Sieben

Wütend warf Jay sein Schwert in eine Ecke. Seine Nerven lagen blank und er schmiss sich mit dem Rücken aufs Bett. Ein Bett? Nach Sanjanas Laune hätte er eher eine Pritsche erwartet. Ein Bett hingegen war schon großzügig von ihr.

Er sah sich kurz um. Ein kleiner Raum, nicht großartig möbliert. Außer dem Bett gab es noch einen Schrank und ein kleinen Schreibtisch. Davor ein einfacher Holzstuhl. Rechts neben dem Bett war ein Fenster. Davor waren braune Baumwollvorhänge angebracht. An den übrigen Wänden hingen Kerzenleuchter. Ihr Licht warf flimmernde Schatten an die Steinwand. Es sah aus wie tanzende
Gespenster.

Er stellte sich Figuren vor, wie sie sich auf und ab bewegten, wie sie sich wandten und drehten. Auf einmal waren es keine tanzenden Geister mehr. Viel mehr die Schatten der Vergangenheit. Ein Schrei hallte in seinem Kopf wieder. Der Schatten auf der Wand verwandelte sich in ein Gesicht. Ein schreiendes Gesicht.

Jay kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf in Richtung Fenster. Er hasste diese Momente. Er hasste seine Vergangenheit, die sich einfach nicht fortwischen ließ. Er stöhnte. Erst jetzt bemerkte er, wie müde er war. Seit Tagen hatte er sich nicht richtig ausruhen können. Einerseits wegen seinen Albträumen und andererseits wegen Sanjana.

Ihm war klar, dass der Feind immer noch dort draußen war. Er würde wieder kommen. Immer wieder und es würde jedes Mal schlimmer werden. Hoffentlich konnte er sie beschützen. So wie heute.

Doch die Tatsache, dass er den Angriff zu spät bemerkt hatte, machte ihn mehr als unruhig. Wie konnte ihm das nur so lange entgehen?

Er dachte einen Moment darüber nach. Die Antwort war klarer, als er zugeben wollte. Er war...abgelenkt gewesen. Von Sanjana. Doch was hatte die Saboraner dazu gebracht so lange zu warten, wenn sie doch von der Anwesenheit der Krieger wussten? Er hatte den Eindruck gehabt, sie wollten ihm etwas mitteilen.
Nur was? Und wer steckte dahinter?

Jemand hatte die Fäden in der Hand. Jemand, der etwas von Jay wollte. Der ihn vielleicht sogar kannte. Was wollte er und warum hatten sie ihn nicht angegriffen? Warum waren sie geflüchtet? Warum ein Pfeil? Und warum erst jetzt? Sie hätten Sanjana die ganze Zeit über angreifen können. Immerhin war sie die ganze Zeit alleine in ihren Gemächern geblieben.

Aus Sorge hatte Jay sich davor platziert, nicht aus Trotz. Er hatte sich tatsächlich um ihre Sicherheit gesorgt - auch aus dem Grund, weil er ihr nicht mehr über den Weg traute, seit sie versucht hatte vom Grundstück zu schleichen. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, war es Missachtung seiner Befehle und absolut törichtes Verhalten.

Nur hatten die Angreifer gewartet, bis er unmittelbar in ihrer Nähe war und den Angriff persönlich miterleben konnte.
Wahrscheinlich war es ihnen bewusst, dass er den Angriff rechtzeitig wahrnehmen und verhindern würde.

Jay zermarterte sich den Kopf. So viele offene Fragen hatte er schon lange nicht mehr im Kopf gehabt. Krieg spielen machte einen weich. Zu lange hatte er keinen Schutzauftrag mehr gehabt. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob er in der Lage war Sanjana zu beschützen. Er wollte sie beschützen. Ob jemand ihn heraus forderte oder nicht. Jemand wollte ihr schaden. Das konnte er nicht zulassen.

Schon wieder dachte er über diese Frau nach, ließ sich ablenken. Zum Teufel mit ihr! Wie konnte sie ihn nur so sehr ablenken? In ihrer Nähe konnte er sich einfach nicht konzentrieren. Deshalb hatte er den Angriff zu spät mitbekommen - weil er mit ihr zusammen gewesen war, weil sie ihn mit ihren großen
Rehaugen angesehen hatte und er es nicht unterlassen konnte sie ein wenig zu necken. Die Erinnerung an ihre geröteten Wangen ließen ihn jetzt noch schmunzeln. Er war ja so ein Schelm.

Auch wenn sie die meiste Zeit wütend auf ihn war und ihn absolut nicht ausstehen konnte, ihr Gesicht war immer zauberhaft. Ebenmäßig, weich und perfekt. Noch nie war ihm eine schönere Frau begegnet und Jay konnte behaupten schon so manchen fernen Ort erreicht zu haben.

Schluss damit! ermahnte er sich innerlich. Er konnte nicht zulassen, dass diese Frau ihm weiterhin im Kopf herum spukte.
Er haute mit der Faust auf das Bett. Warum musste er sie hier beschützen? Das Haus bot zu wenig Schutz. Es hatte zu viele Fenster, die keine Deckung gaben.

Die Mauer ums Grundstück würde keine Feinde draußen halten. Wenn es nach ihm ginge würde er Sanjana eigenhändig an ein Pferd binden und fortschleifen. Doch Mohan wollte nicht, dass er sie nach Dokrat brachte. Er sollte sie nur beschützen. Je nachdem was noch auf ihn zukam, würde das ein schwieriges Unterfangen werden. Erst recht, wenn sie sich weiterhin so stur gab.

Jay stand vom Bett auf. Er ging zur Ecke, wo er sein Schwert hin geworfen hatte. Er hob es vom Boden auf und schnürte es mit einem Band an seinem Gürtel fest. Dann drehte er sich im Raum. Sein Blick fiel auf den kleinen Sack mit seinen Sachen. Er griff danach, schnürte ihn auf und holte ein paar Dinge heraus.

Ein paar Stücke Pergament, ein paar Kleider, ein kleines Messer und zwei Stücke Holz zum Schnitzen. Alles landete auf seinem Bett. Er achtete immer darauf alles in diesem Sack zu haben, für den Fall, dass er schnell aufbrechen musste.

Er zog sich seinen Rock aus und wollte gerade einen anderen anziehen, als es an seiner Zimmertür klopfte. Er öffnete sie halb und erblickte eine nervöse, völlig verlegene Sanjana. Sie presste die Lippen zusammen und trat unruhig von einem Bein auf das andere.
„Was wollt Ihr?", kam es grimmiger von ihm als beabsichtigt.

Sie sah ihn an. Etwas zu lange. War es Verwirrung in ihrem Gesicht oder versuchte sie wieder in seinen Augen zu lesen? Sie druckste herum, fühlte sich in ihrer Haut offensichtlich nicht wohl und einen Moment sah es so aus, als wollte sie auf dem Absatz umkehren und verschwinden.

„Was ist?", hakte Jay nach, als sie immer noch nichts von sich gab.
Sie hob den unsicheren Blick und knibbelte an den Fingern.
„Ich...ich bin gekommen um...äh...ich wollte...."

Er musterte sie ungeduldig, dann machte er die Tür weiter auf und lehnte sich an den Türrahmen.
„Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?"
Ihr verlegenes Gesicht amüsierte ihn irgendwie. Es sah nicht so aus, als ob sie wieder Streit suchte. Sanjana erstarrte und Jay bemerkte wie ihr das Blut in die Wangen stieß.

Er hatte ganz vergessen, das er nur halb bekleidet war.
Es amüsierte ihn königlich.
Sie rang mit sich und versuchte zwanghaft nicht auf ihn zu starren.
Er schlug in einer gewohnten Bewegung die Arme übereinander, um sie noch nervöser zu machen. Er liebte es dieses Verhalten beim weiblichen Geschlecht auszulösen.

Sanjana schluckte.
„Ich wollte mich bei Euch...bedanken."
„Wofür?"
Er war verblüfft. Das hatte er nicht erwartet.
„Dafür, dass Ihr mir das Leben gerettet habt."
„Das ist meine Aufgabe. Nur wünschte ich, dass ich den Angriff früher bemerkt hätte."
„Wie denn? Niemand hätte das früher bemerken können."
„Doch...viel früher."
„Ist das möglich?"
Jay runzelte die Stirn.
„Ihr habt ja keine Ahnung."
„Major,..."
Ihr Zögern machte ihn jetzt nervös.
„Ja?"

„Wie konntet Ihr den Pfeil wahrnehmen? Und wie konnte ein einfacher Pfeil durch eine Glasscheibe dringen, die Ihr noch zuvor habt verstärken lassen? Ich habe darüber nachgedacht, aber es ergibt einfach keinen Sinn. Es gibt Dinge, die ich nicht verstehen kann. Ihr Krieger scheint Dinge zu wissen, die andere Menschen nicht wissen können."

Ihm fehlten zunächst die passenden Antworten. Sanjana rätselte, wie so viele Menschen in Tamaran, über das Geheimnis der Krieger. Niemand konnte es verstehen, der nicht das selbe intensive Training absolviert hatte oder von Natur aus das Wissen und die Fähigkeiten besaß, welche Jay die Möglichkeit gaben all diese Dinge zu vollbringen.

„Auch die Tatsache, dass ihr anscheinend immer wisst, wo ich mich aufhalte. Ram hat Tristan und Alain zurückkommen hören...oder gespürt...ich weiß nicht wie er das wissen konnte...aber er wusste von ihrer Rückkehr noch bevor sie das Haus betreten hatten."

Je mehr sie sprach, desto schneller wurde ihr Puls. Auch das konnte Jay spüren, wenn er sich darauf konzentrierte.
„Aber das Schockierendste für mich ist der Angriff gewesen. Es war als hättet ihr den Pfeil gehört, noch bevor er durchs Fenster krachte. Kann ein Mensch so gute Ohren haben?" Sanjana wurde verlegen.

„Ich habe ihn nicht gehört...aber gespürt."
„Was soll das heißen?"
„Das ist etwas aufwendig zu erklären."
„Ich bin mir sicher, ich kann Euch folgen", benutzte sie seine Worte von zuvor.

Jay verdrehte die Augen.
„Einen Moment."
Er verschwand wieder in seinem Zimmer und zog sich etwas über. Diese Unterhaltung wollte er nicht halb unbekleidet mit ihr führen. Er schloss die Tür hinter sich und führte sie in den Vorraum. Ein offener Flur, in dem ein paar Schränke und Sitzgelegenheiten standen. Hübsch eingerichtet und gemütlich. Hier und da stand eine Vase mit Blumen bestückt. Wenige Bilder zierten den Raum und die Fenster wurden von gemusterten Gobelins verkleidet.

Jay setzte sich ihr gegenüber in den einzigen karierten Sessel, der gut von einem Bauernhof hätte stammen können.
„Also?", fragte Sanjana ungeduldig.
„Es ist nur allzu verständlich, dass Ihr es verstehen wollt. Immerhin sind normale Menschen nicht dazu in der Lage solche Dinge zu tun. Nicht einmal alle Krieger können das."
„Was zu tun?"

„Es ist nur den Kriegern vorbehalten. Eine Fähigkeit, die es uns ermöglicht unsere Feinde aufzuspüren, selbst wenn sie sich nicht in der Nähe befinden."
„Eine Fähigkeit?"

„Ja. Es nennt sich Channa. Es ist eine Art Energie, die sich in uns befindet. Jeder Mensch besitzt das Channa. Doch nur Krieger können es richtig wahrnehmen und auch benutzen."
„Ich kann mir nicht vorstellen, das ich so etwas in mir besitze."
„Weil Ihr es nicht trainiert habt, aber es ist da. Hattet Ihr jemals das Gefühl beobachtet zu werden? Hattet ihr mal eine Art Vorahnung? Ihr wusstet etwas, bevor es passiert ist? All das sind Zeichen des Channa."

„Ich habe das immer als einen Zufall abgetan."
„Ich glaube nicht an Zufälle. Nicht mehr."
„Und das Channa ist was genau?"
„Wie gesagt, es ist Energie. Man kann sie nicht messen, noch sehen. Aber man kann sie spüren. Sie fließt durch unseren gesamten Körper, hält uns am Leben, macht uns empfindsam. Aber Krieger benutzen es auf einer so hohen Ebene, dass es schon fast gefährlich ist."
„In wie fern?"

„Das Channa ist schwierig zu erlernen. Und nur Krieger wissen, wie man es anwendet. Doch gibt es sehr, sehr wenige, die es beherrschen. Nur die Besten und selbst die haben manchmal große Probleme damit. Denn es ist gefährlich. Manch einer ist damit schon verrückt geworden, hat sich selbst im inneren Chaos verloren."

Sanjana machte große Augen. Zugegeben, das klang unglaubwürdig. Aber Jay sagte es völlig ernst. Er nahm sich die Zeit es ihr in Ruhe zu erklären.

„Das Channa ermöglicht es mir zum Beispiel meine Umgebung im Auge zu behalten. Ich kann in einem gewissen Radius alles wahrnehmen. So kann ich Feinde wahrnehmen, die versuchen sich heranzuschleichen. Ich kann sie nicht hören, weiß auch nicht was sie denken oder fühlen. Aber ich kann wissen, wo sie sind und was sie machen. Normalerweise bedarf es mich keiner hohen Konzentration dafür, im Gegensatz zu anderen. Andere müssen sich darauf konzentrieren ihre Umgebung zu beobachten. Ich muss das nicht."

„Ihr wisst also immer, was in Eurer Nähe passiert?"
Er nickte schwach.
„Das erklärt auch, warum ihr den Pfeil rechtzeitig gespürt habt."
„Ich hätte ihn sogar noch früher bemerken müssen, aber der Feind wusste genau, wie er mich verwirren konnte", meinte er nur flüchtig, damit er ihr den wahren Grund für seine mangelnde Konzentration nicht Preis geben musste.
Wenn Sanjana der Feind wäre...wäre er wohl verloren.

„Leider gibt es immer wieder Menschen, die von dem Channa erfahren und es sich leicht machen uns auszutricksen", fuhr er nach einem leisen Räuspern fort. „Wer auch immer den Pfeil geschossen hat, wusste vom Channa. Er wusste von meiner Anwesenheit. Außerdem hat er den Pfeil aus einem besonderen Holz der Silbereiche gemacht. Es ist besonders robust. Deshalb konnte der Pfeil durchs Fenster dringen. Kaum vorstellbar, wie sehr er jemanden hätte verletzen können."

Einen langen Moment herrschte Stille. Anscheinend dachte sie über seine Worte nach. Ihre Miene war undurchdringlich. Was mochte sie von ihm denken? Fürchtete sie sich nun vor ihm oder fühlte sie sich sicherer? Jay zweifelte eine Sekunde, ob es richtig war, ihr vom Channa zu erzählen.

„Ihr wisst also ständig und überall, was in Eurer unmittelbaren Umgebung passiert...und selbst darüber hinaus?"
Ein erneutes Nicken von ihm. Ja, er hatte sie verschreckt. Ihre ganze Ausstrahlung machte das deutlich. Er spürte einen Stich in der Brust.

„Wenn Ihr also...vor meinen Gemächern steht..."
Sanjana brachte den Satz nicht zu Ende. Einen Moment war Jay schockiert. Dann wich die Verblüffung ehrlicher Belustigung, weil sie ausgerechnet daran dachte. Ihr Grundgedanke war zwar nicht falsch, aber warum malte sie sich ausgerechnet solch ein Szenario aus?

Er musste lachen - Schon wieder - Zweimal an einem Tag. Bemerkenswert.
Sanjana wirkte fast gekränkt und er zwang sich ernst zu bleiben, worin er absolut versagte.

„Ich finde es erstaunlich, dass Euch gerade das in den Sinn kommt. Aber Ihr denkt vom Prinzip her richtig. Es wäre ein leichtes für mich, zu wissen, was Ihr hinter verschlossener Tür tut. Wände und Türen halten das Channa nicht draußen."

Wieder wurde sie rot. So rot, dass Jay sich ein erneutes Lachen unterdrücken musste. Mit zunehmender Schwierigkeit.
„Keine Sorge, so viel Respekt habe ich dann doch vor Eurer Privatsphäre", erklärte er schalkhaft.
Sie konnte ihm das unmöglich abkaufen.

„Selbst wenn nicht. Ich habe nichts zu verbergen."
Immer noch errötet und halb trotzig stand sie auf, wagte nicht ihn anzusehen.
„Ich versichere Euch, es würde mir im Traum nicht einfallen. Aber zumindest wisst Ihr jetzt, welche Fähigkeiten ich besitze und dass ich Euch durchaus beschützen kann."

„Ja, das...erklärt so einiges, Major Mathur."
Er seufzte.
„Könnt Ihr mir jetzt mehr vertrauen?"
Sie wandte ihm den Rücken zu und einen elend langen Moment schien sie sich die Antwort genau zu überlegen.

„Ich kann Euch vertrauen."
Erleichterung breitete sich in ihm aus.
„Kann ich Euch denn auch vertrauen, Senatorin Kinjan?"
„Ja."
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Das eine Wort kam ehrlich aus ihrem Herzen.
„Da wäre noch etwas, Major."
Sie sah ihn wieder an.
„Ich bekomme morgen Besuch. Vor ein paar Wochen hat eine Freundin ihren Besuch angekündigt. Ich habe ihr damals zugesagt."

„Eine Freundin?"
„Mehr eine Bekannte", korrigierte die schnell.
„Sie gehört zu einer der angesehensten Familien in Namalia. Ich habe ihr einmal einen Gefallen getan und seit dem besucht sie mich regelmäßig. Sie wird ein paar Stunden zum Tee bleiben. Ich weiß, dass es besser wäre sie fortzuschicken aufgrund der jüngsten Ereignisse, doch ist sie eine meiner stärkten Anhänger und Fürsprecher. Ich kann mir nicht leisten sie zu verlieren. Es wäre äußerst unhöflich sie nicht zu empfangen. Meint Ihr es wäre möglich?"

„Ich denke nicht, dass es ein größeres Problem darstellen sollte sie zu empfangen. Ihr seid immerhin die Senatorin von Namalia und müsst gewisse Kontakte pflegen, um Euren Ruf und Eure Stellung zu waren."
„Ich danke Euch für Euer Verständnis."
„Selbstverständlich."
Jay neigte höflich den Kopf nach unten. Sie knickste ebenfalls kurz und verließ dann ohne einen Abschiedsgruß das Gästehaus.

Jay spürte, wie sich ein großer Knoten in seinem Hals löste. Sie hatte ihn verstanden. Und er hatte das Gefühl von nun an würde einiges anders werden.



~



Die kleine zierliche Person nahm die Hand ihres Dieners, der ihr aus der Kutsche half. Er war noch kleiner, als die elegante Dame und trug alte, abgetragene Kleider. Sein krauses Haar war mit einem Hut bedeckt, sein Gesicht war schmutzig und sein Blick richtete sich stets gen Boden.

Sie hingegen trug ein schimmerndes gelbes Kleid, dass Sanjana eher an überreifen Käse erinnerte. Ihre dünnen Handgelenke waren mit weißen Spitzenhandschuhen geschützt. Schnell ließ sie die Hand des Kutschers los. Als wollte sie ihn nicht länger als nötig anfassen.

In der anderen Hand hielt sie einen weißen Fächer mit einem feinen Muster darauf. Ihr braunes Haar war elegant hochgesteckt und von einer glitzernden Spange verziert. Um ihren Hals trug sie eine ebenso blinkende Kette, deren Wert Sanjana nicht einmal zu schätzen vermochte.

Als sie Sanjana erblickte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihren schmalen Lippen aus und ihre kastanienbraunen Augen funkelten. Sanjana wollte sie eigentlich nicht treffen. Ihre Persönlichkeit war immer anstrengend. Allerdings konnte Sanjana sie keinesfalls ignorieren.

Also zwang sie sich ebenfalls herzhaft zu lächeln. Ein gekonnt aufgesetztes Lächeln. Sie schlüpfte in ihre allzu bekannte Rolle der Senatorin Kinjan. Die Damen knicksten höflich voreinander. Anschließend führte Sanjana ihren Gast ins Haus. Sie führte sie in ihren kleinen Salon, indem sie ihre Gäste stets zu empfangen pflegte. Rote Wände mit weißer Sockelleiste, weiße Gobelins, eine Garnitur aus weißen Ledersesseln zierten den Raum.

Zwischen ihnen stand ein kleiner, ebenfalls weißer Tisch, auf dem Tee serviert worden war. Der Boden war mit weißem Marmor gefliest. Wieder musste sie sich die gleichen Komplimente über ihr Haus, über ihre Kleider und den edlen Empfang anhören. Immer wieder das gleiche Gehabe. Eine sich ewig wiederholende Prozedur. Die Dame war stets selbst auf der Suche nach Komplimenten und war sich deshalb nicht zu schade selbst so viele auszusprechen.

Die Frauen nahmen sich gegenüber in den Sesseln platz. Jay und Tristan leisteten ihnen Gesellschaft. Tristan entfernte sich etwas weiter und stellte sich neben das Fenster. Jay hielt sich allerdings in Sanjanas Nähe auf. Schräg hinter ihr blieb er stehen und wurde zur schweigsamen Statue. Irgendwie beruhigte es Sanjana. Nicht, weil die Krieger sie beschützten. Es gab ihr mehr das Gefühl nicht allein zu sein. Es lag ein Kampf vor ihr. Ein Kampf sich für einige Stunden zu verstellen und sich das elend langweilige Geschwätz dieser piekfeinen Lady anzuhören.

Doch mit der Anwesenheit der Krieger hatte sie das Gefühl nicht alleine in die Schlacht zu ziehen.
„Sagt, Lady Clare, ich hoffe Euch und der Familie Kleymond geht es gut. Seit Eurem letzten Besuch ist sehr viel Zeit verstrichen."

Lady Clare Kleymond war eine geachtete Frau und legte sehr viel Wert auf gutes Benehmen. Zwar war sie nur zwei Jahre älter als Sanjana, gab sich aber schon wie mindestens fünfzig. Sie saß auf der kante ihres Sessels und nippte vorsichtig an ihrem Tee, den Sanjanas Dienerin zuvor serviert hatte. Langsam stellte sie die Tasse zurück aufs Tablett und schenkte Sanjana dann ein elegantes Lächeln, wobei sich strahlend weiße Zähne zeigten.

Ihr rundes Gesicht war klein, aber eher nichtssagenden und plump. Mit Schminke versuchte sie die kaum vorhandenen Spuren ihrer Lebensjahre zu vertuschen. Ihre Augen schienen stets auf der Suche nach etwas Außergewöhnlichem, nach Herausforderung und Ablenkung.

Es sprach eine gewisse Eleganz aus ihr, die sie einfach nicht ablegen konnte. Trotzdem mischte sich etwas Neid unter den bewundernden Ausdruck ihrer Augen.
Dabei hatte sie das nicht nötig. Sie war trotz der unterschiedlichen Fassetten recht hübsch und wohlhabend noch dazu.

„Ja sehr gut, danke", antwortete Lady Clare mit weicher Stimme.
„Die kleine Mary ist voller Tatendrang und freut sich schon im nächsten Frühjahr die öffentliche Schulde besuchen zu dürfen. Bisher hat mein Mann ihr ja immer einen Privatlehrer gegönnt. Er findet aber, dass jetzt langsam damit Schluss sein soll. Sie erfreuen sich beide bester Gesundheit. Ich soll Euch ihre Grüße und Empfehlungen ausrichten."

Es wunderte Sanjana nicht, dass sich Lady Clare nicht nach ihrem Wohlergehen erkundigte. Die halbe Welt drehte sich nur um sie selbst. Aus Höflichkeit hatte Sanjana auch nach Lady Clares Mann Gelen und ihrer Tochter Marilyn gefragt, die von ihrer Mutter immer nur liebevoll Mary genannt wurde.
Man sah es nur flüchtig, wenn sie sich vorbeugte...das winzige Röllchen von Bauchfett, welches Clare seit der Schwangerschaft nicht mehr losgeworden war.

„Das freut mich zu hören. Erwidert ihnen meine Grüße, wenn Ihr sie wieder seht."
„Das wird noch eine Weile dauern. Sie wollen den Winter über in Farhaven verbringen. Ihr wisst, wir haben dort Bekannte und angesichts der Unruhen in Tamaran ist es das Beste, was sie tun können. Jerome und ich überlegen sie vielleicht später dort zu besuchen."
Jerome war Lady Clares jüngerer Bruder. Ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann.

„Werdet Ihr den ganzen Winter über in Namalia bleiben, Mylady? Oder kehrt ihr nach Bozom zurück?"
„Ehrlich gesagt, kann ich Eure Frage nicht genau beantworten. Fürs Erste habe ich aber keine Pläne den Senat zu besuchen."
„Wirklich nicht?"
Lady Clare stutzte.

„Kann sich der Senat erlauben auf Eure wertvolle Anwesenheit zu verzichten? Erst recht in diesen unruhigen Zeiten. Ihr müsst etwas unternehmen, sonst sehe ich die Saboraner schon demnächst in unser Land einfallen."

Sanjana schluckte. Von allen Themen musste Lady Clare ausgerechnet den Krieg ansprechen und das noch in der Gegenwart von Kriegern. Außerdem war es nicht so, dass sie als einzelne Person die Macht hätte den Krieg mit Saboran zu verhindern.

„Ich denke nicht das meine Anwesenheit im Senat noch irgendetwas an der Kriegssituation ändern kann. Die Saboraner wollen nach wie vor unser Land erobern. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es so weit ist. Jetzt liegt es an Dokrat mit der Situation umzugehen."

„Ganz Recht", erwiderte Lady Clare. Ihr Blick wanderte für einen Moment zu Jay.
„Wie ich sehe habt Ihr selbst einige Krieger in Euren Diensten. Daraus schließe ich, dass Ihr auch einen baldigen Kriegsbeginn befürchtet."

Ihr neidvoller Unterton war nicht zu überhören.
„Nein. Der Krieg herrscht schon seit Jahrzehnten zwischen Tamaran und Saboran. Nur hat es lange keine Schlachten mehr gegeben. Seit dem wir die Saboraner erfolgreich zurück gedrängt haben. Und diese Krieger stehen nicht in meinen persönlichen Diensten. Sie sind auf Befehl Dokrats hier her gesandt worden. Zu meiner und Namalias Sicherheit."

„Ich verstehe."
Lady Clare versuchte ihre offenkundige Begeisterung zu zügeln, nahm erneut einen Schluck Tee und setzte sich dann wieder aufrecht.

„Ich könnte mir nicht vorstellen Krieger um mich herum zu haben. Von meiner Familie werden sie schon seit langem respektiert. Aber sagt, fühlt ihr Euch in ihrer Gegenwart überhaupt wohl?"

Sanjana schwitzte. Diese Frau konnte auch nur falsche Themen ansprechen. Ihr Blick wanderte kurz zu Jay. Was er wohl denken
mochte? Seine Miene blieb regungslos und er starrte unbeirrt geradeaus. Er stand ganz ruhig da, die Hände hinter seinem Rücken, als wäre er eine Puppe. Auch Tristan regte sich nicht.
Faszinierend, wie diese Krieger sich so sehr verstellen konnten. Es erstaunte und beunruhigte sie jedes Mal.

„Warum sollte ich mich denn nicht wohl fühlen?"
„Naja sie sind zwar anwesend, aber irgendwie auch nicht. Er steht einfach da, regungslos und unbeteiligt, obwohl er genau weiß, dass wir über ihn reden."
Auch wenn Lady Clare ihre Stimme senkte konnte man sie noch deutlich verstehen. Mit der offenen Hand hatte sie auf den Mann gedeutet, der bei dieser Geste nicht einmal mit der Wimper zuckte. „Ich finde das... unheimlich."

Wieder wanderte Lady Clares Blick zu Jay und sie musterte ihn einen Moment von oben bis unten. Dann beugte sie sich vor und flüsterte Sanjana ins Ohr - nicht leise genug, als dass er es nicht verstanden hätte: „Atmet er überhaupt?"

Sanjana verkniff sich ein Schmunzeln, sah aber dann auch zu Jay. Er stand so ruhig, dass man wirklich annehmen konnte, er hielt die Luft an. Doch sie wusste es besser. Auch Tristan schien erstarrt zu sein. Sanjana hätte jetzt jeden Preis gezahlt, um die Gedanken der Krieger lesen zu können.

„Man munkelt ja so einiges über Dokrats Krieger. Ich selbst würde gerne auch nur einen in meinen persönlichen Dienst stellen. Nur leider sind sie allein Dokrat unterstellt und auch nicht bestechlich."

„Lady Clare, da klingt fast so als hättet ihr schon versucht einen Krieger zu bestechen", stellte Sanjana schockiert fest.
Lady Clare lächelte leicht verlegen und senkte beschämend den Blick.
„Einmal. Ich wurde eiskalt zurückgewiesen. Es stimmt, ein Krieger Dokrats kennt nur seine Ehre und Pflicht seinem Land gegenüber. Faszinierend und beängstigend zugleich, findet Ihr nicht?"

Sanjana antwortete nicht. So ergriff Lady Clare wieder das Wort.
„Man munkelt sogar, dass ein einziger Krieger es mit fünfzig Gegnern aufnehmen kann."
Jetzt machte Sanjanas große Augen. Sie wandte sich erneut zu Jay, der immer noch regungslos neben ihr stand.

„Ist das wahr, Major? Könnt Ihr es mit fünfzig Mann aufnehmen?", richtete sie die Frage direkt an ihn, in der Hoffnung eine Antwort zu bekommen. Und tatsächlich rührte sich Jay aus seiner starren Haltung. Er sah sie lächelnd an und sagte mit höflicher Stimme:
„Fünfzig wäre etwas übertrieben. Aber fünfzehn bis zwanzig durchaus."

Sanjana Augen wurden noch größer. Ebenso wie die von Lady Clare. Sie tauschten flüchtige Blicke aus.
„Allerdings reden wir hier über einfache Soldaten", fuhr Jay fort, „Wenn ich jemanden mit ähnlicher Kraft und Ausdauer wie der
meinen gegenüber stehen würde, hätte ich deutlich mehr Schwierigkeiten."

„Seid Ihr wirklich so gut?", wollte Lady Clare wissen.
Er wartete einen Moment bis er die Frage beantwortete.
„Ich würde Euch bei nächster Gelegenheit gerne das Maßnehmen überlassen."

Sanjana bemerkte wie Jay sich ein Grinsen verkneifen musste. Lady Clare verschluckte sich, lief hoch rot an und wagte darauf hin nicht mehr Jay anzusprechen. Normaler Weise hätte Sanjana Jay für diese taktlose Bemerkung verflucht, aber genau in diesem Moment vergötterte sie ihn dafür.

Zu lange wollte sie das verlegene Gesicht der Lady sehen, allein schon um Abwechslung ins Gespräch zu bringen, konnte sich aber nicht erlauben, das Gesicht zu verlieren. Zudem hatte er ja eigentlich nichts schlimmes gesagt. Wenn Lady Clare seine Bemerkung zweideutig verstand, war das von ihm zwar provoziert, aber er hatte sich nicht blamiert. Sie hatte sich mit ihrer Frage blamiert. Sanjana war sich sicher, dass Lady Clare seiner Aufforderung weder im einen noch im andern Sinne nachkommen wollte.

„Da fällt mir ein, Lady Kinjan, habt ihr etwas von der kleinen Ally gehört? Ihre Familie steht ja in den Diensten meiner Familie. Ich weiß, dass Ihr ein gutes Verhältnis zu dem Mädchen
und ihrer Familie habt."

„Nein, in letzter Zeit nicht."
„Bedauerlich. Es ist nämlich so, dass ich seit zwei Wochen auf ihre Rückkehr warte. Sie hatte sich frei genommen, um ihrer kranken Mutter zu helfen, ist aber bis jetzt nicht zurück gekommen. Ich dachte Ihr wüsstet vielleicht etwas, da Ihr doch sonst so gut über die Leute informiert seid."
„In diesem Fall leider nicht. Ich könnte ihr aber einen Besuch abstatten und herausfinden warum sie noch nicht wieder im Dienst ist."

„Ach wie reizend Euer Angebot ist, aber kann ich doch so etwas nicht von Euch verlangen."
„Warum denn nicht? Ich scheue mich nicht davor bei einer Familie von niederem Stand aufzutauchen. Es sind genauso Menschen wie wir."

Lady Clare sagte nur: „Ich verstehe."
Ihre Augen blieben allerdings unberührt. Eine Frau wie sie, ließ sich niemals mit einfachen Leuten ein und konnte Sanjanas Beziehungen zu ihnen nicht verstehen.
„Dann würde ich mich freuen, wenn Ihr so freundlich wäret."

Jay räusperte sich leise. Sanjana wurde nervös. Fast hätte sie den Grund für seine Anwesenheit vergessen. Während Lady Clare sein Räuspern als etwas ganz normales, beiläufiges wahrnahm, wusste Sanjana, dass es viel mehr zu bedeuten hatte.

Jay hatte die ganze Zeit keinen Muskel gerührt und keinen Laut von sich gegeben. Es sei denn sie hatte ihn persönlich angesprochen. Ausgerechnet jetzt soll er sich zufällig geräuspert haben?
Unmöglich.

Eine halbe Kopfdrehung in seine Richtung bestätigte Sanjana ihren Gedanken. Er sah zu ihr. Und mit einem Nicken erklärte sie, dass sie ihn verstanden hatte.
„Gibt es ein Problem, Mylady?"
Sanjana schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder Lady Clare und schüttelte den Kopf.
„Nein. Kein Problem."

Für den restlichen Mittag redete Lady Clare über unwichtige Dinge. Zu Sanjanas Erleichterung kamen keine brisanten Themen mehr und sie entspannte sich, so gut sie das eben in Lady Clares Gegenwart konnte.

Dann endlich verabschiedete sich Lady Clare, stieg in ihre hochwertige Kutsche und fuhr davon. Sobald das Tor sich geschlossen hatte, atmete Sanjana deutlich aus. Sie stand immer noch auf den Stufen vor der Eingangstür und sah wie die Kutsche sich entfernte. Als sie ein leises Kichern hinter sich vernahm schnellte sie herum.
„Eine sehr interessante Frau", bemerkte Jay grinsend.
„Tatsächlich?", Sanjana wusste, dass er es sarkastisch meinte.

„Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass ihr Besuch Euch zur Last fiel."
„Dafür braucht man kein Channa, um das zu bemerken."
Sie wandte sich ab und ging ins Haus. Jay folgte ihr. Drinnen wartete Tristan mit einigem Abstand.
„Ihr habt Euch aber tapfer geschlagen."
„Ach nein, ich war lächerlich."
„Ich finde ihr habt Eure Rolle überzeugend gespielt."

„Danke."
Sanjana hatte den Endruck er machte sich lustig über sie.
„Aber auf eines muss ich Euch ansprechen", sagte Jay nun wieder ernst.
„Ich weiß. Ich habe zu voreilig gesprochen, was mein Besuch bei dieser Familie betrifft. Ist es denn möglich, dass ich dort hin
gehe?"

„Das fragt Ihr mich jetzt? Ihr habt doch schon längst zugesagt, ohne mit mir vorher gesprochen zu haben. Würde ich Euch nun davon abhalten zu gehen, könnte das Euer Ansehen bei beiden Familien gefährden. Ich soll Euch beschützen, nicht Eurem Ruf schaden."

„Ich weiß. Es tut mir auch leid, dass ich so voreilig gesprochen habe."
„Schon gut. Ich darf Euch nur daran erinnern, dass Ihr nicht allein gehen dürft. Wo auch immer Ihr hingeht..."
„...Ihr werdet an meiner Seite sein, ich weiß, Major."
Sanjana beendete den Satz für ihn und schmunzelte verzückt.
„Ja genau."

„Gut." Sie wandte sich zu seinem Freund. „Kommt Ihr auch mit, Tristan?", fragte sie den Krieger fröhlich.

Er schien erst verwirrt, antwortete dann aber: „Wenn ihr es wünscht?"
„Ich erwarte es. Auch Ram und Alain sollen mich begleiten. Man weiß ja nie, was dort draußen passiert."
„Ich habe die beiden heute morgen weg geschickt, um die nähere Umgebung um Namalia auszukundschaften. Ich will nicht schon wieder einen Überraschungsangriff erleben."

„Oh, na dann nur ihr zwei", folgerte sie fügsam. „Ich will noch heute dort hin. Mich beunruhigen Lady Clares Worte. Je schneller ich zu der Familie komme, desto besser. Ich ziehe mich nur noch um und sage Sama Bescheid. Dann können wir los."
„Soll uns recht sein", erwiderte Tristan.

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