Dreizehn

Santurin war ein kleines Dorf mit wenigen Einwohnern. Es befand sich hinter Namalias umliegenden Wäldern. Dahinter lagen nichts als weite Felder. Nicht gerade eine geschützte Lage, wie Jay feststellte. Und damit hatte er verdammt Recht. Das Dorf war überhaupt nicht geschützt. Deshalb war es auch schon überfallen worden.

Entsetzt sahen die Krieger auf die verbrannten Häuser. Vieles war zerstört und noch immer stiegen Rauchschwaden in den Himmel. Ein Zeichen, dass der Angriff nicht lange her sein konnte. Die Krieger trieben ihre Pferde an und ritten ins Dorf, um nach Überlebenden zu suchen.

Jay lenkte sein Pferd langsam an den qualmenden Hütten vorbei. Es roch nach verbranntem Holz und Schwefel. Es war total dreckig. In Panik fallen gelassene Gegenstände verteilten sich auf den feuchten Wegen. Da waren so viele Spuren von Menschen aber Jay sah absolut niemanden.
Vor einem weniger zerstörten Haus hielt er an und stieg aus dem Sattel.

Er zog sein Schwert und beschoss sich umzusehen. Mit einer kurzen Kopfbewegung zu seinen Freunden, wies er sie an das Gleiche zu tun. Seine schwarzen Lederstiefel stapften auf dem schlammigen Boden, in deren Innenseite jeweils ein Messer steckte. Er war stets gut bewaffnet. Musste er auch.
Darum schulterte er auch einen Kurzbogen sowie einen Köcher mit hundert Pfeilen.

Es war kalt und feucht. Die Luft erfüllt von Nebel und Asche. Aber Jay sah immer noch keine Menschen. Weder tot noch lebendig. Er trat näher an das Haus heran. Als er die Veranda betrat, hörte er ein schwaches Poltern.

Sofort blieb er stehen und hob die Klinge höher. Er zögerte, horchte nach weiteren Geräuschen. Dann konzentrierte er sich auf das Innere des Hauses. Das Channa verriet ihm, dass Menschen hinter der Tür standen. Aber es ging keine Bedrohung von ihnen aus. Jay wich von der Veranda zurück und ließ sein Schwert wieder sinken.

„Kommt heraus. Ihr braucht uns nicht zu fürchten. Wir sind Krieger Dokrats", rief er den Personen im Haus zu. Dann spürte er in den umliegenden Häusern, die noch nicht zu Staub verfallen waren, weitere Menschen. Vermutlich hatten sie einen erneuten Überfall befürchtet und sich versteckt.

Nach ein paar Minuten kamen die eingeschüchterten Dorfbewohner aus den Häusern. Völlig verängstigt und misstrauisch sahen sie die Krieger an.
„Kommt her! Keine Angst, wir sind hier, um Euch zu helfen."
Jay steckte sein Schwert in die Scheide und winkte den Leuten zu ihm zu kommen. Auch seine Freunde halfen.

Nachdem die Dorfbewohner sich auf dem Platz mitten zwischen den Häusern versammelt hatten, richtete Tristan das Wort an sie.
„Wer von euch sagt mir, was hier passiert ist? Wer hat euch angegriffen?"

Es dauerte, bis ein dünner, schlaksiger Mann vortrat und berichtete Saboraner hätten das Dorf überfallen. Sie haben die Frauen aus den Häusern gerissen und die Kinder gejagt. Die Männer hatten die Wahl erhalten sich sofort zu ergeben oder niedergestochen zu werden.

Anschließend waren die meisten ihrer Häuser in Brand gesteckt worden. Egal ob sich noch jemand darin aufgehalten hatte oder nicht.
Die Tiere hatten sie brutal abgeschlachtet. Ihre Kadaver waren auf einen Haufen geworfen und angezündet worden.

Allein bei der Vorstellung welches Leid die Menschen hier erfahren hatten, drehte sich Jay der Magen um. Schmerzvolle Erinnerungen kamen in ihm hoch. Er teilte das Leid dieser Menschen. Eines war sicher, er musste sie sofort von hier weg bringen. Die Saboraner waren nicht gnädig genug, um Überlebende zu lassen. Sie würden wieder kommen.

„Also, hört zu! Wir bringen euch nach Namalia. Hier könnt ihr nicht bleiben. Die Saboraner werden sonst niemanden verschonen."
„Was wird aus unserem Dorf?", fragte eine Frau. Sie hatte ihre zwei Kinder an den Händen. Zum Glück hatten sie überlebt.
„Das Dorf ist nur noch Schutt und Asche. Ihr könnt es später wider aufbauen. Aber nun zählt nichts mehr, als euer Leben. Bleibt bei den Kriegern und lasst sie euch nach Namalia führen."

Sofort begann ein hektisches Treiben. Panisch kamen die Leute zu den Kriegern. Diese hatten alle Hände voll zu tun sie zu beruhigen. Jay wies zwei Krieger an nach weiteren Menschen zu suchen. Er wollte auf gar keinen Fall jemanden zurück lassen.

Er trieb alle zur Eile an. Je schneller sie Santurin verließen, desto besser. Er schlug die Tür eines schwelendes Hauses auf. Drinnen herrschte Chaos. Vermutlich sahen die anderen Hütten nicht besser aus.

Noch blieben einige Fragen ungeklärt. Wie kamen die Saboraner so schnell in Namalias Nähe? Sie mussten schon länger hier verweilt haben. An einem sicheren Ort, den Jay noch nicht ausmachen konnte.
Außerdem wunderte er sich über so viele Überlebende.
Warum hatten die Saboraner nicht das ganze Dorf verwüstet? Warum hatten sie nicht sämtliches Leben ausgelöscht? Das war nicht ihre Art.

Die Brutalität und Grausamkeit seiner Feinde, war Jay bestens bekannt. Also warum hatten sie...?
Auf einmal bekam er ein ungutes Gefühl im Bauch. Es war ihm klar, dass die Saboraner wiederkommen würden. Nur sagte Jays
Channa ihm, dass alles um ihn herum eine einzige Falle war. Es konnte nicht anders sein. Nervös eilte er aus dem Haus. Sah wie die Krieger die Bewohner von Santurin zusammen trieben.

„Verdammt!", fauchte Jay. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Es war definitiv eine Falle. Die Dorfbewohner waren nur der Köder und die Krieger waren wie Fische am Haken gelandet!

In seinem Innern schlug etwas Alarm. Tristan rief seinen Namen. Er stand nicht weit von ihm entfernt und deutete in Richtung der Felder. Jay wandte sich der Richtung zu und erstarrte. Von dort kam eine ganze Horde Reiter auf das Dorf zu. Sie ritten schnell. Alarmierend schnell.

Jay lief zu den anderen Kriegern und gab ihnen Anweisung die Menschen so schnell wie möglich fort zu bringen.
„Es hat keinen Sinn, Jay. Sie sind zu schnell. Das schaffen wir nicht", kam es verzweifelt von Tristan.
„Ja. Wir waren nur dumm genug es nicht zu bemerken."

Die Krieger bereiteten sich auf den Kampf vor. So einfach würden sie es dem Feind nicht machen. Tristan, Ram, Alain und Jay nahmen eine Verteidigungsstellung ein, während die anderen Krieger die Dorfbewohner aus der Gefahrenzone brachten. Jay spürte Tristans Blick auf sich ruhen und sah zu ihm. Dann
kamen die Reiter ins Dorf geritten. Nicht ein paar, auch kein kleiner Trupp. Es waren Dutzende.

Von überall her kamen Saboraner. Mit erhobenen Waffen griffen sie die vier Krieger an. Sie wollten Jay und die anderen von Anfang an in eine Falle locken. Zwar war ihnen das gelungen, aber sie hatten keine Ahnung, mit wem sie sich einließen.

Jay parierte jeden hieb, wehrte jeden Angriff gekonnt ab. Er konzentrierte sich nicht auf das, was hinter ihm war. Er wusste, dass Tristan ihm den Rücken deckte, so wie er seinen deckte.

Genauso wie Ram und Alain. Gegenseitiges Vertrauen war viel Wert, wenn man gegen so viele Gegner kämpfen musste.
Ein Saboraner griff Jay von der Seite an, doch er spürte ihn mit seinem Channa und konnte rechtzeitig die Klinge drehen. Sein Schwert prallte gegen die Rippen seines Gegners, gleichzeitig spürte Jay einen Stich in der verletzten Hand.
Er musste ihn ignorieren. Der Schmerz gehörte nun zu ihm und würde ihn niemals vergessen lassen.

Ein Saboraner rannte auf ihn zu und wollte ihm keine Möglichkeit geben, sich zu schützen. Aber Jay war schneller. Sein Schwert wanderte in drehenden Kreisen über seinen Kopf und wehrte den Angriff ab. Es war so einfach für ihn, als würde er bloß eine Feder halten.

„Es sind verflucht viele", meinte Tristan hinter Jay und rang nach Luft. Eine Weile konnten sie gegen viele Gegner kämpfen, aber irgendwann würden sie die Stellung nicht mehr halten können.
„Ich will den anderen noch ein bisschen mehr Vorsprung geben."
„Sinnlos. Hier gehen wir nur drauf. Du musst nach Namalia zurück."
„Nicht jetzt", gab Jay als Antwort und versuchte sich während der Unterhaltung zu verteidigen.

„Ich weiß, wie wir sie aufhalten können."
„Ach ja?"
Jay wagte einen flüchtigen Blick zu seinem Freund. Dieser strahlte hämisch und hob ein aus Tierhaut bestehendes Pulversäckchen hoch. Das Pulver darin war schwarz und sehr leicht entzündbar, wies dabei eine Explosionskraft auf, um ein ganzes Haus zu zerschmettern.

„Du bist..irre", sagte Jay, schmunzelte aber vergnügt.
„Ich versuche es unbemerkt zwischen die Häuser zu bringen. Ein gezielter Schuss von Alain und die Saboraner sind erledigt."
„Ich helfe dir."
„Nein. Du musst mir den Rücken hier frei halten. Lass sie nicht in meine Nähe, bis ich fertig bin. Danach locke sie zu den Häusern."

Tristan bewegte sich auf drei Häuser zu. Während Jay ihm Deckung gab, versuchte er einige Säckchen von dem hoch explosiven Pulver in der Nähe der Häuser aufzustellen. Er platzierte sie so, dass ein gezielter Pfeil von Alain sie treffen konnte.

Jay hatte langsam Schwierigkeiten die Saboraner zurück zu drängen. Immer mehr wollten ihn bezwingen und ihn überwältigen. Tristan musste sich beeilen, sonst würde sein Plan nicht aufgehen.
Dann endlich gab er Jay das Zeichen sich langsam zurück zu ziehen. Jay wies Ram und Alain an ihm zu folgen. Sie ließen die Häuser hinter sich. Die Saboraner folgten ihnen natürlich und Tristans Plan schien aufzugehen.

„Alain, jetzt!", befahl Jay seinem Freund.
Alain hob seinen Bogen. Er hatte die schärfsten Augen und die ruhigsten Hände. Er würde mit Sicherheit treffen. Ram entflammte die in Öl getränkte Pfeilspitze. Konzentriert nahm Alain sein Ziel ins Auge. Er spannte die Schnur, zog den Pfeil zurück und atmete langsam. Dann schnellte der Pfeil durch die Luft und traf ein Pulversäckchen genau. Dieses explodierte und riss einige Saboraner von den Füßen.
„Gut so, nun das nächste."

Jay und die anderen gaben Alain Schutz. Sie hielten die Saboraner in Schach, damit er freie Hand zum Schießen hatte. Dann flogen weitere Pfeile durch die Luft. Diesmal waren es die Saboraner, die das Feuer eröffneten.

Sie stellten Bogenschützen nach vorne, als sie die Absicht der Krieger erkannt hatten. Schnell gingen diese in Deckung. Auch Alain konnte nicht mehr schießen.
„Mist!", fluchte er. „Ich hab viel zu wenige getroffen."
„Macht nichts. Es sind einfach zu viele."

Tristan lehnte an die Holzwand eines Hauses und schnaubte. Jay hatte einen Gedanken. Es kam aber schon fast einem Selbstmord gleich. „Da bleibt nur noch die Möglichkeit sie aus der Nähe zu entzünden."
„Aus der Nähe?", fragte Ram schockiert, als er Jays Gedanken verstand.
„Ja. Einer von uns wagt sich zu dem Pulver und zündet es an, während die anderen ihm Feuerschutz geben."

„Und wer meldet sich freiwillig für dieses Selbstmordkommando?"
„Ich mache das", sagte Tristan entschlossen.
„Wie du willst. Aber sei vorsichtig."
„Es ist jetzt keine Zeit für Vorsicht. Ich verlasse mich auf eure Hilfe."
Damit schnellte Tristan aus seiner Deckung hervor und eilte zu den hoch explosiven Säckchen.

„Los! Gebt ihm Deckung!", rief Jay energisch, nahm seinen Bogen und schoss. Der Reihe nach fielen die Saboraner.
„Vier... fünf...", zählte Ram neben ihm. Er wandte sich grinsend an Alain. „Wie viele hast du?"

„Zehn", antwortete Alain so trocken wie immer. Das Grinsen verschwand aus Rams Gesicht.
„Könnt ihr beide es denn nie lassen?", fragte Jay und schoss den nächsten Pfeil ab.
„Ich schwöre dir Jay, eines Tages gewinne ich gegen ihn."
„Vergiss es! Du wirst Alain niemals mit dem Bogen schlagen."
Ram verzog das Gesicht. Das wusste Jay auch ohne ihn anzusehen.

Tristan steckte eines der Pulversäckchen an und begab sich außerhalb ihres Explosionsradius. Ihm blieb nicht viel Zeit dafür, was die Sache so verdammt gefährlich machte. Das Pulver ging hoch und das explodierende Haus riss einige Feinde in den Tod. Das hatte schonmal funktioniert. Zufrieden und erleichtert Tristan wohl auf zwischen den Häusern huschen zu sehen spannte Jay wieder seinen Bogen.

Auf einmal erkannte er etwas hinter den vielen Saboranern. Eine ungewöhnliche Gestalt erschien und fixierte Jay eiskalt.
Er hielt inne und starrte auf den Mann, der sich langsam auf die Krieger zu bewegte.
Die Saboraner stoppten ihren Angriff und wichen zur Seite. Der Mann war niemand anderes als Satjin persönlich - der Anführer der saboranischen Armee.

Ein schwarzhaariger Mann, nicht älter als Jay, aber mindestens genauso ruhmreich und stark. Seine kräftige Statur ließ ihn um einiges älter erscheinen und die blasse Haut wurde von einer schillernden Kriegsrüstung bedeckt, die ihn wie ein Koloss aussehen ließ.

Seine kalten eisblauen Augen schüchterten so manchen Feind ein. Wenn nicht sie, dann sein Narbengesicht, welches er schon von Kindheit an trug. Er war nicht nach Dokrat unterwegs, so wie Jay vermutet hatte. Er war genau hier, direkt vor ihm und lächelte grimmig zu ihm herüber. Hinter ihm tauchte Jeremy auf, ebenfalls hämisch grinsend.

„Sag deinen Männern sie sollen das Feuer einstellen!", befahl Satjin Jay.
Dieser stand neben sich. Wütend starrte er seinen Feind an. Wollte auf ihn losstürmen und ihn erledigen. Keine gute Idee. Er hatte zu viele Saboraner um sich herum. Sie würden Jay sofort töten.

Die Krieger stoppten tatsächlich ihren Angriff. Sie warteten auf den nächsten Schritt des Feindes. Satjin stellte sich vor seine Männer. Er hatte sich nicht stark bewaffnet. Die Rüstung diente lediglich zur Einschüchterung.
Sein größter Schutz waren die anderen Saboraner und Jeremy, der seinen Leibwächter spielte. Wären diese nicht hätte Jay Satjin in nur wenigen Sekunden überwältigen können. Seine Finger umfassten den Bogen wie den Griff seines Schwertes.

„Welch eine Freude, euch zu sehen. Ich habe mir gedacht, dass ihr früher oder später hier auftaucht."
Satjin grinste die ganze Zeit, während er sprach. „Dein Plan ist aufgegangen, Jeremy."
Er wechselte einen flüchtigen Blick mit seinem Handlanger.

„Nicht ganz", sagte Ram wütend. „immerhin sind wir noch am leben. Ich nehme mal an sein Plan war uns zu töten. Pech für euch, wir atmen noch."
„Nicht mehr lange."
„Oh doch. Wir werden euch nicht vorbei lassen!"

Jay bewunderte Ram für seinen Mut mit Satjin zu sprechen. Aber es sah ihm ähnlich etwas mutiges und gleichzeitig törichtes anzustellen. Hoffentlich reizte er Satjin nicht unnötig.
Zu ihrem Vorteil hatte sich Tristan hinter einem der Häuser versteckt. Es war nun an ihm Satjin von der Seite überraschend anzugreifen. Worauf wartete er denn? Es war die perfekte Gelegenheit.

„Und wer sollte mich daran hindern? Du etwa?"
Satjins Grinsen wurde breiter. „Oder euer Freund hier."
Schockiert sahen die Krieger auf Tristan, der von zwei Saboranern neben Satjin geschleppt wurde. Sie hatten ihn entwaffnet und hielten ihn an beiden Armen fest, sodass er sich nicht viel wehren konnte. Er schenkte Jay nur einen entschuldigenden Blick.
„Hast du geglaubt, ich würde ihn nicht bemerken?"

„Verdammt, Tristan!", schimpfte Ram neben Jay verzweifelt.
„Lass ihn gehen, Satjin."
Jays Stimme war gereizt.
„Sonst was? Was willst du tun, Jay? Das, was du immer tust... nämlich nichts? Willst du wieder wegrennen und dich verstecken?"

Jay sagte nichts. Starrte Satjin nur wütend an.
„Renne ruhig weg, zu deinem General. Glaubst du, du kannst ihm mehr vertrauen, als mir? Dem Mann, der dich dein ganzes Leben lang belogen hat."
„Halt den Mund!"
„Der Mann, der deine Eltern getötet hat."
„Halt deine verdammte Klappe, du warst derjenige, der sie getötet hat. Du bist ihr Mörder."

„Nicht doch. Ich habe die Menschen getötet, von denen du angenommen hast, sie seien deine Eltern. Aber General Thamgeir hat deine wahren Eltern auf dem Gewissen."
Jay war verwirrt und für einen kurzen Moment kam er ins Zögern.
„Was soll das heißen? Willst du einen Zwiespalt zwischen uns bringen? Mit welchen Mitteln du mich auch immer einschüchtern willst, es gelingt dir nicht."

„Geh zu ihm und frag ihn. Frag ihn, ob ich Recht habe. Du wirst sehen, dass ich nicht lüge."
„Du lügst wenn du nur den Mund auf machst", kam es von Tristan. Sogleich bekam er von Jeremy einen Hieb in den Magen.
„Oh die tapferen Krieger Tamarans. Ihr seid nichts im Vergleich zu den Saboranern. Ihr werdet mich nicht aufhalten können."

Jay war verunsichert. Er hatte keinen Grund Satjin zu glauben. Doch warum würde er Jay so etwas erzählen, wenn nicht ein Funke Wahrheit dran wäre?
„Und du, du bist kein Tamaraner Jay. Auch kein Nidaver. Dachtest du wirklich deine Wurzeln liegen in einem so schwachen Land? Sieh dich doch an. Du hast nicht das Blut
eines Nidavers und nicht die Haut eines Tamaraners."

„Sei endlich still!", rief Jay voller Zorn.
Seine Hände zitterten.
„Jay, verschwindet von hier. Ihr könnt nichts gegen sie machen."
Tristan klang halb erstickt, weil ein Saboraner einen Arm um seinen Hals gelegt hatte. Damit wollte er nur verhindern, dass sich Tristan seinem Griff entwand.

„Nein. Ich lasse mich nicht verjagen."
„Sei nicht dumm, Jay! Verschwinde und bring die Dorfbewohner in Sicherheit. Ich komme schon klar, keine Sorge."
„Tristan du lügst doch."
Ram schien verzweifelt. Noch verzweifelter als Jay in dieser Sekunde war.
Wieder kassierte Tristan einen Schlag. Und noch einen.

„Ihr verdammten Feiglinge. Wenn ihr richtige Männer wäret, dann würdet ihr mir in einem fairen Kampf gegenüber treten."
Tristan spuckte den Saboranern entgegen. Und schon wieder schlug jemand auf Tristan ein. Diesmal sackte er stöhnend auf die Knie. Die zwei Saboraner, die ihn festgehalten hatten zogen ihn ganz schnell wieder auf die Beine.

„Ihr seid Feiglinge, verdammte Feiglinge."
Jay wusste Tristan würde nicht länger leben, wenn er die Saboraner weiterhin provozierte.
„Du, Satjin, du bist der allergrößte von ihnen."
Tristans Blick war direkt auf den Saboranischen General gerichtet. Wütend und entschlossen. Dann wandte er sich seinen Freunden zu. Jay erwiderte seinen Blick und verstand. Er wusste was Tristan vor hatte. Nur war es der falsche Zeitpunkt und absolut gefährlich. Er wollte losbrüllen und seinen Freund aufhalten, da war es schon zu spät.

In der nächsten Sekunde entwand sich Tristan den Saboranern und schlug sie nieder. Er nahm dem einen Saboraner, der ihn zuvor entwaffnet hatte, sein Schwert ab und griff Satjin persönlich an. Sofort reagierte Jay. Er fasste Ram am Arm und zog ihn mit sich.
„Weg hier!"
Ram wollte nicht gehen.
„Aber was ist mit Tristan?"

„Er verschafft uns Zeit. Wenn wir nicht verschwinden, sind wir gleich alle tot."
„Aber,..."
Ram wollte protestieren. Da packte ihn Alain auch.
„Nimm die Beine in die Hand. Wenn wir nicht abhauen, riskiert Tristan alles umsonst."

Jay konnte Ram bestens verstehen. Auch ihm widerstrebte es Tristan zurück zu lassen. Nur würde er ihnen keine zweite Gelegenheit zur Flucht geben können. Also ließen sie die Häuser hinter sich und zogen sich zurück.
Ein Pfiff und ihre Pferde kamen zu ihnen. Schnell sprang Jay auf, immer noch sein Schwert in der Hand. Dann wandte er sich zu Tristan um. Er kämpfte gegen Satjin an.

Auch wenn es nach geschickten und fließenden Bewegungen aussah, wusste Jay welch großen Nachteil  sein Freund hatte. Gegen Satjins Rüstung würde er nicht ankommen.

„Komm!", mahnte Alain hinter Jay.
Er warf noch einen letzten Blick zu Tristan. Dieser hatte kapitulierend sein Schwert fallen gelassen. Sein Schicksal war besiegelt.
„Verschwinde, Jay!", rief er ihm zu.

In diesem Moment öffnete Jay sein Channa. Er ließ es zu, dass Tristans Gefühle wie ein Sturm auf in heranströmten.
Im nächsten Moment durchbohrte Satjins Klinge Tristans Körper und er sank nieder.
Auch Jay zuckte schmerzvoll zusammen, während seine Augen an der Szene festhielten. Nicht nur durch den Stoß der Klinge, den er ebenfalls spürte.
Es war der unbeschreibliche Schmerz des Verlustes und eine schreckliche Angst überfiel den Krieger, der verzweifelt auf seinen gefallenen Gefährten starrte.

„Tristan!", rief Ram verzweifelt, wohl wissend, dass er nichts tun konnte.
Jay kniff kurz die Augen zusammen und stöhnte geschwächt. Dann fasste er all seine restliche Kraft zusammen, um sich abzuwenden. Sein Pferd drehte sich und lief davon.
Sein Herz flatterte zurück zu Tristan, umarmte ihn tröstend und schenkte ihm Kraft.

Ram wendete sich ebenfalls ab. Auch seinen Schmerz spürte Jay. Es war erdrückend und plötzlich hielt er es für keine gute Idee alles zu spüren. Doch wollte Jay den Schmerz mit ihnen teilen und sich nicht feige verstecken und all seine Gefühle einsperren.
Sie hielten sich tapfer, um die hilflosen Zivilisten nach Namalia zurück zu begleiten.


~



Sanjana lief so schnell sie konnte die Treppe hinunter. Das hellblaue Kleid flatterte hinter ihr her. Die flachen Schuhe machten kaum einen Laut auf dem Teppich, der sich über die breiten Stufen zog.

Ihr Herz pochte wie wild. Es war fast ein ganzer Tag vergangen, seid die Krieger nach Santurin aufgebrochen waren. Dass sie schon zurück waren, konnte sowohl ein gutes, als auch ein schlechtes Zeichen sein. Zumindest hatte Sanjana sie so schnell nicht zurück erwartet.

Ihr Vater stand erwartungsvoll auf den Stufen vor dem Haus. Samara stand vor ihm. Sanjana blieb in der Eingangstür stehen und sah, wie Ram und Alain auf den Hof ritten. Sie hielten ihre Pferde vor dem Haupthaus an und stiegen ab. Sie schienen unversehrt, ganz im Gegensatz zu ihrer schwarzen Kleidung, die vor Matsch schon fast braun wirkte.
Ihre Stiefel waren feucht, die Umhänge hingen ebenfalls nass an ihren Rücken herunter, es klebte aber den Göttern sei Dank kein Blut an ihnen.

Unruhig wanderte Sanjanas Blick hinter sie. Sie sah die Flüchtlinge hinter dem Tor. Der Auftrag war also erfolgreich. Nur sahen die Krieger mitgenommen aus. Gab es ein Gefecht? Wie schlimm mochte es gewesen sein? Und mit wem haben sie gefochten? Waren Saboraner in der Nähe? Möglicherweise sogar Jeremy?
Die Spannung war kaum zu ertragen.

Sanjanas Blick fiel auf Ram und sie erschrak. Sein Gesicht war nicht wie üblich. Auch Alain, der immer ruhig und undurchsichtig schien, gab eine seltsame Ausstrahlung preis. Wenn Krieger Dokrats so aussahen, dann war etwas geschehen. Etwas furchtbares.

„Ram, was ist passiert?", hörte Sanjana ihre Freundin fragen, die es ebenfalls erkannt hatte. Besorgt ging Samara auf die beiden Krieger zu. So auch Sanjana Vater.
„Junge, was zum Teufel ist geschehen? Sprecht rasch."

„Es war eine Falle, Herr. Sie haben uns schon erwartet."
„Wer?"
Rams Stimme zitterte:
„Satjin...seine Männer. Sie sind nicht nach Dokrat unterwegs. Das war bloß eine Ablenkung. Er hat sein Heer über die Grenze geschickt, um seinen wahren Aufenthaltsort zu verschleiern. Sie haben uns in einen Hinterhalt gelockt. Ich befürchte, wir werden
Namalia umgehend verlassen müssen."

„Was soll das heißen? Willst du sagen, ihr musstet gegen Satjin kämpfen?"
Ram nickte. Alain war die ganze Zeit neben Ram geblieben - wortlos wie immer. Nur war er jetzt unheimlich blass. Er packte den Bogen von seinem Rücken und ließ ihn lieblos auf den Kiesboden fallen. Es kümmerte ihn nicht.

„Ram,", begann Samara voller Sorge, „wo sind Tristan und Jay?"
Sanjana trat näher. Bei dieser Frage verkrampfte er sich. Er biss sich kurz auf die Unterlippe, bevor er antwortete: „Er ist tot..."
„Wer?", wollte Samara dringend wissen, doch Ram brachte es kaum über die Lippen.

„Wer ist tot?", fragte sie noch eindringlicher und packte ihn an seinem schmutzigen Umhang. Panisch klammerte sie sich fest und starrte in seine traurigen Augen.
Sanjana blieb das Herz stehen. Sie betete zu allen Göttern dieser Erde, dass Ram nicht von Jay sprach. Gleichzeitig war es für sie unvorstellbar, denn sie kannte Jays Talente.

„Tristan ist...tot", antwortete Ram nach einer gefühlten Ewigkeit.
Auch wenn er sich bemühte gefasst zu bleiben, konnte er nicht verhindern, dass eine Träne über seine Wange floss.
In diesem Augenblick zeigte sich, dass Krieger keine kalten und gefühllosen Hunde Dokrats waren. Vielleicht verdankten sie es sogar dem Channa, dass sie so viel Gefühl zeigen konnten. Sogar mehr, als manch normaler Mensch.

Samara hielt sich schockiert die Hand vor den Mund.
„Was?", fragte Sanjana leise. Sie konnte nicht glauben, was der Krieger gerade gesagt hatte.
„Sag, dass das nicht wahr ist."
Samara liefen die Tränen wie ein Wasserfall aus den Augen. Dennoch wollte sie es nicht glauben.
„Bitte, Ram, sag mir dass das nicht wahr ist. Das kann nicht sein..."
Ihr versagte die Stimme.

Sanjana zitterte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie faste sich an den Armen. Sie sah ihren Vater an, der ebenfalls
schockiert schien. Er konnte sein Entsetzen nur etwas besser verbergen.

„Wo ist Jay?", fragte Sama schluchzend. Sanjana hatte sich nicht getraut die Frage zu stellen. Nicht während ihr Vater neben ihr
stand. Er konnte es falsch verstehen. Und trotzdem machte sie sich gewaltige Sorgen um Jay. Tristan war sein bester Freund. Und nun war er...tot. Noch immer konnte sie es nicht fassen. Es ging Jay bestimmt schlecht. Nur wo war er?

„Er kümmert sich um die Leute aus Santurin."
„Major...", Sanjanas Vater wandte sich wieder an Ram, „ich möchte wissen, wie das passieren konnte."

Sanjana starrte ihren Vater an. Er konnte nicht im Ernst von den Männern verlangen ihren Verlust zu vergessen und ihm jetzt detailliert zu erzählen, wie ihr Freund gestorben war.
Ram kam nicht zu einer Antwort, denn in dem Moment ritt Jay auf den Hof. Er sprang elegant aus dem Sattel.

Ein anderer Krieger nahm ihm die Zügel seines Pferdes ab und führte es davon. Auch er war schmutzig, aber er schien unverletzt, was Sanjana sehr erleichterte und ihr Herz beruhigte.

„Jay!"
Sofort rannte Samara auf ihn zu, beachtete nicht den Schmutz an ihm und umarmte ihn weinend. Es schien sie nicht zu kümmern, dass es ihr eigentlich nicht zustand.

Er rührte sich nicht, sein Gesicht war - versteinert. Sie konnte nicht annähernd das fühlen, was er gerade empfinden musste.
Vorsichtig schob er die erschütterte Frau von sich weg. Sie schaute ihn fragend und besorgt an. Sanjana glaubte nicht, was sie als Nächstes sah.
Jay schenkte ihr ein beruhigendes und warmes Lächeln.
Es war erschreckend, was für eine Selbstbeherrschung dieser Mann hatte. Oder der Schock saß ihm zu tief in den Knochen.

Er streichelte Samara tröstend über den Kopf und kam dann auf Sanjanas Vater zu. Er presste die Faust aufs Herz und verneigte sich.
„Auftrag ausgeführt, General. Melde einen Verlust. Aber die Dorfbewohner sind in Sicherheit."

Der General erwiderte nichts auf diesen grenzenlosen Gehorsam und ging langsam auf ihn zu. Er bewunderte Jays innere Stärke und fasste seinen Schüler an den Schultern. Er zwang ihn sich aufrecht hinzustellen. Jay sah ihm nicht in die Augen. Er konnte es nicht.

„Schon gut, Jay. Es tut mir furchtbar leid. Ich habe es eben von Ram erfahren."
Noch immer sah Jay den General nicht an.
„Ich versichere dir, ich habe es nicht gewusst. Wenn ich etwas von einer Falle geahnt oder einen Verdacht gehabt hätte, dass Satjin sich in unserer Nähe aufhält, dann hätte ich euch nicht dort hin geschickt."

Sanjana sah ihren Vater ungläubig an. Jay würde niemals ihm die Schuld an Tristans Tod geben. So war er nicht. Auch wenn sie ihn nicht lange kannte, ihr Herz sagte ihr das.
Er schüttelte nur flüchtig den Kopf.
„Wir müssen hier weg. Bitte veranlasst, dass die Stadt evakuiert wird. Wenn Ihr erlaubt, würde ich mich, bis wir in Dokrat sind, weiterhin um die Sicherheit der Senatorin kümmern."

„Natürlich."
Der General sah den Krieger mit großer Sorge an. So hätte Sanjana gerne nur ein einziges Mal von ihm betrachtet werden wollen. Es zeigte ihr eine ehrliche und deutliche Verbindung zwischen den beiden.

Jay verneigte sich erneut und ging an Sanjanas Vater vorbei. Vor ihr blieb er kurz stehen und sie konnte einen Blick in seine Augen werfen. Sie waren ausdruckslos und grau. So grau wie der Himmel über ihnen. Wortlos ging Jay ins Haus.

„Warte, Jay!", rief ihr Vater und folgte ihm.
„Gib mir noch einen Moment. Es ist mir wichtig, dass du es verstehst. Ich bin wirklich untröstlich, wegen Tristan..."

„Erwähne ihn nicht!", sagte Jay wütend. Überrascht blieb Mohan stehen. Sanjana war den beiden gefolgt. Jay stand mitten in der
Halle und hatte ihrem Vater den Rücken zugewandt. Dieser stand ein paar Meter hinter ihm. Eine gefühlte Ewigkeit standen beide schweigsam in der Halle. Irgendetwas stimmte nicht, Sanjana konnte Jays Anspannung sehen.

„Mohan, kannst du für einen Moment nicht mein General sein?"
Sanjanas Vater schien verblüfft, antwortete aber: „Ja, natürlich."
Jay drehte sich zu ihm um. Bei seinem Gesichtsausdruck wäre Sanjana beinahe umgekippt. Er schien verwirrt, wütend, traurig,
verletzt...alles auf einmal. Da war ihr die kalte Maske doch lieber.

„Wer bin ich für dich?"
„Wie meinst du das?"
„Ich meine... wer bin ich? Wer sind meine Eltern?"
„Ich verstehe nicht was die Frage soll, Jay. Ich habe deine Eltern nicht gekannt."
„Wirklich nicht?"
Jay klang nicht überzeugt.
„Würdest du dich bitte erklären."
„Hast du meine Eltern umgebracht, Mohan?"
Fassungslos starrte Sanjana Jay an. Er war kaum wieder zu erkennen. Wie konnte er ihren Vater nur so etwas fragen.

Auch Mohan schien konsterniert. Es dauerte eine Weile, bis er die Fassung wieder fand.
„Was hat dir Satjin erzählt?"
Nun wanderte Sanjanas entsetzter Blick auf ihren Vater.
„Er hatte nicht viel Zeit mir was zu erzählen, bevor er Tristan sein Schwert in den Leib gerammt hat."

Jay klang so zornig und verletzt, dass Sanjana eine Gänsehaut bekam. Was um alles in der Welt war hier los?
„Sag mir nur, ob es stimmt."
Mohan schwieg lange. Er seufzte und sah Jay dann kläglich an.

„Ja, es stimmt. Ich habe deine Familie auf dem Gewissen. Aber das ist schon ewig her."
Sanjana schnappte nach Luft.
„Egal wie lange es her ist. Warum...hast du mir das nicht gesagt?"

„Weil du keine Ahnung davon haben solltest. Deine Eltern hatten den Tod verdient. Und dich habe ich gerettet. Ich hoffte, dass du anders wärst als sie. Dass du nicht zu dem Tyrannen werden würdest, wie es dein Vater war", rechtfertigte sich Mohan aufgebracht.

Anschließend fuhr er ruhiger fort:
„Ich habe eine Zeit lang für deine Familie gearbeitet. Ich kannte deinen Vater als sehr schlechten Menschen. Er war ungerecht und kaltherzig. Deine Mutter war eine ehrgeizige und arrogante Frau. Sie unterstützte deinen Vater in allen Belangen. Sie schreckten vor nichts zurück. Du warst gerade ein Jahr alt, als ich beschloss sie zu verraten und zu... zu töten. Anschließend habe ich dich mit mir genommen und nach Nidava gebracht. Zu einer Familie, bei der du anders aufwachsen solltest."

„Nachdem Nidava gefallen war, hast du mich gesucht und nach Dokrat gebracht", schlussfolgerte Jay richtig.
Mohan nickte.
„Wer waren meine richtigen Eltern?"
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß, du wirst mir das niemals verzeihen. Aber ich kann dir nicht mehr dazu sagen."

„Warum willst du mir nicht mehr sagen? Warum nicht, Mohan? Habe ich nicht die Wahrheit verdient? Reicht es nicht schon, dass du mich mein ganzes Leben belogen hast? Musst du mich immer noch weiter belügen?"

„Hasse mich dafür, Jay. Ich werde dir aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr dazu sagen. Fürs Erste müssen wir die Stadt verlassen und Sanjana in Sicherheit bringen. Es wäre ein zu großer Verlust für Dokrat sie zu verlieren."
Jays Gesicht wurde weicher als seine grauen Augen für einen Moment bei ihr hängen blieben.

„Ich weiß nicht, ob sie es verdient hatten, dass du sie tötest...aber ich werde dir niemals vergeben, dass du mir mein ganzes Leben etwas vorgemacht hast."
„Ich habe dich gerettet. Hätte ich dich bei deiner Familie gelassen, dann wärst du heute jemand anderes. Ich habe dich aus Nidava von der Straße geholt, dir ein Dach über dem Kopf gegeben und dich ausgebildet. Du hast alles von mir bekommen. Ich habe dir mein ganzes Leben, all meine Zeit gewidmet. Ja ich habe für dich sogar meine Tochter vernachlässigt."

„Was hast du?"
Jays Zorn wurde noch größer. „Gibst du mir die Schuld an deinem Verhältnis zu ihr?"
„Ich gebe dir keinerlei Schuld. Ich sage nur, dass du mir sehr viel verdankst und dass ich all meine Zeit für dich geopfert habe, anstelle sie meiner Tochter zu widmen."

„Ja, Mohan, ich verdanke dir unheimlich viel."
Jay klang bis zum Abschlag gereizt.
„Bis zum Schluss hast du mich zum Narren gehalten. Ich weiß nicht einmal mehr wer ich bin. Bis heute, war es das einzige, woran ich mich festhalten konnte. Ich habe eine Familie verloren, von der ich ausging, das sie mich liebt. Aber seit heute habe ich keinen Halt mehr. Du warst immer wie ein Vater für mich. Das ist jetzt vorbei, ich kann dir nicht mehr vertrauen. Und Tristan habe ich auch verloren."

„An seinem Tod trage ich wirklich keine Schuld."
„Nein. Dafür ist Satjin verantwortlich, in der Tat."
Beide schwiegen. Schließlich wandte sich Jay zu Sanjana.
„Kommt, Mylady. Sehen wir zu, dass Satjin nicht noch jemanden umbringt."

Jay wies sie an nach oben zu gehen. Sie wagte nicht etwas zu sagen. Sie konnte nicht recht nachvollziehen, wie ihr Vater so handeln konnte. Dass Jay wütend war, verstand sie vollkommen.
Anscheinend hatte Satjin mehr angerichtet, als nur jemanden zu töten. Er hatte nicht nur Tristan auf dem Gewissen. Er hatte Jay auch eine furchtbare Wahrheit anvertraut. Zu dumm, dass er es war, von dem Jay es erfahren musste.

Schweigend folgte Sanjana Jay zu ihren Gemächern. Unterwegs bat er ihre Dienerinnen ihnen zu folgen.
„Sorgt dafür, dass die Senatorin andere Kleider bekommt. Beschafft etwas einfaches, bäuerliches. Eine Schürze, Tücher und einfache Lederschuhe. Beeilung!"

Sofort taten die Dienerinnen, wie Jay ihnen befohlen und eilten hinaus.
„Was hast du vor?", fragte Sanjana vorsichtig.
„Dich in eine einfache Frau verwandeln."
„Warum?"
„Ich möchte, dass du so wenig wie möglich da draußen auffällst."

Es klopfte und die Dienerinnen kamen zurück.
„Ist das recht so?", fragte ihn eine.
Jay musterte die Kleider und nickte.
„Zieht ihr das an. Lasst sie möglichst normal aussehen."
Dann verließ Jay für eine Weile die Gemächer. Sanjana hatte ihm noch besorgt nachgeschaut. Dann konzentrierte sie sich darauf seine Anordnung auszuführen.



~



Samara saß auf der Veranda. Sie hatte das Kinn auf die Arme gestützt und starrte in den Garten. Es war kalt. Trotzdem trug sie nur ihr einfaches Kleid. Keine Decke, kein Umhang konnten sie wärmen. Ihr war innerlich noch viel kälter. Sie hatte das Gefühl ihre heißen Tränen würden gefrieren, sobald sie an die Luft kamen. Nicht weil es so kalt war. Nein, weil ihr Herz gefroren war. Zumindest fühlte es sich so an. Sie konnte ihre Gefühle nicht beherrschen.

Seid einer geraumen Weile saß sie schon dort und dachte an nichts. Nur an Tristan. Ihre Augen wollten einfach nicht trocknen.
Wie sie da saß, bemerkte sie nicht, wie Ram zu ihr kam. Erst als er sich neben sie setzte, schaute sie ihn an.

Sobald sie ihn sah überkam sie wieder eine Welle der Tränen. Er schaute sie mit den selben Kummer erfüllten Augen an. Jetzt gerade war er ganz er selbst. Nicht verstellt, nicht unergründlich und gefühllos. Er war ihr Ram. Als er sich versichert hatte, dass niemand sie beobachtete nahm er sie in den Arm und wischte ihre Tränen mit den Händen weg.

„Weine ruhig, Sama. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte das auch tun."
„Ram, ich ertrage diesen Kummer nicht. Ich kann immer noch nicht fassen, dass Tristan nie wieder kommt. Für dich muss es ja noch schlimmer sein. Du bist seid deiner Kindheit mit ihm zusammen gewesen. Ihr habt zusammen gekämpft und vieles zusammen erlebt. Gab es denn wirklich keine Möglichkeit ihn zu retten?"

Ram schüttelte den Kopf. „Es waren zu viele Saboraner. Er hat uns die Zeit gegeben zu entkommen, indem er Satjin angegriffen hat. So konnten wir noch fliehen. Er ist heldenhaft gestorben."

„Ich hasse diese verdammten Saboraner. Warum können sie Tamaran nicht endlich in Ruhe lassen? Warum müssen sie so brutal sein?"
„Das frage ich mich jeden Tag, Sama. Jeder von uns tut das. Aber Zeit zum trauern bleibt uns nicht. Die Saboraner werden vielleicht auch nach Namalia kommen."

„Ich glaube das nicht. Sie sind feige und werden wieder aus dem Hinterhalt angreifen, wenn wir unterwegs sind."
Ram schenkte ihr ein warmes Lächeln.
„Vermutlich hast du sogar Recht. Aber hier bleiben können wir auch nicht. Auf Dauer könnten eine Hand voll Krieger und ein paar Soldaten nicht die Stadt verteidigen."
„Das stimmt", sagte Samara und schluchzte wieder.

„Komm, trockne deine Tränen und mach dich bereit zum Aufbruch. Wird Zeit, dass wir den Saboranern einen richtigen Denkzettel geben."
Ram stand motiviert auf. Woher nahm er nur die Kraft?
„Danke, Ram."
„Wofür?"
„Für...alles."
Samara wagte ein schwaches Lächeln.

„Sama, ich bin immer für dich da, das weißt du. Nur weil ich meine Gefühle verberge, heißt das nicht, dass ich nichts für dich empfinde."
„Ich weiß, Ram...ich weiß."
Sie streichelte verständnisvoll seine Wange.
„Eines Tages, wenn wir den Krieg überstanden und diesen ganzen bösen Alptraum hinter uns gelassen haben, dann werde ich immer noch auf dich warten."

Sein Lächeln wurde breiter. Er nahm ihre Hand und küsste sie auf den Handrücken.
„Ist das ein Versprechen?", hauchte er auf ihre Haut. Samara errötete und sagte schmunzelnd: „Ja."
Und wieder hatte Ram sie getröstet. Wieder hatte er ihre Tränen in eine Lächeln verwandelt. Lag das daran, dass sie ihn so sehr mochte oder hatte er einfach ein Talent dafür?

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