchs Fenster und die langen, fast durchsichtigen Vorhänge warfen leichte Schatten auf den Boden vor dem Bett. Es wirkte gespenstisch und harmonisch zugleich.

Sie stöhnte ärgerlich und setzte sich auf. Sie konnte einfach nicht einschlafen. Ihr Blick fiel auf die Tür ihres Schlafgemaches. Dort im Vorraum war Jay. Sie hatte ihn nicht gehört, doch ihr Gefühl versicherte ihr, dass er da war. Er war immer da.

Während sich tagsüber die anderen Krieger um sie tummelten und sie abwechselnd beschützten, war sie sich sicher, dass Jay nachts vor ihren Gemächern wachte. Sie stelle ihn sich vor, wie er lässig an die Wand gelehnt da stand. Ihr Herz sprang aufgeregt, bei dem Gedanken an seine grünen, wunderschönen Augen. Er hatte sie zuvor mit solch einer Wärme angesehen, dass es ihr wie ein Traum erschien, seit er sich so distanziert hatte.

Die Tatsache, dass er sich nur noch nachts - während sie eigentlich schlafen sollte - vor ihrer Tür aufhielt, bestätigte seine Distanz. Der Wunsch aufzustehen und zu ihm zu gehen, ihn tröstend in den Arm zu nehmen und zu sagen: „Es geht mir gut, du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen", wurde immer größer in ihr. Vermutlich war das keine gute Idee. Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken, nur um sich einen Moment später erneut aufzusetzen.

Sie schob die Bettdecke zur Seite und stand auf. Leise schlich sie auf die Tür zu. Davor machte sie Halt und wartete. Konnte er ihre Gegenwart schon spüren? Das Channa verlieh ihm die Fähigkeit alles wahrzunehmen, was hinter verschlossenen Türen geschah. Auch wenn er ihr gesagt hatte, er respektierte ihre Privatsphäre. Er wusste bestimmt, dass sie direkt hinter der Tür stand. Ihr Verstand riet ihr umzudrehen, sich nicht von ihrem Herz leiten zu lassen. Aber der Wunsch ihn nur kurz zu sehen überwog.

Sie öffnete die Tür. Wie erwartet stand Jay nur wenige Meter vor ihr an die Wand gelehnt. Offensichtlich seine favorisierte Haltung.
Er blickte nur flüchtig zu ihr und sah keines Falls überrascht aus sie zu sehen. Er hatte sich auf sie konzentriert!

Eine erschreckende und auch angenehme Tatsache. Eine Sekunde lang war sie versucht umzudrehen und sich in ihrem Bett zu verkriechen, aber sie tat es doch nicht. Stattdessen blieb sie im Türrahmen stehen und überlegte, was sie zu ihm sagen könnte.

Einen Moment zu lange, denn Jay fragte sie: „Braucht Ihr etwas, Mylady?"
Seine Augen musterten sie, soviel konnte sie im dunklen Vorraum erkennen.
„Ähm...ich wollte...", druckste sie herum.
Die richtigen Worte ließen sich nicht finden. Sie wurde unruhig. Gut, dass es so dunkel war, sonst hätte er ihre roten Wangen entdeckt. Oder sah er sie vielleicht doch?

„Ist etwas nicht in Ordnung?"
Sie schluckte nervös.
„Nein, alles ist in Ordnung. Ich wollte mich nur vergewissern, ob Ihr da seid und...dass es Euch gut geht."
Etwas regte sich in seinem Gesicht.
„Ihr solltet lieber um Euer eigenes Wohl besorgt sein. Nicht um meines."

Seine sture, arrogante Antwort machte sie wütend.
„Verzeiht, dass ich es gewagt habe mir Sorgen zu machen."
„Ihr seid diejenige, die bedroht wird. Nicht ich", spottete er.
„Meine Feinde, sind zufällig auch Eure Feinde."

„Ich bin ein Krieger, Ihr seid Senatorin. Das macht einen Unterschied."
„Für mich macht es keinen Unterschied. Ich bin nicht so hilflos, wie alle meinen."
„Und ob."
Sanjana hatte das komische Gefühl, dass sie nicht von der selben Sache sprachen.
„Seid unbesorgt, Mylady. Ich lasse nicht zu, dass Euch jemals wieder jemand Schaden zufügt."

Seine Worte waren aufrichtig und Sanjana verspürte wieder einen Kloß im Hals. Ihre Wut war mit einem Mal verflogen.
„Macht Ihr Euch Sorgen, wegen Jeremy?"
„Ja", nickte Jay, „und dass Ihr wieder etwas dummes anstellt."
Sie verdrehte die Augen. Musste er das denn noch hinzufügen?
„Keine Angst, ich werde nichts dummes mehr anstellen."

„Eine Lüge."
„Wieso?"
„Weil Ihr bereits etwas dummes macht. Ihr steht hier mitten in der Nacht, mit nichts weiter bekleidet als einem Nachtgewand und diskutiert mit mir."
Schlagartig wurde ihr warm. Er hatte Recht. Was in Tamarans Namen tat sie hier eigentlich?

Jay kam näher. Stellte sich direkt vor sie, sodass sie ihren Kopf heben musste, um in seine smaragdgrünen Augen zu sehen. Der grelle Mondschein spiegelte sich darin. Warum waren seine Augen gerade jetzt grün?

„Macht Ihr Euch wirklich solche Sorgen um mich, das Ihr jegliches Gefühl für Anstand und Scham vergesst?"
Sie spürte die Wärme seines Körpers.
„Ist das so absurd?", fragte sie leise.
„Eigentlich schon. Es schickt sich nicht, für jemanden Eures Standes, sich um einen Krieger zu sorgen."

„Seid wann benehme ich mich wie übliche Leute in meinem Stand? Seid wann kümmert es mich, was andere von mir denken?"
„Ihr habt Recht. Ich kann mich nicht erinnern, wann Ihr jemals wie eine Dame...nein...eine Senatorin gehandelt hättet. Mit Ausnahme bei dem Besuch von Lady Clare."
Sein verzückter Tonfall entging ihr nicht. Lange sahen sie einander an.

„Ihr solltet mich eigentlich hassen", meinte Jay nach gefühlten zehn Minuten. Er klang fast traurig.
„Wie könnte ich Euch hassen? Ich verdanke Euch mein Leben."
„Meinetwegen wurdet Ihr vergiftet."
„Bitte hört auf damit! Ich habe Euch niemals einen Vorwurf gemacht."
„Solltet Ihr aber."

Sie schüttelte den Kopf. Anschließend legte sie wie von selbst eine Hand an seine Wange. Diesen Mut brachte sie einfach so auf, ohne darüber nachzudenken.
„Jeremy hat uns alle überrumpelt. Er hat es lange planen können und uns eiskalt erwischt. Ihr habt nicht allein Schuld an dem, was passiert ist. Und beim nächsten Mal werdet Ihr ihm Einhalt gebieten. Davon bin ich überzeugt. Ich bin Euch zutiefst dankbar. So sehr, dass Worte es gar nicht beschreiben könnten."

Sie konnte vermutlich nur so sprechen, weil sie im Grunde keine Vorstellung hatte, was Jay für enorme Fähigkeiten hatte. Sie konnte die Kraft nicht verstehen noch würde sie jemals das gesamte Ausmaß davon begreifen.

Sein Gesicht war immer noch traurig. Doch konnte sie nun auch etwas anderes darin erkennen. Eine unglaubliche Wärme und
Vertrauen. So hatte er sie noch nie angesehen.

Nervös wich sie zurück. Fast stolperte sie dabei über ihr eigenen Füße. Warum wollte sie weglaufen? War es der Ausdruck in seinen Augen, der sie flüchten ließ?
Oder mehr die Alarmglocken in ihrem Kopf, die sie warnten? Sie drehte sich von ihm weg. Zwang sich nicht in seine stechenden Augen zu sehen. Diese vertrauensvollen, treuen und absolut ehrlichen Augen -
Wenn er sie weiterhin so ansah, würde sie sich über kurz oder lang in seinen Augen verlieren.

Plötzlich spürte sie seine Hand nach ihrem Arm greifen. Er zog sie in einer fließenden Bewegung an sich heran.
Die andere Hand legte sich unter ihr Kinn und fixierte ihr Gesicht in seine Richtung.

Ihr Verstand schrie als Warnung vor diesem intensiven Blick und der plötzlichen Nähe zu ihm.
Sie wollte nicht in seine Augen sehen. Wenn sie das tat, würde sie verlieren.
Verzweifelt kniff sie die Augen zusammen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals - drohte zu zerspringen, als sie plötzlich seine weichen Lippen auf ihrem Mund fühlte.

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