Siebzehn

Er wusste es! Darian wusste es! Vermutlich, weil er ihren Vater kannte und ihre Mutter ebenfalls. Allein Sanjana zu kennen würde genügen, denn angeblich sah Maya so aus wie sie. Sie selbst hatte das nie so gesehen. Vielleicht ein bisschen. Ady - wie Maya ihren Bruder manchmal nannte, wenn sie unter sich waren - war Jay wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch Maya sah ihrer Mutter nicht so ähnlich. Wenn man ihr gesagt hätte ihre Augen würden wie die ihres Vaters aussehen, hätte sie das sofort akzeptiert.

Nun schaute sie mit ihren grau-grünen Augen auf den Kaiser von Amania. Er lächelte immer noch zufrieden. Wenn er wenigstens wie eine dreiköpfige Seeschlange ausgesehen hätte, wäre es Maya leichter gefallen das Monster in ihm zu sehen. Doch auf den ersten Blick sah er fast harmlos aus. Solange bis er den Mund aufmachte.

„Ich bin überwältigt, Antonio. So hast du dich wiedererwartend doch einmal als nützlich erwiesen. Deshalb muss ich vorerst davon absehen dich umzubringen. Ein weiteres Versagen hätte ich dir nicht durchgehen lassen. Doch mit diesem Geschenk hast du mein Vertrauen in deine minder entwickelten Fertigkeiten wieder hergestellt."

Darian klopfte Antonio einmal auf die Schulter. Dieser nickte dankend. „Ihr seid zu gütig, Herr."
Antonio war auf einmal so anders in Darians Gegenwart. Überhaupt nicht mehr mutig, gar nicht mehr selbstbewusst und stark. Er wirkte wie ein verängstigter Hund, der einmal zu oft geschlagen worden war.

„Nun zu dir, meine Teuerste", sprach Darian Maya direkt an. „Ich bin wahrlich entzückt deine Bekanntschaft zu machen." Sein dunkler Bart zuckte bei jeder Bewegung seiner Lippen. Sein übriges Gesicht wirkte fade, trotz seiner dunklen Haut. Er war bestimmt so alt wie Jay. Nur sah er nicht einmal halb so gut aus. Doch Maya hätte vermutlich alles an ihm hässlich gefunden, selbst wenn er gut aussehen würde.
Seine strahlend weißen Zähne blitzten geradezu aus seinem Mund hervor und bildeten einen starken Kontrast zum Rest von ihm.

„Es wird Zeit dich in meinen Palast zu bringen. Dort gibt es viel für dich zu tun." Darians Stimme war tief und ebenfalls akzentreich. Wer hatte ihn ihre Sprache gelehrt? Wie lange hatte er Skeliva schon ausspioniert, um solch gute Sprachkenntnisse zu haben? Damit war er nicht der einzige in Amania. Doch hätte Maya zu gerne erfahren, wer es ihnen beigebracht hatte.

Darian sah sie abwartend an. Sollte sie etwas darauf sagen? Sie war weder erfreut ihn zu sehen noch mit ihm zu gehen. Die Bilder der versenkten Schiffe waren noch allzu deutlich vor ihren Augen und brachten sie dazu diesen Mann mehr als nur zu hassen. Dafür, dass er Tristan und Alain umgebracht hatte. Dafür, dass er Antonio zu solch grauenvollen Taten zwang. Dafür, dass er ihn gefoltert hatte. Dafür, dass er Skeliva vernichten wollte und für alles, was er ihren Eltern angetan hatte.

„Ich weiß, dass du mich hast", sagte Darian auf einmal weniger freundlich. „Du hättest versuchen können mich aufzuhalten. Immerhin hast du die Macht dazu. Was ich vorhin sehen durfte, war nur ein kleiner Teil von deiner wahren Kraft."

Darian wusste nicht, dass Maya ihr Channa nur so halbwegs mit gutem Willen kontrollieren konnte. Es konnte auch jederzeit schief gehen.
„Nur gut, dass du es nicht getan hast. Ansonsten hätte ich Antonio für seine Unfähigkeit hinrichten lassen und zwar hier, auf der Stelle."

Zum ersten Mal, seit Darian sie angesprochen hatte, regte sich etwas in Mayas Gesicht. Sie ließ seine Rede unkommentiert, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihre Augen für eine winzige Sekunde zu Antonio hinüber zuckten. Allein das war ein Fehler. Sofort brachte sie ihr Gesicht wieder unter Kontrolle. Zwecklos. Darian hatte sie genau beobachtet. Schon wieder kamen ihr diese erschreckenden und niederschmetternden Worte in den Kopf: Er wusste es!

„Ich will sie an Bord meines Schiffes haben. Dort ist sie vorerst besser aufgehoben."
Für einen Moment hoffte Maya Antonio würde widersprechen, denn er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch er ließ es bleiben. So lagen seine gequälten Augen auf ihr, als Darians Soldaten sie von Bord seines Schiffes brachten. Maya schenkte ihm nur einen kalten Blick. Sie wollte ihn niemals wieder sehen.
Niemals! Egal ob gezwungen oder nicht. Die Schwere seines Verrates war einfach zu groß. Sie hasste ihn! Fast noch mehr als Darian.

Schweigsam und ohne Aufsehen ließ sie sich unter Deck einsperren und hoffte in irgend einem schwarzen Loch versinken zu dürfen. Wenn Antonio jemals wieder eine Waffe auf sie richtete, würde sie ihn sofort töten. Das schwor sie sich. Allein schon für Tristan und Alain. Sie hatten einen solchen Tod nicht verdient. Müde und traurig ergab sich Maya ihren Kummer und weinte. Sie merkte kaum, dass man bald auch Nika neben ihr in der Brig einsperrte.

Die sagte zum Glück nichts. Weder zur Situation noch zu Mayas Wasserfall an Tränen.
Wahrscheinlich machte sie ihr insgeheim lauter Vorwürfe. Sollte sie doch. Die machte Maya sich ja selbst. Ach wäre sie doch niemals von zu Hause fort gegangen. Dann wäre sie Antonio nicht begegnet. Dann würden Tristan und Alain noch leben und dann würde es nicht so wehtun.

~


Sie segelten den ganzen Tag durch und auch einen Teil der nächsten Nacht. Dann endlich wurde das Schiff langsamer. Es dauerte länger das große Schiff anzulegen und klar zu machen. Irgendwann kam jemand und brachte die beiden Frauen an Land.

Es war schon wieder so dunkel. Bis jetzt hatte Maya nicht viel außer Dunkelheit von Amenia kennen gelernt. Das kümmerte sie auch herzlich wenig. Sie plante ihre Flucht, sobald sie einen Fuß an Land gesetzt hatte. Darum schenkte sie ihrer Umgebung große Aufmerksamkeit. Leider sah sie nicht viel Hoffnung in einer Flucht. Die Schiffe lagen innerhalb von dicken, steinernen Mauern. Nur ein Eisentor diente als Zugang von der See aus. Es war gigantisch groß und wurde mithilfe vieler, vieler Sklaven geöffnet.
Sie trugen schwere Ketten, mit denen sie das gewaltige Eisentor aufzogen.

Um es zu schließen, drückten sie sich einfach dagegen. Als Anreiz stand ein Aufseher auf der Mauer und schlug mit einer Peitsche nach ihnen, wenn sie sich nicht genug anstrengten.
Vor ihr hob sich eine eindrucksvolle Festung in den schwarzen Himmel. An ihr fehlte jegliche Schönheit, jegliche Menschlichkeit. Es war ein zusammen gewürfelter Haufen von Steinen, der einfach nur mit Türmen und Mauern in den schwarzen Himmel ragte. Doch schüchterte die Festung jeden ein, der sie das erste Mal zu Gesicht bekam.

Zwei Männer brachten Nika und sie hinein. Drinnen war es ebenso kahl und vor allem dunkel. Ganz sicher passte das Gemäuer zu Darians schwarzer Seele. Sie gingen durch die leeren Gänge, an deren Wänden zahlreiche Halbsäulen und in den Stein eingearbeitete Muster zu erkennen waren. Das war so ziemlich die einzige Verzierung.

Jeder von Mayas Schritten wurde von den Steinen aufgenommen und zurück gesendet. Kaum jemand kam ihnen in diesem Teil der Festung entgegen. Bloß ein paar Wachen und zwei oder drei vermummte Gestalten, von denen man nichts weiter als ihre schwarz untermalten Augen zu sehen bekam.

Maya nahm an man würde sie ins Verlies sperren. Irrtum. Statt nach unten ging es sogar eine gewundene Treppe hinauf. An Anfang und am Ende der Balustrade grinsten Maya grimmige Kreaturen an. Sie hatten kleine, spitze Ohren und viel zu große Eckzähne. Ihre Augen wirkten so als würden sie aus ihren rundlichen Köpfen herausquellen und ihre Krallen bohrten sich förmlich in den Steinboden. Auf dem Rücken trugen sie angelegte Flügel. Was sollten sie darstellen?  Wer würde sich so etwas in Stein hauen lassen und bei sich zu Hause aufstellen? Dagegen wirkten die hellen und offenen Flure von Sonara geradezu lichtüberflutet und auf jeden Fall freundlicher.

Am Ende des Ganges erwartete sie eine Tür. Einer der Männer schloss sie auf und schob Nika hinein. Er wies sie an dort zu warten. Noch bevor Maya einen Blick hinein werfen konnte, wurde sie schon weiter geschoben. Der andere Mann drängte sie den Flur zurück und es ging weiter die Treppe hinauf, wo sie noch weitere Gruselgestalten erwarteten.

Wo waren sie? Es schien sich nicht um einen der Türme zu handeln, doch ging es noch ein ganzes Stück hinauf. Maya taten schon die Beine weh, als sie endlich ganz oben angekommen waren und vor einer großen, braunen Tür stehen blieben.
Diese war nicht verschlossen und wurde es auch nicht, nachdem der grimmige Kerl sie hinein geschoben hatte.

„Bleib hier. Darian wird dich am Morgen zu sich rufen."
Mehr sagte er nicht und ließ Maya allein. Es wunderte sie, dass er nicht die Tür verschloss. Sie blieb davor stehen, überlegte ob sie raus gehen sollte. Doch was nützte es ihr. Sie würde den Weg hinaus nicht mehr finden und wenn man sie erwischte, würde man sie vermutlich sehr hart bestrafen.

Es schien, als ob Darian sie geradewegs zu einer Flucht ermutigen wollte. Nur zwei Wachen hatten sie und Nika begleitet, keine verschlossenen Türen und auch sonst niemand auf dem Gang. Einfach perfekt, um heimlich zu entwischen. Erst recht für jemanden mit Mayas angeblich überragenden und außergewöhnlichen Fähigkeiten.

Vermutlich würde auf Maya irgendwo ein Hinterhalt warten, in den sie gedankenlos hineinlaufen sollte. Natürlich hatte dies nur den Hintergedanken sie anschließend zu peinigen und zu foltern, als gäbe es für die Menschen hier keine andere Freizeitbeschäftigung.

Sie würde nicht so leicht in diese Falle tappen. Also blieb sie einfach dort stehen und starrte die Tür wie eine Person an. Sie hatte ja sonst keinen, den sie ihrem Gemütszustand entsprechend anglupschen konnte. Dafür musste die böse Tür herhalten. Diese starrte frecher Weise auch noch zurück.

Plötzlich hörte sie ein Rascheln hinter sich. Sie hatte nicht erwartet in Gesellschaft zu sein und wirbelte perplex herum. Ihr blieb der Mund offen stehen, als sie die Person vor sich erkannte und für den Hauch einer Sekunde hielt sie es für Einbildung.
„Maya?"

Sie konnte ihren Augen kaum trauen. Vor ihr, in ein grünes Kleid gehüllt, das einer Königin würdig war, und einem sanften Lächeln stand Sanjana, Mayas Mutter. Ihre schwarzen Locken ähnelten denen ihrer Tochter und fielen ihr gewellt über die rechte Schulter. Auch die Gesichtszüge waren ähnlich. Nur die Augen waren braun statt grau.

„Mutter!", rief Maya und konnte es kaum glauben. In einem Ansturm von Gefühlen stürzte sie sich in die Arme ihrer so lang vermissten Mutter, der es absolut nicht anders ging.
„Oh Maya, du dürftest doch gar nicht hier sein. Wieso bist du hier?"
Sanjana drückte ihre Tochter ganz fest an sich und küsste sie auf den Scheitel ihrer zerzausten Haare.

„Ich habe dich so sehr vermisst, Mutter. Es ist so schön dich gesund und munter zu sehen."
Maya blickte auf, während die Hände ihrer Mutter ihr wirres Haar aus ihrem blassen Gesicht strichen.
„Was haben sie dir angetan?"
Sanjana schüttelte den Kopf. „Gar nichts. Du kannst unbesorgt sein, Darian hat mich nicht angerührt. Das wird er auch nicht, solange ich noch als Druckmittel fungieren soll. Doch war es mir unmöglich von hier fort zu gehen."

„Wie lange bist du schon hier?"
„Eine ganze Weile, mein Schatz."
Maya wischte sich die Freudentränen von der Wange. „Wir müssen hier weg. Es muss doch einen Weg geben dich hier raus zu holen."
Sanjana schüttelte den Kopf.
„Ich würde diesen Ort für nichts in der Welt verlassen."

„Wie darf ich das denn verstehen?"
„Darian weiß, dass ich niemals versuchen würde zu fliehen."
„Nun sag schon endlich warum", verlangte Maya ungeduldig.
„Komm mit mir. Ich werde dir etwas zeigen."
Sanjana fasste die Hand ihrer Tochter und führte sie aus dem Zimmer. Tatsächlich waren draußen nicht einmal Wachen aufgestellt. Was hatte das zu bedeuten?

Sie gingen den Flur entlang in ein weiteres Zimmer. Es glich einem Saal und war kaum eingerichtet. Drei große Fenster an der hinteren Wand spendeten Tagsüber wohl als einziges Licht. An den seitlichen Wänden standen ein paar Stühle und einige Tische mit medizinischen Gerätschaften. Maya hatte solche noch nie gesehen. Doch schienen sie nicht benutzt zu werden. Maya erkannte außerdem noch einige Flaschen und Tränke sowie eine Schale mit Wasser und einem Tuch daneben.

Allerdings waren nicht die seltsamen Geräte und sonstiger Kram der Grund für ihren seltsamen Aufschrei. Sanjana lächelte ihrer Tochter verständnisvoll zu und ging zu einem großen Felsbrocken, der auf bizarre Weise aus dem Boden hervor ragte, als sei er wie eine Pflanze daraus empor gewachsen.

Auf seiner abgeflachten Oberfläche saß mit angewinkelten Beinen und geschlossenen Augen niemand anderes als König Jay Mathur - Channajiu Meister von Skeliva, Sanjanas Ehemann und Mayas Vater.

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