Fünf

Nach einer Weile hatte sich das Haus wieder beruhigt.
Jays Anordnungen wurden zu seiner Zufriedenheit ausgeführt.

Missmutig stand er in der Halle und beobachtete das restliche, alltägliche Treiben. Bald wurde das Essen serviert und letzte Vorbereitungen wurden getroffen. Draußen dämmerte es bereits und im Haus wurden Kerzen angezündet. Wobei Jay darauf achtete, dass es nicht zu viele waren.

Mann musste sich dem Feind ja nicht gerade als Zielscheibe präsentieren. Zumindest im Augenblick konnte Jay keine Gefahr spüren und entspannte sich etwas.

Er war an eine der vier Säulen in der Halle gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und ein Bein angewinkelt. Sein Blick war ernst und konzentriert.

Es widerstrebte ihm sehr die Senatorin in diesem ungeschützten Haus zu bewachen. Aber es war schon schwer genug sie davon zu überzeugen, dass er von nun an ihr Leibwächter war.

Hätte er auch noch von ihr erwartet sie wo anders unter zu bringen oder womöglich sogar aus der Stadt heraus, hätte sie sonst was mit ihm gemacht. Das hatte ihr Blick ihm verraten. Und dass sie ihn nicht ausstehen konnte. Wer konnte es ihr verübeln. Schließlich war er in ihr Leben eingedrungen und hatte es in kurzer Zeit auf den Kopf gestellt.

Man hatte den Kriegern die Zimmer im Nachbargebäude hergerichtet, was Jay ganz und gar nicht gefiel. Aber Sanjana hatte darauf bestanden. Das war das Einzige womit sie nicht verhandeln lies. Das hatte ihm Samara versichert.

Warum musste die Senatorin nur so stur sein? In der Hinsicht kam sie ganz nach ihrem Vater.
Verstand sie denn nicht, dass es hier um ihre Sicherheit ging?
Da erinnerte sich Jay an Mohans Worte und schmunzelte. Sie war eine eigensinnige Frau, die sich nicht gerne beschützen ließ oder gerne Schwäche zeigte.

Irgendwie kam Jay das bekannt vor.
Zumindest das hatte er mit ihr gemeinsam. Er würde ihr nicht nachgeben, egal worum es ging. Da konnte sie sich noch so sehr auf den Kopf stellen.

Er erhaschte aus dem Augenwinkel eine Bewegung und blickte zur Treppe, die sich zum Ende hin leicht nach außen wand. Ein dunkelroter Teppich überzog sie, der an den einzelnen Stufen festgeklopft war. Das weiße Geländer verzierte in filigran gearbeiteten Schnörkeln die Stufen.

Allerdings war es nicht die Treppe, die jetzt Jays ganze Aufmerksamkeit verlangte. Es war mehr die Frau, die nun langsam und geschmeidig die Stufen herab stieg, wie eine Prinzessin. Er versuchte sie nicht anzustarren, konnte aber nicht den Blick von ihr abwenden.

Er hatte vom ersten Moment an bemerkt, dass sie schön war. Es war ihm selbst unter dem ganzen Dreck aufgefallen. An dem Schmutz, der Reitkleidung und der ungezwungenen Haltung sowie an ihrem losen Mundwerk hatte er sie sofort erkannt.

Ebenso an den Gesichtszügen ihres Vaters. Nur dass ihre viel weiblicher und weicher waren.
Nun stockte es ihm den Atem. Sanjana trug ein samtenes grünes Kleid und um ihre schlanke Taille war ein ledernes dunkelgrünes Mieder gebunden.

Es war ein warmes smaragdgrün und ein passendes Spiegelbild zu seinen Augen. Seinen echten Augen. Das Kleid war nicht so aufwendig geschneidert wie bei vielen
Hofdamen, die Jay kannte. Es gab Frauen, die schönere und teurere Kleider zur Schau stellten.

Doch an ihr sah genau dieses Kleid umwerfend aus und seine Schlichtheit betonte ihre Schönheit. Ihre langen, schwarzen Haare waren zurück gesteckt. Einzelne Locken hingen heraus und umrahmten ihr Gesicht. Der Schmutz war aus ihrem Gesicht gewaschen und gab ihre glatte, porzellanartige Haut zum Vorschein.

An ihrem Handgelenk schimmerte ein silberner Armreif und um ihren Hals war eine schlichte silberne Perlenkette gebunden. Sie trug nicht mal viel Puder und ihre Augen waren nicht geschminkt. Dennoch sah sie so wunderschön aus. Das wusste sie auch. Ihre ganze Ausstrahlung verriet es ihm.

Ihre dunkelbraunen Augen waren unbeirrt auf ihn geheftet und ein sanftes aber herausforderndes Lächeln lag auf ihren vollen Lippen. Lippen die so sinnlich und verführerisch aussahen. Jay musste sich stark anstrengen den Blick davon abzuwenden.

Stattdessen richtete er sich auf und bemühte ein neutrales Gesicht zu machen - wie immer. Einfach das gleiche Gesicht.
Üblicher Weise bedarf es ihn keinerlei großer Anstrengung seine Gefühle zu verbergen. Er war es sein ganzes Leben lang gewohnt sich zu verstellen.

Nur in diesem Moment viel es ihm unheimlich schwer. Die Frau hatte gewisse Reize an sich, die ihn verdammt noch mal nicht kalt ließen. Das war ihr nur allzu klar. Trotzdem wollte Jay ihr nicht die Genugtuung geben. Alles hatte er erwartet vor seiner Abreise aus Dokrat. Alles, aber nicht sie.



~



Tristan beobachtete sie mit misstrauen. Ihm fiel auch auf, mit welchem Blick sein Freund sie begutachtete. Er kannte Jay zu gut, um nicht zu bemerken, was ihm gerade durch den Kopf ging. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber Tristan kannte ihn so gut, dass er wie ein offenes Buch für ihn war.

Er hatte neben der großen Eingangstür auf seinem Posten gestanden und schweigend die kleine Szene beobachtet. Jay hatte sich aufgerichtet und war ihr entgegen gekommen. Er hatte sich still vor ihr verneigt, sie einen höflichen Knicks gemacht.

Dann hatte er ihr sogar den Arm angeboten wie ein feiner Lord und sie zum Speisesaal begleitet. Mit gewissem Abstand war Tristan ihnen gefolgt. Sanjana setzte sich an den Tisch und sah dabei die ganze Zeit nur Jay an. Was um alles in der Welt machte er da? Gehörte das zu seinem Auftrag? Gewiss nicht. Und welches Spiel spielte sie?

Nicht nur zu Tristans Verwunderung, war der Tisch für mehrere Personen gedeckt. Hatte die Senatorin noch Gäste erwartet?
Tristan verschaffte sich einen Überblick, auch wenn er sicher sein konnte, dass Jay das schon vor Stunden getan hatte.

Der Raum war recht groß. Breite Fenster erhellten am Tage bestimmt die lange Tafel. Doch jetzt hatte man dunkle Vorhänge davor gezogen. Durch die wenigen Kerzen im Raum brannte nur ein schummriges Licht, gerade hell genug, um zu speisen. Von Prunk und Kostbarkeiten fand man im Saal nicht viel. Genauso wenig, wie im restlichen Haus.

„Warum setzt ihr Euch nicht dazu, Major Mathur?" 
Sanjanas Frage schockierte Tristan.
Jay, Ram und Alain waren ebenso verblüfft.
„Ich bin euer Leibwächter. Es steht mir nicht zu", gab Jay höflich zur Antwort.

„Ich bin mir sicher, dass ihr seit Stunden nichts gegessen habt und genauso ausgehungert seid, wie ich. Ich brenne darauf dieses Mahl zu mir zu nehmen, hätte aber ein schlechtes Gewissen, wenn Ihr und Eure Gefährten mir nur dabei zusehen müsstet. Außerdem ist es mir unangenehm beim Essen so beobachtet zu werden."

Sie wandte sich endlich ab von Jay und setzte einen traurigen Gesichtsausdruck auf. Meinte sie das tatsächlich ernst? fragte Tristan sich insgeheim.
„Macht Euch um uns keine Gedanken. Solange wir im Dienst sind, ist es uns nicht gestattet zu essen oder zu schlafen. Fürs Erste werden wir nur zur Raumdekoration beitragen. Fühlt Euch nicht beobachtet. Dazu gibt es keine Veranlassung."

Zur Raumdekoration beitragen? Tristan musste sich ein Lachen verkneifen. Jay bemerkte es und wich schmunzelnd vom Tisch
zurück. Dieses Lächeln war echt. Tristan kannte den Unterschied zwischen dem aufgesetzten Lächeln und seinen waren Gefühlen. Ein kaum merkliches Detail. Fremden fiel es nicht auf, wenn sie Jay nicht kannten. Aber es lag ganz allein in seinen
Augen. Tristan war sich sicher, dass dies ihm eines Tages zum Verhängnis  werden würde.




~



Jay und Tristan standen die ganze Zeit hinter Sanjana und gaben keinen einzigen Laut von sich. Während sie sich angeregt mit Samara unterhielt, versuchte sie sich nicht ihre Anwesenheit bewusst zu machen. Was sie auch dachten oder empfanden, man konnte es ihnen nicht anmerken. Und Sanjana war nervös. So nervös wie schon lange nicht mehr.

Später räumten ein paar Diener die restlichen Gedecke vom Tisch. Wie unangenehm es für sie war in ihrem Speisesaal zu essen. Hier speiste sie nur, wenn sie Gäste hatte. Nicht aber wenn Sama und sie allein aßen. Sie zog es vor in der Bibliothek oder in ihren Gemächern zu speisen.

Manchmal auch bei Gadnam in der Küche. Dann hörte sie sich mit Freuden seine Geschichten aus der Heimat an. Es war ihr fast peinlich gewesen, was sie zu Jay gesagt hatte. Nachdem sie von ihm höflich aber ernsthaft zurück gewiesen wurde, hatte sie sich beschämt abgewandt.

Die Krieger waren nicht ihre Gäste und sie würden auf unbestimmte Zeit bei ihr bleiben. Daher würde das nächste Essen zwangloser ablaufen. Sollten sie für heute Abend noch denken, dass es immer so lief. Ab morgen würde alles ganz anders sein.

Auch würde sie sich nicht mehr so die Blöße geben vor Major Mathur. Sie hatte sich in einen Kampf stürzen wollen. Aber was für ein Kampf war es, wenn der Gegner nicht einmal reagierte?

Sie hatte ihre Waffen hervor gebracht, wollte Jay einschüchtern, ihm zeigen, dass sie eine Senatorin war. Doch ihn hatte es kalt gelassen. Kein bisschen interessierte er sich für ihre weiblichen Reize. Jeder Mann hätte sich vor ihr auf die Knie geworfen.

Sie kannte einige Männer, die bei ihrem Anblick schwach geworden waren. Edle Männer, reiche Männer, Senatoren...nur nicht er. Dieser Krieger verzog keine Miene. War nur höflich gewesen, um sie nicht zu kränken. Dabei hatte er das bereits...unbewusst. Ja so sehr fühlte sie sich gekränkt, dass er sich nicht für sie interessierte.

Plötzlich bemerkte sie, dass sie bereits geschlagen war, ohne den Kampf begonnen zu haben. Sie hatte sich gewünscht Aufmerksamkeit von einem Krieger zu bekommen.

Innerlich lachte sie über ihre Dummheit. Ihre Enttäuschung verwandelte sich ganz schnell in Frust. Wie konnte sie das von einem Krieger erwarten? Ein gefühlloser Mann, der darauf trainiert war nichts zu empfinden. Nicht mal das winzigste Gefühl. Ein Mann, der nur für sein Land lebte, mit Hingabe und Selbstlosigkeit dafür kämpfte...

Ein Mann, der nur zu kämpfen wusste, der nur Befehle ausführte wie ein dressierter Hund, der sein ganzes Leben Tamaran verschrieben hatte. Wie konnte sie irgend etwas anderes von ihm erwarten...



~



„Ich übernehme heute Nacht die Wache", sagte Ram entschlossen.
„Vergiss, es!"
Jay lehnte lässig an eine Säule in der Halle. Dieser Ort schien ihm am besten, um alles zu überwachen. Er hatte wieder die Arme vor der Brust verschränkt und runzelte die Stirn.

Er wusste, warum Ram die Wache übernehmen wollte. Er hatte Sama zu sehr vermisst und nahm jede Gelegenheit war Zeit mit ihr zu verbringen.
Eigentlich konnte Jay es ihm nicht verdenken. Auch er freute sich sie wieder zu sehen. Sama war eine der wenigen Menschen in Jays Leben, auf die er sich verlassen konnte.

Er liebte sie, als wäre sie seine Schwester. Vom ersten Tage an hatte er das getan. Nur konnte er sich nicht so um sie kümmern. Dies hielt sie ihm oft genug vor.

Mittlerweile hatte er heraus gefunden warum sie hier war und woher sie und Sanjana sich kannten. Sie kannte Sanjana sogar schon länger als ihn. Nur hatte sie das nicht erwähnt. Wann hätte sie auch? Wenn er sie mal sah, hatte er anderes zu tun, als sich nach ihren Freunden zu erkundigen.

Nur war Jay sich sicher; vor drei Jahren war sie noch nicht Sanjanas Beraterin. Stolz überkam Jay, wenn er es sich bewusst machte, was aus dem frechen Mädchen aus seiner Vergangenheit geworden war.

Allerdings konnte er sich Sama nicht in dieser Stellung vorstellen. Sie ließ sich nichts sagen und liebte es andere herum zu kommandieren...war viel zu leicht reizbar und unheimlich liebevoll zugleich.

War Sanjana das nicht auch? Nein, die Senatorin war anders. Jay fand keine Worte dafür. Wie sollte er diese Frau bisher beschreiben? Am Nachmittag noch stand sie - mürrisch wie ein kleines Kind - in Reitkleidung vor ihm und wollte ihn nicht bei sich haben.

Am Abend aber hatte sie sich von einer ganz anderen Seite gezeigt. Auf einmal konnte sie charmant sein, hatte mit Sama viel gelacht und sich tatsächlich wie eine Dame... nein wie eine Senatorin benommen. Ihm dämmerte allmählich warum diese Frau im Senat so beliebt war und wie sie ein so hohes Ansehen erlangt hatte. Sie besaß die unheimliche Gabe der Verstellung. Man konnte ihr nicht mehr den Verdruss über seine Anwesenheit anmerken. Außerdem war sie mutig, entschlossen und selbstbewusst.

Jay ertappte sich dabei, wie er schon wieder über Sanjana nachdachte. Seit dem er das Haus betreten hatte, schien es aus einem unerklärlichen Grund nur noch sie zu geben. Die Frau hatte sich nicht nur in sein Gedächtnis gebrannt, das war ihm klar. Allein wenn er über ihre starren, großen Augen nachdachte wurde er nervös.

Sie hatte ihn mit ihren mandelförmigen Augen regelrecht versucht nieder zu starren. Ein forschender Blick, der ihm durch und durch ging. Was auch immer sie versucht hatte in seiner Seele, seinen Augen zu lesen, es war ihr gelungen. Für eine Sekunde hatte er sich nicht unter Kontrolle gehabt. Aus Verwirrung, mag sein, doch konnte er das nie wieder geschehen lassen.

Nach dem Essen hatte sie sich zurück gezogen, hatte Sama mit ihren altbekannten Freunden alleine gelassen. Was ihnen die Möglichkeit geboten hatte auch etwas zu essen. Nur Jay hatte keinen Appetit empfunden.
Zumindest nicht auf die Speisen.

Den restlichen Abend quasselte Sama auf Ram und Alain ein. Den beiden mussten schon die Ohren klingeln. Sie hatte immer schon viel geredet, aber an diesem Tag redete sie wie ein Wasserfall. Verständlich nach drei Jahren. Jay stöhnte.

„Ich bitte dich, Jay!"
Ram quengelte schon fast, was Jays Laune nicht gerade förderte.
„Nein! Ich werde das tun."
Jays Stimme klang entschieden, doch nicht zu ernst.

„Willst du dich denn gar nicht ausruhen?"
Ram grinste frech.
„Bei allem was mir heilig ist..."
Jay entfernte sich von der Säule.
„Sehe ich denn so müde aus? Sama hat sich auch schon darüber Sorgen gemacht."
„Na ja..."
Ram schaute verlegen zur Seite.
„Ich bin nicht müde. Im Gegenteil...hellwach. Und jetzt troll' dich wieder."

„Sei doch nicht so streng mit dem Guten. Immerhin hat er sie vermisst."
Tristan kam dazu. Wieder zog ein Lächeln über sein ganzes Gesicht. So wie immer. Anstelle starr und unergründlich zu wirken, zog es Tristan lieber vor eine dauerhaftes Grinsen an den Tag zu legen.

Auch eine Art seine Gefühle zu verbergen. Ram hätte sich besser darin üben sollen. Ihm gelang es gerade gar nicht seine Freude im Zaum zu halten. In Samas Nähe war
er wie ausgewechselt. Es lag an seinen Gefühlen für sie.

Ram empfand weit mehr für sie als nur reine Freundschaft. Ihr erging es nicht anders. Doch sie hatten nie darüber gesprochen, noch irgendwelche Annäherungsversuche gemacht...seit Jahren.
Sama respektierte die strengen Gesetze Dokrats.

Einem Krieger war es untersagt, sich einer Frau in dieser Art hinzugeben, Gefühle zuzulassen, die einen Mann angeblich schwächten. Seine Feinde würden diese Art von Gefühlen sofort ausnutzen und gegen ihn verwenden. Deshalb hielt er sich ihr gegenüber zurück. Sagte ihr niemals, was er von ihr dachte, was er empfand...
Sie wusste es dennoch.

„Wenn du unbedingt wach bleiben möchtest, kannst du das gerne tun, Ram. Nur bitte ich dich, um etwas mehr Zurückhaltung im Bezug auf Sama", meinte Jay.
Dann wandte er sich an Tristan.
„Ich habe sie auch vermisst. Nur lasse ich mich nicht derart ablenken."

„Warte nur ab, Jay. Eines Tages wird es dir nicht anders ergehen und dann kannst du mich endlich verstehen."
Ram war wütend, das sah Jay. Nur brachten ihn seine Worte eher zum Lachen, als dass sie ihn einschüchterten. Er und Tristan tauschten einen vielsagenden Blick aus und dann prusteten beide los.

„Ich denke nicht dass ich mir jemals bei Jay Gedanken machen muss. Er wird dich in der Beziehung niemals verstehen, Ram."
Er machte eine Pause. Das Lächeln in seinem Gesicht verschwand und wich einem forschenden Blick.
„Habe ich nicht Recht?"

Für einen Moment stutzte Jay. Sein Freund wollte ihm weitaus mehr mitteilen, als es zunächst den Anschein hatte. Sein Blick war unangenehm.
„Gewiss", entgegnete Jay und versuchte seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben.

Tristan konnte unmöglich wissen, dass ihn seit langem wieder eine Frau faszinierte. Er konnte nicht wissen, wie anziehend er Sanjana tatsächlich fand, oder doch?
Tristans Gesicht sprach Bände. Doch Jay wagte es ihn anzugrinsen, nicht mal den Hauch eines schlechten Gewissens zu haben. Denn darauf wollte Tristan nur hinaus.
Einen langen Moment schienen sie eine Unterhaltung mit den Augen zu führen. Als wüssten sie, was der andere dachte.

„Was gedenkst du eigentlich im Hinblick auf diese Bedrohung zu unternehmen?"
Rams plötzlicher Themenwechsel zwang Jay und Tristan ihre wortlose Unterhaltung zu unterbrechen und beide wandten sich zu ihm.

„Das weiß ich noch nicht so recht. Ich würde euch darum bitten in der nächsten Zeit die Stadt auszukundschaften und die Ohren
offen zu halten. Vielleicht erfahrt ihr ja etwas, was uns hilft diese Bedrohung aufzuklären."

„Ich denke nicht, dass uns Namalia viel verraten wird. Außerdem liebt das Volk seine Senatorin. Warum sollte jemand aus der Stadt ihr etwas böses wollen?"
„Mohan hat mich leider nicht mit Details informiert. Er hat nur einen Verdacht, dass nicht allein die Saboraner dahinter stecken."

Jay hatte immer noch die Arme vor der Brust verschränkt. In den vergangenen drei Tagen hatte er sich das Hirn darüber zermartert,
welche Feinde eine Senatorin haben könnte. Abgesehen von den offensichtlichen natürlich.

Er hoffte nicht, dass es erst zu einem Anschlag kommen musste, bevor er mehr herausfinden würde. Wenn er Glück hatte, war die Anwesenheit von Dokrats Kriegern nicht schon bei ihren Feinden bekannt. Das würde
ihnen bei einem Angriff einen entscheidenden Vorteil verschaffen.

„Hat er dir wenigstens gesagt, womit er seinen Verdacht begründet? Ich meine wie kommt er darauf?"
Tristan wollte nicht Mohans Wort in Frage stellen, nur brauchte es mehr als nur ein Bauchgefühl, um einen Krieger auf eine Mission zu schicken.
„Wie gesagt, ich kenne keine Details."
„Mehr hat er dir dazu nicht gesagt?"
„Nein."

Die Krieger wurden nachdenklich. Nach einer Weile zogen sich Ram und Tristan zurück. Alain hatte nicht viel zu dem Thema gesagt. Er sagte überhaupt sehr wenig. Er war ein Mann weniger Worte, denn für ihn zählten nur Taten.

Jay lag viel an ihm und er genoss seine Schweigsamkeit manchmal sehr. Mit ihm konnte er sich auch ohne Worte verständigen, so wie mit Tristan manchmal, nur war da nicht diese tiefe Verbindung wie zu Tristan. Trotzdem wusste Jay, das Alain jederzeit für ihn sterben würde. Alain war folgsam und absolut loyal zu Jay. Man könnte schon fast sagen, dass Alain ihn beinahe verehrte. Nur auf eine stille, angenehme Art und Weise, denn Alain sprach nicht darüber. Er zeigte es mit seinen Taten.

Er leistete Jay die ganze Nacht über Gesellschaft. Bevor der Morgen anbrach wurden sie von Ram und Tristan abgelöst. Doch Jay dachte nicht an Schlaf. Er wanderte leise durch das ganze Haus. Auch ohne Türen zu öffnen, wusste er genau welcher Raum sich dahinter verbarg.

Bis zur Dämmerung ging er wachsam umher, behielt alles genau im Auge. Wobei ihn das keinerlei Anstrengung kostete. Wenn sich jemand im Haus bewegte, ja wenn jemand nur ein Niesen von sich gab, wusste er es sofort. Er selbst hätte seine Fähigkeiten als beängstigend bezeichnet, hätten sie ihm nicht schon so oft das Leben gerettet. Nicht nur ihm, er hatte zahllosen Tamaranern damit geholfen.

Jay beschloss vor Sanjanas Gemächern einen Posten einzunehmen. Wie würde ihr es nur gefallen sein Gesicht als erstes zu sehen, wenn sie die Tür öffnete? Er konnte nicht leugnen, dass ihn der Gedanke an ihr überraschtes und zum Schluss verärgertes Gesicht verzückte.

Dennoch zögerte er kurz und blieb stehen. Seine Anwesenheit ging ihr jetzt schon gegen den Strich. Wenn er ihr schon so früh morgens schlechte Laune bereitete, konnte das ein unangenehmer Tag für ihn werden. Wenn sie doch nur mehr kooperieren würde.

Jay knetete seine verspannte Schulter. Dabei vergaß er die Narbe oberhalb seines linken Schulterblattes und zuckte zusammen. Er verzog das Gesicht. Dann richtete er sich wieder gerade und ließ die Hand auf sein Schwert sinken, welches er immer bei sich trug. Eine Erinnerung flammte in seinen Augen auf... kurz, aber als ständiger Begleiter.

Er hatte die Narbe schon seit Jahren. Trotzdem wollte der Schmerz nicht nachlassen. Er hatte zur Bewunderung aller Krieger in Dokrat kaum Narben. Fast keine. Die meisten seiner Verletzungen waren nicht der Rede wert gewesen und schnell wieder verheilt. Was Jay auch den außerordentlichen Heilkünsten seines Leibarztes verdankte. Nur diese eine Narbe konnte nie richtig verheilen, dank einiger verzwickter Umstände.

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