Sechs

Die schwere Eisentür quietschte, als Jeremy seine knochigen Hände dagegen drückten und er kurz darauf die Halle betrat. Sie war mit mehreren Feuerstellen versehen, in denen warme Flammen brannten und die steinernen Wände beleuchteten.

Es gab nur zwei kleine Fenster, durch die nicht sonderlich viel Licht in das alte Gemäuer drang.
Zerrissene Fahnen mit lang vergessenen Wappen hingen an den schweren Deckenbalken. Ein paar Wächter standen an den Wänden ringsum. Sie sahen träge und gelangweilt aus.

Im hinteren Teil der Halle stand ein länglicher Holztisch, an dem zehn Stühle verteilt waren. Darauf befanden sich Karten und allerhand Schriftrollen sowie drei rostige Kerzenleuchter mit jeweils sechs brennenden Kerzen.

Am Ende der Tafel saß ein großer, stämmiger Mann. Er glich einem ruhenden Bären von der Statur. Grob und kräftig gebaut. Dicke Arme, starke Oberschenkel und Stiefel so groß wie die Beine eines Elefanten.

Seine eisblauen Augen folgten Jeremy, als er näher an die Tafel trat. Er saß schräg, seinen Kopf mit dem rechten Arm auf der Lehne abgestützt. Der linke ruhte auf der anderen Lehne. Nach Jeremys kurzer Verbeugung richtete der Mann sich im Stuhl auf. Wobei seine krausen pechschwarzen Haare wackelten.

„Ich habe dich erwartet, Jeremy."
„Ich weiß, mein Herr. Verzeiht, dass ich Euch warten ließ. Ich bringe gute Kunde."
„Sprich, was hast du zu melden?"
„Sie sind tatsächlich nach Namalia geritten, wie Ihr es voraus gesagt hattet, mein Meister."

Jeremys Meister brachte nur ein nachdenkliches Brummen hervor und machte ein höchst zufriedenes Gesicht. Nach einem Augenblick des Schweigens meinte er dann: „Konntest du heraus finden, wie lange die Krieger sich dort aufhalten werden?"

„Nein. Ich habe sie nur unterwegs beschatten können. Je näher sie der Stadt kamen, desto schwieriger wurde es sie zu verfolgen. Ich wurde nicht von Major Mathur entdeckt, auch wenn ich mir sicher bin, dass er meine Gegenwart überall wahrnehmen kann."

„Offenbar nicht, sonst wärst du jetzt nicht hier."
„Es war offenes Gelände, Meister. Da ist es leicht jemandem auf hoher Distanz zu folgen. Ich bin nur ihren Spuren gefolgt. Aber
durch den Wald hätte ich meine Distanz reduzieren müssen und wäre mit Sicherheit entdeckt worden."

„Na schön, wie dem auch sei. Nun da klar ist, das Major Mathur in Namalia ist, können wir wie geplant weiter verfahren."
Jeremy freute diese Nachricht sehr. Auf seinem Gesicht bildetet sich ein grimmiges Lächeln.

„Dann werde ich alle Vorbereitungen treffen."
Jeremy verneigte sich erneut.
„Tu das...und Jeremy..."
Der Mann funkelte Jeremy mit einer solchen Boshaftigkeit an, das ihm das Blut in den Adern gefror. Er liebte dieses eiskalte Funkeln.

„Ich dulde keine Fehler. Du weißt was ich möchte. Und sei auf der Hut vor seinen Fähigkeiten. Ich kann nicht mehr länger ertragen, dass Jay uns Ärger damit macht und uns zuvor kommt. Ich will ihn vernichten! Hast du verstanden?"

Er verlieh seinen letzten Worten einen besonders scharfen Ton.
„Selbstverständlich, Herr. Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Major Mathur wird euch bald schon nicht mehr belästigen."
Es war ein finsteres Versprechen, welches Jeremy seinem Meister gern gab, doch allzu gern.



~




Seit einer Woche klagte Sanjana schon über die Anwesenheit ihrer Beschützer. Warum kümmerte sich ihr Vater gerade jetzt um ihr Wohlergehen? Es hatte ihn Jahre lang nicht gekümmert. Doch nun schickte er ihr diese dressierten Wachhunde.

Ja so erschienen sie ihr. Was sonst waren tamaranische Krieger? Jeder wusste das. Selbst Sama konnte das ihr gegenüber nicht leugnen, als sie allein darüber gesprochen hatten. Doch Sama hatte Sanjanas Klage nur mit einem Lächeln abgetan und nicht weiter ernst genommen. Klar, sie hatte nichts gegen die Krieger. Im Gegenteil.

Mittlerweile hatte es Sanjana aufgegeben sich zu beklagen. Es hatte keinen Zweck. Was auch immer sie versuchte, um den Kriegern aus dem Weg zu gehen, sie waren einfach immer überall.

Besonders Jay. Ja es nervte und frustrierte sie zutiefst, dass er immer in ihrer Nähe war. Selbst, als sie sich versucht hatte hinaus zu schleichen, ganz in der Frühe.
Er hatte es irgendwie bemerkt und sie gerade noch rechtzeitig daran gehindert das Tor zu passieren.

Leise war sie die hellen Stufen der Villa hinunter geschlichen. Immer wieder hatte sie sich umgeschaut und niemanden entdeckt. Weder in der Villa noch im Gästehaus hatte Licht gebrannt. Die einzige Lichtquelle war die aufgehende Sonne, die das rote Dach des Hauses in ein grelles Orange tauchte und die Ranken an der Hauswand seltsam fremdländisch aussehen ließ. Sie wirkten fast wie Schlangen, die sich an der hellen Fassade entlang wanden.

Ganz plötzlich hatte sie jemand am Arm gepackt und ein paar Schritte zurück gezogen, was Sanjana so sehr erschreckt hatte, dass sie beinahe über ihren dunklen Umhang gestolpert wäre. Wie aus dem Nichts war er hinter ihr aufgetaucht.

„Was um alles in der Welt soll das werden?", hatte Jay böse gefragt und sein Blick war so finster gewesen, dass es Sanjana schlecht geworden war.
„Ich wollte nur..."
Sie war nicht zu einer Antwort gekommen, denn er hatte sie regelrecht nieder gestarrt, sodass ihr die Worte im Hals stecken geblieben waren.

„Was?", hatte er immer noch nicht besänftigt gefragt. Sein Ton wollte nach einer verdammt guten Erklärung verlangen.
„Ihr sehnt Euch wohl nach Schwierigkeiten."
„Natürlich nicht!", hatte sie entschlossen erwidert.
„Was denkt Ihr Euch dann dabei?"
„Ich wollte nicht weit gehen."
„Wie weit auch immer Ihr gehen wolltet, interessiert mich nicht. Ich bin Euer Leibwächter. Wollt Ihr das denn immer noch nicht akzeptieren?"

„Ich bin keineswegs völlig hilflos, Major Mathur. Wollt Ihr das denn nicht akzeptieren?"
„Nur weil Ihr Euch zu verteidigen wisst und ich Euren Aufenthalt innerhalb der gesamten Stadt bestimmen kann, heißt das noch lange nicht, das Ihr von meiner Seite weichen solltet."

Was hatte er nur damit gemeint, er könne ihren Aufenthalt innerhalb der gesamten Stadt bestimmen? Ging das überhaupt, wenn er nicht bei ihr war?
„Heißt das, ich darf ohne Euch nirgends hingehen?", hatte sie genervt als Antwort gefaucht.
„Ja genau."

Sanjana hatte darauf noch etwas sagen wollen, gab aber schließlich auf. Es hätte eine endlose Debatte gegeben, wenn sie weiter gesprochen hätte. Stattdessen war sie auf dem Absatz umgekehrt und ins Haus zurück gestapft.

Ohne weiter auf ihn zu achten, hatte sie sich in ihren Gemächern verschanzt.
Seitdem verließ sie ihre Räumlichkeiten immer seltener, zog es sogar manchmal vor die Mahlzeiten dort einzunehmen. Die Einzige, die sie herein ließ, war Sama. Doch auch Sama ließ sich immer seltener blicken. Sie verbrachte anscheinend gerne Zeit mit den Kriegern, sehr zu Sanjanas Verzweiflung. Sie kam sich vor wie eine Gefangene - in ihrem eigenen Haus.

Sanjana vertrieb sich die Zeit mit ihren Studien. Auch das half nichts. Irgendwann gab sie das Schmollen auf und beschloss ihre Gemächer zu verlassen.

Ein rascher Blick über die Schulter und aus dem Fenster verriet, dass es draußen bereits dunkel war. Hatte sie etwa den ganzen Tag gearbeitet? Fragte sie sich selbst verwundert anhand der Tatsache, dass die Zeit so schnell verstrichen war.

Sie rechnete damit, dass sie den Kriegern in der Halle begegnen würde. Na was soll's redete sie sich Mut zu. Doch machte sie einen tiefen Atemzug bevor sie die Tür öffnete.

Fast wäre sie wieder umgekehrt. Wie erstarrt blieb sie mitten auf der Türschwelle stehen. Sie hatte ja mit vielem gerechnet aber nicht damit, dass Jay direkt vor ihren Gemächern stand. Hätte sie aber lieber tun sollen. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass er das tat.

Lässig war er mit dem Rücken an die Wand ihr gegenüber gelehnt. So oft hatte sie ihn in der üblichen Haltung gesehen. Arme vor der Brust verschränkt, ein Bein leicht angewinkelt und ausdrucksloser Miene. War er gelangweilt?

Oder schmollte er noch immer wegen ihres Ausbruchs? Vermutlich letzteres. Kein Wunder, dass er sie nicht mehr aus den Augen ließ. Doch ihr reichte es langsam.
„Das ist jetzt aber zu viel, Major."
Sanjana fand ihre Fassung wieder und ihr Blick verfinsterte sich. Er war wirklich überall.
„Was meint Ihr, Mylady?", kam es von ihm mit einem gewaltigen Desinteresse. Er sah sie nicht einmal an und reizte sie damit noch mehr.
„Ihr lasst mir kein bisschen Privatsphäre. Müsst Ihr denn immer direkt vor meinen Gemächern stehen?"

„Wenn ich Euch keine Privatsphäre lassen würde, stände ich nicht davor, sondern in Euren Gemächern...und dann würde ich Dinge mit Euch anstellen, die das Wort Privatsphäre ganz anders definieren."

Seine Stimme klang immer noch gelangweilt, doch Sanjana trieben seine Worte die Röte auf die Wangen. Konnte er sich solche Anspielungen nicht einfach verkneifen? Als würde er sie auch nur eines Blickes würdigen. Als hätte er irgendein Interesse an ihr. Dieser falsche Krieger. Er konnte mit solchen Gefühlen und Worten gar nichts anfangen.
So ein Heuchler!

Er legte die linke Hand lässig auf sein Schwert und wandte das Gesicht zur Seite. Er blickte in den Flur, als würde sie neben ihm und nicht direkt vor ihm stehen.
„So weit kommt es noch."
Empört machte sie einen Schritt nach vorne, wollte dass er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte und nicht dem Flur.

„Meint Ihr?"
Seine Frage ließ sie stutzen und er warf ihr ein hämisches Lächeln zu. Dann wandte er den Kopf wieder in Richtung Flur.
„Es scheint Euch großes Vergnügen zu bereiten mich zur Weißglut zu treiben."
„Nicht im Geringsten."
Aus ihm sprach die pure Ironie.
„Warum erspart Ihr mir dann nicht diese Farce?", brachte sie ihm, ungeachtet der Ironie entgegen.

„Ich will es Euch nur leicht machen."
Nun drehte er sein Gesicht zu ihr, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen. Jedoch war sein Blick scharf. Und noch etwas anderes war in seinen Augen zu erkennen, Sanjana wusste es aber nicht einzuordnen.

„In wie fern macht Ihr es mir leicht? Mir ist da wohl entschieden was entgangen."
„Ich mache es Euch leicht mich zu hassen, denn das tut ihr offensichtlich schon. Also gebe ich mir keine weitere Mühe Eure Meinung über mich positiv zu steigern."

Sanjana schluckte und starrte ihn fassungslos an. Hatte er das gerade wirklich gesagt?
Jay bewegte sich auf sie zu.
„Euer Misstrauen und Eure Abneigung sind nur allzu deutlich. Mir ist es nur ein Rätsel warum Ihr mich so sehr hasst. Liegt es an der Verbindung zu Eurem Vater? Daran, dass ich ein Krieger bin? Oder gibt es noch weitere Gründe, die Euer Verhalten erklären können?"

Mit seinen grauen Augen betrachtete er sie lange. Sanjana legte sich tausend Ausreden im Kopf zurecht. Dann aber senkte sie verlegen den Kopf.
„Ich hasse Euch nicht."
Ihre Worte waren fast zu leise gesprochen.

„Wirklich nicht?", hakte er misstrauisch nach.
Sie nickte.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht im Geringsten, was ich von Euch halten soll. Natürlich passt es mir nicht bewacht zu werden. Doch das ist nicht der Grund für mein Verhalten."
„Es wäre schön, wenn Ihr Euch erklären würdet."

„Ihr würdet mich nicht verstehen. Selbst wenn ich es Euch erklären würde."
„Ich bin mir sicher, ich kann Euch folgen."
Sanjana schwieg. Es dauerte einen langen Moment bevor Jay stöhnte und sich dann zurück zog.

„Wie Ihr wollt. Aber eines möchte ich noch klar stellen. Ihr werdet nicht bewacht. Ich wiederhole mich, indem ich Euch sage, dass ich nur Euer Leibwächter bin. Euer Vater hat nun mal mir diesen Auftrag gegeben. Keinem anderen. Deshalb müsst Ihr damit klar kommen. Wenn ihr das Grundstück verlassen wollt, oder müsst, dann ist es selbstverständlich, dass Ihr das nicht alleine tut. Wenn es Euch nicht beliebt, dass ich Euch begleite, dann nehmt Tristan, Ram oder Alain mit. Diesen Kompromiss gebe ich Euch. Aber nicht mehr."

Nun war sie verblüfft aufgrund seines Angebots. Er schien fast gekränkt.
„Nein, schon gut. Ich werde mich einfach damit abfinden müssen."
Er antwortete nicht mehr darauf. Sanjana hatte nicht ihm persönlich ein hohes Misstrauen gegenüber. Sie wusste ja gar nichts über seine Person. Es war nur das Misstrauen gegenüber dem Krieger in ihm. Aber wie sollte sie ihm das erklären? Warum kümmerte es ihn überhaupt? Er hatte doch eh keine Gefühle.

Sanjana wollte die Unterhaltung nicht mehr weiter führen. Sie machte Anstalten an ihm vorbei zu gehen, doch unerwarteter Weise hielt er sie auf. Seine Hand zog ruckartig an ihrem Arm. Der feste Druck schmerzte und sie wollte gerade einen empörten Laut von sich geben, als sie von einem Klirren erschrocken wurde.

Nur eine Winzige Sekunde - danach surrte etwas an ihrem Ohr vorbei. Sie spürte seine Hand an ihrem Hinterkopf und kurz darauf fand sie sich auf dem Boden wieder. Er hatte sie so blitzschnell hinunter gezogen, dass sie es gar nicht richtig mitbekommen hatte. Immer noch erschrocken lag sie vor ihm auf dem Boden, unfähig sich zu bewegen, denn Jay hielt sie fest.

Seine linke Hand lag direkt unter ihrem Kopf. Sie nahm an er wollte nicht, dass sie sich den Kopf verletzte und hatte sie schützend unter sie gebracht. Sein rechter Arm, mit dem er sie umgeworfen hatte, umfasste immer noch ihren Oberkörper oberhalb ihrer Brust. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Aufgrund des Schocks und der unerwarteten Berührung von ihm.

Jay wartete ab. Nach einer kurzen Weile nahm er seine Arme zurück und erhob sich halb. Starrte wütend auf das Loch im Fenster. Dann auf den Pfeil, der einen halben Meter über
seinem Kopf in der Wand steckte. Er war durch den Flur vor Sanjanas Gemächern geflogen, durch die offene Tür, nur knapp an ihrem Kopf vorbei.

Immer noch steif setzte sie sich auf. Konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Auch Sanjana sah jetzt zu dem kaputten Fenster.
„Tristan!"
Jays auffordernder Ruf ließ sie zusammen zucken und sie wirbelte zu ihm herum. Innerhalb einer Sekunde war er wieder auf den Beinen und umfasste mit der rechten Hand - seiner Schwerthand - den Griff seines Schwertes und schien gar nicht begeistert.

Sie hatte erwartet, dass er nach Tristan suchen würde, aber er wich nicht einen Schritt von ihrer Seite. Tristan war auch nicht dem Ruf gefolgt, wie Sanjana es erwartet hatte.

Aber es sah nicht so aus, als würde Jay ihn erwarten. Wie hatte er nur so schnell reagieren können? Es war in wenigen Sekunden passiert, dass der Pfeil durch das Glas gebrochen war und er sie auf den Boden gezogen hatte. Und dabei hatte er sich vermutlich noch Sorgen gemacht, sie könnte sich den Kopf verletzen.

Mit großen Augen starrte Sanjana den Mann an. Ja sie konnte nicht anders. Er hatte sie tatsächlich beschützt. Nicht mal sie hatte den
Pfeil kommen hören, oder gesehen. Es war ihr absolut schleierhaft, wie Jay so schnell reagieren konnte.

Als habe er ihren Blick gespürt, drehte er sich zu ihr.
„Ich hoffe...Ihr seid unverletzt."
„Mir fehlt nichts."
„Wollt Ihr immer noch das ich verschwinde?"
Jay hob die Augenbraue und zwang sich zu einem Grinsen. Sanjana konnte darauf nicht antworten, schüttelte aber verlegen den Kopf.
„Dachte ich mir."
Er beugte sich vor und reichte ihr seine Hand.

„Kommt, Ihr könnt nicht dort auf dem Boden bleiben."
Auf einmal wirkte er so entspannt. Als wäre das gerade nicht passiert. Sie konnte es noch nicht realisieren. Zögernd ergriff sie seine Hand. Sie war erstaunlich warm.
Jay zog sie auf die Beine und musterte sie.
„Geht es Euch wirklich gut?"
„Ja. Nur was war das? Ich meine..."
Ihre Stimme versagte.

„Das, Mylady, war ein Attentat."
Er hatte es ausgesprochen, als wäre es etwas alltägliches.
„Darauf wäre ich nie gekommen", sagte sie mürrisch. In dem Moment kam Ram um die Ecke den Flur entlang geeilt. Samara im Schlepptau.

„Wir haben sie nicht mehr erwischt."
„Sie? Es waren mehrere? Das erklärt natürlich, warum ich ihren Standort nicht sofort definieren konnte. Ein Schütze und zwei bei den Pferden."
Wieder starrte Sanjana ihn an und verstand kein einziges Wort.
„Ja so war es. Tristan und Alain sind ihnen auf den Versen."
„Sehr gut."

„Sanju, zum Glück bist du unversehrt."
Sama war kreidebleich und faste ihre Freundin bei der Hand.
„Mir ist nichts passiert."
Sie zwang sich zu einem Lächeln, in der Hoffnung es würde Samara beruhigen.
„Sie sind nordwärts gelaufen", sagte Jay an Ram gewandt. Woher weiß er das denn jetzt schon wieder?
„Hast du sie gespürt?"
„Nein. Gespürt nicht, doch hat mich mein Instinkt rechtzeitig gewarnt. Erst später wurde ich mir ihres Aufenthaltes bewusst."

Hatte Jay es tatsächlich gemerkt, dass ein solcher Angriff  bevorstand, oder etwas ähnliches? Sanjana erinnerte sich daran, dass er zuvor stets den Blick auf den Flur gerichtet hatte. Sie war verwirrt. Der Pfeil war aus dem Zimmer hinter ihr gekommen.
Durch das Fenster. Ein Fenster, dass zuvor verstärkt worden war. Wie konnte es ein normaler Pfeil durchdringen?

Ein kalter Schauer ließ Sanjana erschüttern. So etwas war in ihrer gesamten Amtszeit noch nicht vorgekommen.

Sie war blass, als hätte sie einen Geist gesehen. Ihr Blick wanderte zwischen dem Fenster und Jay hin und her. Er hatte genau in die Richtung des Fensters geschaut. Sie verstand gar nichts mehr. Was war hier los?
„Sie haben sich ja ganz schön Zeit gelassen", erklärte Ram.

„Das zeigt, dass sie von unserer Anwesenheit gewusst haben, sonst hätten sie sich nicht zu so einem feigen Angriff entschlossen. Außerdem hätten sie schon viel früher gehandelt...ist meine Vermutung."
„Glaubst du... das war nur eine Ablenkung?"
Ram schien besorgt.

„Mit Sicherheit."
Jay ballte die Fäuste.
„Fragt sich nur wofür genau."
„Als ob man dich ablenken könnte."
Sama schenkte Jay ein warmes Lächeln. Doch er hob skeptisch eine Augenbraue.

„Leider war ich viel zu abgelenkt", murmelte Jay leise und warf Sanjana einen flüchtigen Seitenblick zu. Erst einen Augenblick später wurde ihr bewusst, dass das nicht in der Landessprache gesagt hatte. Ihre Augen weiteten sich überrascht. Hatte er... nein sie musste sich täuschen. Hatte er tatsächlich gerade die Alte Sprache benutzt?

Sanjana war fassungslos. Mehr noch als zuvor. Er sprach ihre Muttersprache. Oder waren es nur einige wenige Worte die er verstand? Noch mehr schockierte sie jedoch die Bedeutung der Worte. Hatte sie ihn abgelenkt? Wenn ja... das schlechte Gewissen brachte ihr hämmernde Kopfschmerzen und wieder beschleunigte sich ihr Puls. Konnte sie ihn wirklich ablenken? Und sollte sie das jetzt positiv oder negativ deuten?

Jay bemerkte ihren verwirrten Gesichtsausdruck. Besorgt schaute er sie an. Das war seit einer Woche der gefühlvollste Ausdruck, den sie bei ihm gesehen hatte - abgesehen von dem kalten, wütenden Blick, aber der zählte nicht.
„Fühlt Ihr Euch nicht wohl?", fragte er, als sie ihn immer noch anstarrte.

Sie räusperte sich und zwang sich dann den Blick von ihm abzuwenden. Dann schüttelte sie verneinend den Kopf.
„Du bist ja ganz blass. Verständlich. Ich wäre an deiner Stelle auch schockiert."

Samara strich ihr behutsam eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Sanjana hatte ihre langen Locken in einen Zopf geflochten, doch angesichts der schnellen Reaktion vor ein paar Augenblicken, war ihr Haar jetzt leicht zerzaust.
„Was werden wir jetzt unternehmen?" Sanjanas Frage richtete sich nur an die Krieger. Dabei wagte sie nicht Jay wieder anzusehen.

„Wir?", hakte er nach.
„Ich meine...was werden wir jetzt in Bezug auf diesen Angriff machen?"
„Also glaubt Ihr mir mittlerweile, ja?"
„Ich habe nicht daran gezweifelt, dass es eine Bedrohung gibt. Ich hätte mir nur nicht im Traum vorstellen können, dass jemand so nahe an mich heran kommt. Dass es jemand schafft mich in meinem eigenen Haus anzugreifen, noch dazu wenn meine angeblichen Beschützer anwesend sind."

„Passt auf was ihr sagt. Immerhin habe ich Euch beschützt, sonst würde dieser nette Pfeil hier jetzt in Eurem Schädel stecken."
Jay zog den Pfeil mit einem starken Ruck aus der Wand und fuchtelte damit vor Sanjanas Nase herum.

„Jay, lass das! Was Sanjana meint ist...was wir jetzt in diesem Moment unternehmen. Kannst du noch irgendjemanden da draußen spüren? Was sagt dir dein Instinkt? Gibt es im Moment noch eine Bedrohung, oder können wir vorerst aufatmen?"

Samara klang ungeduldig als sie Jay den Pfeil aus der Hand nahm und ihn ernst ansah. Allerdings konnte man so eine Frage nicht allein aufgrund eines Instinktes beantworten.
Oder doch?

„Ich weiß echt nicht was mit dir los ist. Seit dem du hier bist, benimmst du dich merkwürdig. Ihr beide tut das. Mag sehr gut sein, dass ihr Euch nicht ausstehen könnt, aber könnt ihr eure Fehde nicht endlich beenden und normal werden? Bitte!"

Alle sahen Samara jetzt verblüfft an. Aus ihrer Wut und Verzweiflung wurde schnell Verlegenheit und ihre Wangen röteten sich.
„Tut mir leid, aber das musste jetzt mal gesagt werden."


~



Einen langen, sehr langen Moment hatte Jay sie angestarrt. Was sie - zu ihrer Verzweiflung - noch mehr erröten ließ. Niemand wagte es so mit ihm zu sprechen. Zum Glück schien er nur verdutzt und nicht wütend.

Nein, auf gar keinen Fall wollte Sama sich seinen Unmut zuziehen. Dann hatte er gelacht. Laut gelacht. Einen Ton, den sie noch nie bei ihm gehört hatte. Noch nie hatte Jay so laut gelacht. Ram schien es ebenfalls beinahe unheimlich. Jay lachte nicht. Er hatte sich immer perfekt unter Kontrolle und zeigte nur äußerst selten seine Gefühle. Dass der Mann sich fast vor Lachen nicht mehr auf den Beinen halten konnte, ging ihr nicht aus dem Kopf.

Später hatte er eine Hand auf ihren Kopf gelegt und sie gestreichelt. Immer noch lächelnd war er dann verschwunden. Erstaunt sahen ihm alle nach.

Ram übernahm Jays Platz an Sanjanas Seite. Diese schien auch völlig verwirrt und noch immer saß ihr der Schock in den Knochen. Aber Samara wusste, dass sie sich das nicht anmerken lassen würde.

Um sie abzulenken, nahm Samara ihre Freundin mit in die Küche. Dort ließ sie sich von Gadnam ein riesiges Gebäckstück mit besonders viel Schokolade geben. Zuerst hatte er sich beschwert, doch als er in Sanjanas blasses Gesicht gesehen hatte, hatte er nachgegeben.

Besorgt hatte er sie gemustert, ohne ein Wort über den Angriff zu verlieren. Vermutlich stand er selbst noch unter Schock, ließ es sich aber wie immer nicht anmerken. Anschließend hatte er das restliche Personal angewiesen die Küche zu verlassen. Er selbst zog sich auch zurück. Guter Mann, dachte Samara. Er hatte einfach ein Gespür die Situation richtig einzuschätzen.

So saßen beide Frauen an dem großen Holztisch und verschlangen das ungesunde Monster von Gebäck. Ram stand in einer Ecke hinter ihnen und wirkte teilnahmslos.

„Danke, Sama. Jetzt fühle ich mich schon besser", sagte Sanjana nach einer Weile. Sie schob sich das letzte Stück in den Mund.
Dann erhob sie sich von ihrem Stuhl.
„Wirklich? Du bist immer noch ziemlich blass um die Nase."

„Das macht nichts. Das wird auch eine Weile noch so bleiben. Die letzten Tage waren so nervtötend, dass ich eine Ewigkeit
brauchen werde das zu verdauen. Ich habe schon manche Bedrohung erlebt, aber noch nie ist ein Pfeil so dicht an meinem Kopf vorbei gesaust. Und die Tatsache, dass diese Krieger hier sind, beunruhigt mich noch mehr."

„Warum eigentlich? Du solltest dich bei ihnen sicher fühlen und dankbar für ihre Anwesenheit sein. Immerhin hat Jay dir vorhin das Leben gerettet."
„Das kann ich nicht. Sag, Sama, fühlst du dich hier sicher?"
„Ja. Natürlich."
Sama klang entschlossen und als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen sprang sie vom Tisch auf.
„Ich würde den Kriegern mein Leben anvertrauen."
„Vermutlich liegt das daran, dass du sie schon länger kennst."
Sama schüttelte den Kopf und Sanjana wandte sich von ihr ab.

„Nein. Das liegt an etwas ganz anderem. Ich verdanke Jay mein Leben. Wäre er nicht gewesen, würde ich heute nicht hier stehen."
„Was?"
Sanjana sah schockiert wieder zu ihrer Freundin hoch. „Wie meinst du das?"
„Diese Krieger, Sanjana, sie sind gut...verdammt gut."
Samara ballte die Fäuste. Sie suchte nach den richtigen Worten, um ihre Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Ihre Augen wanderten zu Boden, so als ob sie dort zu finden wäre.

„Es war vor vier Jahren...zu der Zeit habe ich noch bei meiner Mutter gelebt. Du weißt ja, dass sie bei einem Feuer in unserem Haus ums Leben gekommen ist. Das Feuer war von Saboranern verursacht worden. Sie griffen unser Dorf an. Noch bevor wir rechtzeitig reagieren konnten stand unser Haus komplett in Flammen. Es war entsetzlich. Ich kann mich noch sehr gut an die Hitze und den Qualm erinnern. Doch vernahm ich ihre Stimme im Haus. Ich rannte, um ihr zu helfen. Das Feuer drohte sie einzusperren und zu vernichten. Es half nichts. Ich kam nicht an sie heran. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass ich ebenfalls von Flammen umzingelt war. Mir war klar, dass ich innerhalb kürzester Zeit tot sein würde.

Plötzlich war jemand durchs Fenster zu mir herein gesprungen. Ich hatte nur einen Schatten gesehen, der mich packte. Bevor meine Füße unter mir nachgaben, erkannte ich Jays Gesicht. Er warf seinen Umhang um mich und schleppte mich aus dem Haus...ungeachtet der Flammen um uns herum."

Ihre Erzählung klang beeindruckend. Samara erzählte es so, als würde sie genau in diesem Augenblick ihre Erinnerung erneut durchleben.
„Ein schwerer Balken viel vom Dach herab auf uns zu, doch Jay schützte mich vor ihm. Er nahm seinen eigenen Körper als Schutzschild für meinen. Der brennende Balken traf ihn an der Schulter. Doch ohne sich davon beirren zu lassen bewegte er sich weiter. Er schien überhaupt keine Angst zu haben. Er rettete mich vor dem sicheren Tod."
Sie schwieg kurz und ließ ihren Blick weiter abschweifen.

„Leider war es für meine Mutter zu spät. Er hätte noch versucht sie zu retten, wäre nicht das Haus zusammengestürzt, kurz nachdem wir es verlassen hatten. Ich weiß, dass er sich das bis heute nicht verzeihen kann. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein, ihr nicht helfen zu können. Gerade, weil seine eigene Mutter auf die gleiche, grausame Weise ums Leben gekommen ist. Doch ich habe ihm das niemals vorgeworfen. Weil ich nicht mal mehr damit gerechnet habe selbst gerettet zu werden. Weil er nicht beide retten konnte. Er musste sich entscheiden und die Entscheidung fiel für mich."

Samara machte einen Moment Pause. Dann sah sie in Sanjanas verständnisvolle und zugleich schockierte Augen. Zwar kannte ihre Freundin die Geschichte schon grob, doch hatte Samara ihr bis heute nichts von den Kriegern erzählt.

„Die Krieger haben die Saboraner zurück gedrängt und das Dorf gesichert. Ich war noch halb benommen, als ich ihnen beim Kampf zusah. Wie sie sich bewegten...mit solch einer Schnelligkeit, Eleganz und Kraft. Tristan kann das Schwert mit solch einer Leichtigkeit schwingen, dass es aussieht als hielt er nur einen übergroßen Zahnstocher. Ram besitzt zwei Schwerter, mit denen er gegen einen ganzen Trupp ankämpfen kann. Alain versteht etwas von der Heilkunst und half den Verwundeten Dorfbewohnern. Aber abgesehen davon ist er auch ein hervorragender Bogenschütze. Er trifft sein Ziel immer", sagte sie mit aufrichtiger Bewunderung.

„Der Bogen ermöglicht es ihm auch auf besonders hoher Distanz zu kämpfen. Und Jay...Er war nicht ein einziges Mal von meiner Seite gewichen, bis ich mich wieder auf die Beine stellen konnte. Er sorgte sich um mich, als wäre ich nicht eine Wildfremde für ihn, sondern jemand, den er schon Jahrzehnte lang kennt. Dabei war er selbst verletzt. Er ließ sich keine Schmerzen anmerken noch kümmerte sich um seine Wunden. Er kümmerte sich nur um mein Wohlergehen und das der anderen Dorfbewohner."

Sie hob den Blick und traf den ihrer aufmerksam lauschenden Freundin. Die plötzlich ein anderes Bild von den Kriegern bekam.

„Später habe ich heraus gefunden, dass er eine unglaubliche Angst vor Feuer hat. Ich glaube das ist so ziemlich das Einzige, was ihn je einschüchtern konnte. Aufgrund seiner Vergangenheit respektiert er Feuer wie keinen anderen Gegner und doch war er in das brennende Haus gesprungen, um mich zu retten. Du musst wissen...als Kind musste er dabei zusehen, wie man seine Eltern vor seinen Augen tötete. Sein Vater wurde niedergestochen und seine Mutter ist bei lebendigem Leibe im Haus verbrannt. Bis heute hat er ihre Schreie nicht vergessen. Oft träumt er noch von diesem schrecklichen Ereignis."

Heiße Tränen rannen Samara die Wange herunter. Sie versuchte den Schmerz in ihrer Brust zu unterdrücken. Aber ihr ganzer Körper zitterte.

„Ich weiß du traust Kriegern nicht. Es gibt viele Krieger, die so sind, wie du sie immer beschreibst. Kalt, willenlos, gefährlich...
Aber nicht meine Freunde. Sie sind anders. Genau deshalb mag ich sie so. Und ich habe einen unglaublichen Respekt vor ihren Fähigkeiten. Was ich dir eben beschrieben habe, ist nur ein Bruchteil von ihrem wahren Können. Ich weiß wozu diese Männer fähig sind und darum vertraue ich ihnen. Jederzeit würde ich Ram, Alain, Tristan oder Jay mein Leben anvertrauen. Es gibt keinen sichereren Ort, als der wo sie sind."

Samara hatte während der ganzen Zeit vergessen, dass Ram hinter ihr gestanden hatte. Als sie sich seiner Gegenwart wieder bewusst wurde, drehte sie sich um und errötete. Warum musste sie das auch ausgerechnet dann sagen, wenn er hinter ihr stand?

Jedoch Rams Gesicht blieb unberührt. Nicht ein Muskel bewegte sich. Er schien zur Statue geworden zu sein und Samara wurde
warm ums Herz. Er tat tatsächlich so, als wäre er gar nicht anwesend. Natürlich hatte er ihr zugehört, aber ein guter Krieger mischte sich nicht in anderer Leute Gespräche ein.
„Du vertraust ihnen wirklich so sehr?", fragte Sanjana jetzt leise.
„Ja. Niemand kann dich so beschützen wie sie...wenn...wenn du es nur zulässt."

Ram räusperte sich und löste sich aus seiner starren Haltung.
„Tristan und Alain sind zurück", meinte er nur trocken.
Sanjana stand augenblicklich auf und wandte sich schon zum Gehen als sie noch sagte: „Danke, dass du mir das alles erzählt hast, Sama."
Dann verließ sie die Küche und ließ Samara mit Ram alleine.

„Deine Worte klangen schwer."
Ram sprach ohne Samara anzusehen.
„Es ist auch ein Ballast diese Erinnerung mit mir herum zu tragen."
„Das glaub ich dir. Aber es freut mich sehr, dass du uns gegenüber ein so großes Vertrauen hast."

„Selbstverständlich...nach allem was ihr getan habt. Nicht nur für mich sondern auch für andere. Ihr seid in ganz Tamaran bekannt und
beliebt für eure großen Taten."
„Jetzt übertreib es nicht, Sama. Wir haben immer nur unsere Pflicht getan."
„Eben nicht. Ich weiß dass ihr immer schon mehr als eure Pflicht getan habt. Viel, viel mehr."

Sama lächelte und als Ram sie endlich ansah erwiderte er ihr Lächeln. Sie sah es so selten. Sonst versteckte er es hinter einem naiven, nervigen Charakter, der ihm in jedweder Weise widersprach. Wieder wurde ihr warm und ihr Herz pochte. Sein Lächeln konnte ein rettender Anker im Sturm sein. Ja wenn sie in Schwierigkeiten war, wenn es ihr schlecht ging, rief sie sich stets sein lächelndes Gesicht vor Augen. Denn es war ihr rettender Anker.



~



„Konntet ihr sie aufhalten?", fragte Jay.
Er stand wieder in der Halle mit dem üblichen undurchdringlichen Gesichtsausdruck.

Sanjana konnte sich nicht erklären, wie Ram es wissen konnte. Woher wusste er, dass Tristan und Alain wieder zurück waren? Es war genauso verwirrend wie der Moment, indem Jay den Pfeil bemerkt hatte, noch bevor er durch die Scheibe gescheppert war. Sie zwang sich in diesem Moment nicht darüber nachzudenken. Sie wollte nun wissen was geschehen war.
Tristan kam durch die Eingangstür auf Jay zu gelaufen.

„Nein. Es waren drei. Alain meint es waren Saboraner. Sie sind so schnell geritten, als sei der Teufel persönlich hinter ihnen her. Wir hätten sie verfolgt, wenn das unser Auftrag gewesen wäre. Aber ich wusste, das du uns hier brauchst. Außerdem war es zu dunkel, als dass ich noch länger ihre Spuren hätte verfolgen können."

„Schon gut. Danke für deinen Bericht. Wo ist Alain?"
„Er versorgt die Pferde."
Tristan nahm Sanjanas Anwesenheit war und kam zu ihr.
„Ich hoffe es geht Euch gut, Mylady."

„Ja, danke."
Tristan sah sie an, als glaubte er ihr nicht. Auch Sanjana musterte ihn. Die Worte Samaras halten ihr in den Ohren wieder und bereiteten ihr Kopfschmerzen. Die Krieger, die sie bisher getroffen hatte, schienen nicht besonders gewesen zu sein. Waren diese Männer wirklich so anders?

Jay nickte ihr kurz zu. Ein Zeichen der Höflichkeit. Dann verließ er das Haus. Sanjana sah ihm noch einen Moment nach und vergaß dabei vollkommen, das Tristan sie noch immer
beobachtete.
„Ihr könnt ihn wohl wirklich nicht ausstehen."
Seine Bemerkung ließ sie ihn erstaunt ansehen.

„Ist es denn so schrecklich seinen...unseren Schutz zu akzeptieren?"
Sie schluckte und überlegte kurz. Im Grunde war es nicht schlimm, nur ungewohnt. Doch der heutige Abend hatte ihr gezeigt wie wichtig die Anwesenheit der Krieger und wie Schutzbedürftig sie war.

„Nein", antwortete sie also ehrlich.
„Warum gebt Ihr Euch dann so?"
„Es ist nichts, was ich persönlich gegen ihn haben könnte. Ich kenne ihn ja kaum."
„Aber Ihr habt etwas gegen Krieger, nicht wahr?"

„Nicht unbedingt. Ich habe nur keine besonders hohe Meinung von ihnen. Was mich mehr irritiert, ist die Tatsache, dass mein Vater euch geschickt hat."
„Euer Vater liebt Euch mehr als Ihr glaubt."
„Spart Euch Eure Worte, Krieger. Was wisst Ihr schon über mich und meinen Vater? Ihr habt kein Recht davon zu sprechen."
Sie funkelte ihn wütend an und war kurz davor ihn stehen zu lassen.
„Ich weiß mehr, als Euch lieb wäre. Euer Vater war auch mein Lehrmeister. Er hat uns alle unterrichtet. Deshalb stehen wir uns relativ nahe."

„Wie auch immer. Es geht Euch nichts an und ich will von meinem Vater nichts mehr hören."
„Ich kann Eure Gefühle verstehen, aber seht Ihr denn nicht, dass Ihr Euch selbst im Weg steht? Und was ist mit Jay? Ihr vertraut
ihm nicht, nur weil er Euren Vater kennt? Ist das nicht ein bisschen kleingeistiges Denken?"

Tristan sprach so unvermittelt, so offen, dass ihr schlecht wurde. Wie konnte er es nur wagen so mit ihr zu reden? Er bewegte sich auf Glatteis. Seine Miene blieb jedoch ernst. Seit einiger Zeit hatte sie ihn nur mit einem Lächeln gesehen. Der ernste Ausdruck seiner gold-braunen Augen wirkte schon fast fremd. In welcher Beziehung stand er zu Jay Mathur? Offenbar hielt er es für notwendig seinen Befehlshaber in Schutz zu nehmen.
„Ihr missversteht mich, Herr. Aber selbst wenn...Ihr habt kein Recht Euch einzumischen."

„Bei allem Respekt, Mylady", sein Ton wurde noch ernster und ließ sie zusammenzucken. „Es ist mir völlig gleichgültig, was Ihr von uns haltet. Sowohl als Krieger als auch als Mensch. Ich werde es nicht weiter dulden, dass ihr es Jay Mathur an Respekt mangeln lasst."

Das waren für den sonst so ruhigen und stets freundlichen Mann ernste und deutliche Worte. Nur war es der falsche Augenblick ihr die Meinung zu sagen, fand Sanjana. Sie stand immer noch neben sich wegen des Angriffs.

„Wir versuchen nur unseren Auftrag Euch zu beschützen bestmöglich auszuführen. Dabei wäre es hilfreich, wenn ihr uns wenigstens ein bisschen Vertrauen entgegen bringen würdet. Und auch Eurem Vater gegenüber. Wenn er sich nicht um Euch sorgen würde, wären wir nicht hier. Es mag Euch ärgern und verzweifeln, aber akzeptiert es wenigstens."

Er machte eine Pause und beruhigte sich etwas. Mit sanfterem Ton sprach er weiter.
„Was wisst Ihr eigentlich über Jay?"

„Nicht viel. Ich sagte ja zuvor, dass ich ihn kaum kenne."
Trotzig verschränkte Sanjana die Arme vor der Brust. Allerdings hatte seine Warnung sie auch etwas eingeschüchtert.

Ihr hellblaues Kleid warf Falten auf den Boden, als sie sich bewegte.
„Er ist der beste Krieger Dokrats...und damit des ganzen Landes. Euer Vater hat Euch seinen besten Mann geschickt, um Euch zu beschützen."

Sanjana rief sich den schockierenden Angriff im Flur ins Gedächtnis. Jay hatte die ganze Zeit etwas gespürt. Er hatte so schnell reagiert und sie beschützt. Das war ihm nur gelungen, weil er der Beste war. Auch Samaras Worte kamen ihr wieder in den Kopf, aber was ihre Freundin vielleicht bewunderte, ließ Sanjana noch mehr erschaudern. Er war der Beste - er war der Gefährlichste!

„Er ist nicht anders als jeder andere Krieger in Dokrat."
„Wie denn? Was ist ein tamaranischer Krieger für Euch?"
„Eine Spielfigur auf einem Spielbrett", antwortete sie scharf. „Ein gefühlloser, kalter Mensch, der nicht anderes kann, als willenlos die Befehle des Hohen Rates auszuführen. Er ist wie ein dressierter Hund. Dazu da, um mich zu schützen, wenn es dem Rat recht ist. Und wenn es dem Rat gefällt, kann er ihm in der nächsten Sekunde befehlen mich zu töten."
Davon war sie absolut überzeugt.

„Er würde ohne darüber nachzudenken handeln und den Befehl befolgen. Er versteht sich nur aufs Kämpfen, ist ohne Gewissen und unfähig etwas wie Trauer oder Freude zu empfinden. Eine scharfe Klinge, die alles und jeden um sich herum innerhalb von Sekunden vernichten kann. Mir wird ganz anders, wenn ich mir bewusst mache, welche Fähigkeiten er haben könnte."

Tristan starrte sie fassungslos an. Das war Sanjana egal. Er wollte die Wahrheit von ihr hören. Bitte sehr! Nun hatte sie kein Blatt vor den Mund genommen.

„So...so denkt Ihr über...ihn?"
„So denke ich über jeden Krieger. Aber besonders über Jay, ja."
Tristan seufzte und schüttelte den Kopf.
„Ihr wisst rein gar nichts."
„Warum sagt Ihr das?"
„In gewisser Weise habt Ihr Recht. Die meisten Krieger sind so. Oder zumindest sollen sie so sein. Jedoch nur weil ein Mensch seine Gefühle nicht zeigt, heißt das nicht, dass er keine hat, Sanjana."

Ließ er mit Absicht die höfliche Anrede weg?
„Ihr könnt mir nicht erzählen, dass Jay ein Gefühlsreichtum hat, dass auf einen ganzen Wagen passt."
„Und was, wenn doch?"
Er lächelte wieder und hob die Augenbrauen.
„Ich glaube Euch kein Wort. Man sieht es doch an seiner ganzen Ausstrahlung und in seinen kalten grauen Augen. Kein Mensch kann seine Gefühle so gut verstecken, es sei denn er hat gar keine. Ich habe in seine grauen Augen gesehen und keinen Funken Leben darin erkannt."

„Grün...", korrigierte Tristan leise. Er schaute nachdenklich auf den Boden.
„Wie bitte?", fragte sie verwirrt.
Er lächelte wieder charmant, als er lauter sprach: „Seine Augen...sie sind grün."
„Ich bitte Euch...sie sind so grau, wie der Himmel im Winter. Fade und eiskalt."
„Glaubt mir, wenn ich Euch versichere, dass sie grün sind. Dunkelgrün und warm, wie die Natur."

Sanjana verstand die Welt nicht mehr. Was für ein Spiel spielte Tristan nur mit ihr? Da kam auf einmal eine Erinnerung in ihr hoch. Als sie Jay zum ersten mal tief in die Augen geschaut hatte, als sie sie aus allernächster Nähe betrachtet hatte, war ein Funke darin erschienen. Für einen Moment waren sie nicht
unergründlich gewesen und für den Hauch einer Sekunde glaubte sie einen grünlichen Schimmer gesehen zu haben. Anhand Tristans Miene wurde ihr klar, dass er ihre Gedanken
erraten hatte.

„Sie...wechseln die Farbe?", fragte Sanjana vorsichtig.
„Ja."
„Wahnsinn!", entschlüpfte es aus ihrem Mund.
„Das ist es. Ich war am Anfang auch sehr verwirrt, als ich ihn kennen lernte. Schon als Kind beherrschte er die Gabe der Verstellung perfekt. So lernte ich ihn mit grauen Augen kennen. Als ich dann später die grünen Pupillen gesehen habe war ich unglaublich fasziniert."
Tristan machte eine nachdenkliche Pause.
„Seine Augen sind der Schlüssel zu seiner Seele, Sanjana."

Sie war fasziniert, das musste sie einräumen, doch warum erzählte Tristan ihr das? Jay würde es nicht wollen, dass er ihr davon erzählte.

Tristan hatte wieder sein übliches Lächeln aufgesetzt. So als wäre es sein persönliches Schutzschild.
„Er hat Gefühle. Er hat sogar sehr tiefe Gefühle, die nicht einmal ich vollkommen verstehen kann. Weil ich nicht das erlebt habe, was er erlebt hat. Er trägt eine Maske. So wie man es sein ganzes Leben lang von ihm erwartet hat, seit er nach Dokrat kam. Es ist das Erste, was ein Krieger in seiner Ausbildung lernt...eine Maske auf dem Gesicht zu tragen, um seine Feinde zu verwirren und keine Schwäche zu zeigen."
„Tragt Ihr auch eine Maske?"

„Ja. Nur habe ich keine Augen, die die Farbe ändern können. Mit diesem Glück ist nur Jay gesegnet. Aber ich habe dafür mein Lächeln."
Sanjana fiel auf, dass er immer viel lächelte. Unnatürlich viel.

„Was ist mit Ram und Alain?"
„Auch sie haben ihre Art Gefühle zu verbergen. Alain redet zum Beispiel sehr wenig. Er ist ein schweigsamer und ruhiger Mann. Ram versteckt seine Gefühle und Gedanken hinter seiner Unsicherheit. Er legt manchmal ein so kindliches und naives Verhalten an den Tag, dass es schon fast nervt. Aber wer ihn kennt, durchschaut das Verhalten."

„Warum sagt Ihr mir das alles?"
„Das weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht, weil ich Euch bewundere. Vielleicht weil Ihr uns als einer der wenigen Menschen verstehen könnt. Ihr wisst, was es heißt eine Maske zu tragen."
„Ihr bewundert mich?"

„Natürlich. Ich habe sehr großen Respekt vor Eurer Persönlichkeit. Ihr spielt ebenfalls eine Rolle. Ihr versteht es Euch zu verstellen, genau so gut wie ich. Im Senat seid Ihr die verantwortungsvolle Senatorin. Eine hohe Last liegt auf Euren Schultern. Allerdings wenn ihr hier seid, lebt ihr frei und ungezwungen. Zieht enge Hosen und Stiefel einem teuren Kleid jederzeit vor. Ihr seid eine starke, intelligente und selbstbewusste Frau. Ihr wisst genau, was ihr wollt und was nicht. Man kann Euch nichts vormachen, noch kann man Euch Vorschriften machen. Ja, das bewundere ich. Und wisst Ihr was..."

Sein Grinsen wurde breiter.
„...Jay bewundert es noch mehr. Ihr habt ihn mit Eurer sturen Art geradewegs überrumpelt. Ihr seid ihm in gewisser Weise ziemlich ähnlich und das hat ihn verwirrt. Und außer mir hat sich ihm noch nie jemand in den Weg gestellt. Keiner streitet mit ihm. Keiner diskutiert oder gibt Wiederworte."

„Hat er Euch das so gesagt?", fragte Sanjana ungläubig.
Tristan schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich weiß das einfach. Ich kann ihm direkt durch seine grauen Augen bis in die Seele schauen. Ich kenne ihn so gut wie niemand sonst."

Stille herrschte. Sie wusste nicht was sie darauf noch sagen sollte. Tristan hatte ihr gerade so viel erzählt, dass ihr der Schädel dröhnte. Sie hatte bisher nicht viel mit ihm gesprochen, aber nun war es zu viel.

Tristan war mehr als nur ein Krieger. Er war Jays Freund. Ein guter Freund, der sich für Jay einsetzte. Vermutlich wollte er ihr die Augen öffnen. Das war ihm auch gelungen, denn Sanjana sah nun einiges anders. Es herrschte nicht mehr nur Unbehagen in ihrem Herzen, wenn sie an Jay und die anderen Krieger dachte. Respekt überkam sie.

Außerdem bemerkte sie die tiefe Verbundenheit, die Tristan zu Jay hatte. Warum sonst hätte er ihr das alles erzählen sollen? War das nicht Beweis genug dafür, dass er nicht nur ein versteifter und gefühlloser Kriegsheld war?

„Da wäre noch etwas...", begann Tristan mit einem nun eher verschmitzten Unterton, „wenn sich hier einer darauf versteht die Regeln zu brechen, denn ist das Jay. Zu oft wurde er degradiert oder anderweitig bestraft, weil er eben kein dressierter Hund ist und nicht immer das tut, was der Rat von ihm verlangt. Er geht den Hohen Meistern ziemlich auf die Nerven mit seiner Art die Befehle zu ignorieren oder einen Auftrag so auszuführen, wie er persönlich es für richtig hält. Dennoch kann der Rat nicht auf seine Dienste verzichten. Jays Fähigkeiten sind von so großem Vorteil, dass man ihn ständig wieder zurück in seinen Rang versetzt und ihn immer wieder auf Missionen schickt."

Sein Blick schweifte ab und sein Mund verzog sich zu einem heiteren Lächeln. Ein attraktives und warmes Lächeln. Tristan empfand so viel für Jay Mathur, wie Sanjana vielleicht für Samara empfand. Vielleicht sogar noch mehr.
Während er weiter sprach, musterte Sanjana seine teure Kleidung und erkannte eine vornehme Haltung, wie sie die feinen Herren bei Hofe gelernt hatten.

„Ich finde es reichlich amüsant dabei zuzuschauen wie Jay die Meister zum Narren hält."
Er schwieg einen Moment.
„Versteht Ihr jetzt? Er ist gar nicht so schlecht, wie Ihr glaubt. Er weiß sich einfach hervorragend zu verstellen. Und Ihr seid gewiss nicht die Erste, die ihn missversteht und falsch einschätzt."

„Aber die Erste, der Ihr die Wahrheit sagt", stellte Sanjana fest.
Tristan antwortete nicht mehr. Er gab ihr nur noch ein schuldiges Grinsen. Warum auch immer Tristan das erzählt hatte, er hatte seine Gründe. Der Mann wusste genau was er tat.

Tristan war ein gefährlicher Mann. Nicht, weil er als Krieger herausragend war. Nein, weil er als Mensch einen unheimlich interessanten Charakter zeigte. Er hatte einen scharfen Verstand, den er hinter einem charmanten, trügerischen Lächeln versteckte.
Sanjana musste sich eingestehen, dass sie Respekt ihm gegenüber empfand. Und sie konnte auch nicht leugnen, dass er ihre Meinung geändert hatte. Über die Krieger, über ihn... über Jay!

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