Sieben
Der unruhige Wind tobte um die Felsen und peitschte Adytia den Schnee ins Gesicht. Die Kälte zwang ihn dazu sein Fell dicht zusammen zu halten.
Es war wohl der einzige Ort, an dem es immer Winter war. Vor ihm erhob sich die imposante Festung Tinuval aus dem Schnee und wirkte nicht gerade einladend.
Doch Jay hatte es vor langer Zeit auch dort hinein getrieben. Nur war Adytia heute um einiges verzweifelter. Er gab seinen Männern den Befehl aus dem Sattel zu steigen und ihre Pferde zu Fuß in die Festung zu bringen.
Vor dem Tor blieb er stehen und hämmerte entschlossen gegen das Eisen. Es dauerte, bis sich die Tür öffnete und ein Mann mit einer Kutte ihn hinein bat. So traten Adytia und seine Begleitet in die Festung. Dort ließ der tobende Wind nach. Der Mann führte sie über den verschneiten Hof, wo ihnen die Pferde abgenommen wurden. Dann begaben sich alle nach drinnen.
Dort kam ein weiterer Mann und verbeugte sich vor Adytia.
„Willkommen, Majestät." Er kannte Adytia offenbar. „Wir wissen um Euer Anliegen. Meister Magnus erwartet Euch bereits."
„Ich werde erwartet?"
„Gewiss. Ihr dürft mir folgen, doch Eure Begleiter müssen warten. Der Zutritt ist allein den Mitgliedern der königlichen Familie gewehrt."
Adytia verstand es noch nicht so recht, doch er folgte dem Mann mit der Kutte durch die Gänge. Er bog mehrere Male um die Ecke. Nach einer Weile konnte sich Adytia nicht mehr orientieren. Dann endlich blieb der Mann stehen und deutete auf eine Tür. Zögernd trat Adytia an ihm vorbei durch die Tür und fand sich kurz darauf in einem mit Regalen belagerten Raum wieder. Dort waren Jahrhunderte alte Bücher und Schriftrollen zu sehen, die drohten jeden Moment hinunter zu fallen. Des Weiteren stand da eine halbhohe Säule, auf der eine große Schale mit Wasser stand.
Adytia fuhr sich mit der Hand durchs nasse Haar und streifte es aus dem Gesicht. Aus dem Augenwinkel erhaschte er eine Bewegung. Ein Mann, ebenfalls in eine Kutte gehüllt, trat langsam auf ihn zu. Er ging gebeugt und zitternd. Adytia konnte nicht sagen, wie alt er war. Bestimmt steinalt. Er setzte seine Kapuze ab und brachte ein runzeliges Gesicht mit langem Bart zum Vorschein.
„Ich wusste, du würdest kommen." Seine Stimme klang rau und viel zu leise.
„Meister...Magnus?", fragte Adytia und konnte es kaum glauben. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann tatsächlich noch am Leben war. Ihn jetzt vor sich zu sehen war ein großartiges Gefühl. Es war lange her, dass er seinen Vater unterrichtet hatte.
„Du sieht's genauso aus wie er. Nur viel jünger." Er wage ein schwaches Lächeln. „Komm, setzen wir uns."
Adytia folgte Magnus durch den Raum. Er führte um eine Ecke und erschien größer, als erwartet. Magnus setzte sich in einen Sessel und Adytia nahm ihm gegenüber auf einer bequemen Bank platz.
„Möchtest du etwas zu trinken?"
Adytia bejahte und ließ sich einen Becher warmen Met geben.
„Nun, ich habe dich bereits erwartet. Auch wenn ich das Channa altersbedingt nicht mehr auf so hohem Niveau wie früher anwenden kann, habe ich es geahnt. Es ist zu viel passiert, nicht wahr?"
Adytia nickte. „Sag Magnus, ist mein Vater bei dir gewesen? Also in der Zeit mach meiner Krönung, meine ich."
Der alte Mann nickte schwach. Jedes seiner Worte brauchte Zeit. „Ja, er war hier und hat mich um Hilfe ersucht."
„Hilfe wofür?"
„Ich habe ihn damals so oft vor dem Channa gewarnt. Es kann so viel Gutes bewirken. Trotzdem ist es gefährlich. Wenn es sich über kurze Zeit zu schnell entwickelt, kann das böse Folgen haben. Bei deinem Vater war es so. Er hat sich selbst für seinen Traum aufgegeben. Er war immer schon selbstlos, aber kein Mensch besaß jemals so viel Liebe für sein Volk und seine Familie. Das muss ich dir wohl nicht sagen."
Adytia lächelte, doch Magnus fuhr schon fort.
„Er wusste, dass es ihn am Ende zerstören würde. Deshalb ist er auch zu mir gekommen. Doch ich konnte ihm lediglich mehr Zeit verschaffen, indem ich ihn lehrte durch Meditation gegen die Dunkelheit anzukämpfen. Doch irgendwann hat ihn sein eigenes Channa um den Verstand gebracht. Er ist fortgegangen, bevor er seine Familie und alles, was er aufgebaut hatte vernichten konnte."
Adytias Brust zog sich zusammen. Magnus Worte waren schwer und machten ihn unglaublich traurig. „Heißt das, mein Vater ist tot?"
„Nein, er lebt. Zumindest sein Körper. Doch ist er nicht mehr er selbst. Er hat sich dort draußen verloren. Zumindest glaube ich das. Es ist schon so lange her."
„Weißt du, wo er ist? Kann man ihm helfen?"
„Ich kann ihn leider nicht mehr suchen. Ich bin zu schwach, um in den Spiegel zu schauen." Magnus Blick wanderte zu der Schale hinüber. Adytia verstand nicht, was er damit meinte. „Ich weiß auch nicht, ob man Jay noch helfen kann."
„Bitte Magnus, ich muss ihn finden. Er und Sanjana sind seit Jahren verschwunden. Ich möchte wenigstens herausfinden, was mit ihnen passiert ist."
„Natürlich möchtest du das. Du bist sogar der Einzige, der sie finden kann."
„Wie meinst du das?"
„So weit ich weiß, hat dir dein Vater mehr als nur ein Königreich hinterlassen. Er hat dir auch sein Blut vererbt. Du hast das mächtige Channa von ihm geerbt. Du bist der Erbe der Chnnajiu. Mit diesen Fähigkeiten solltest du in der Lage sein Jay zu finden."
„Meister, ich bezweifle, dass mein Channa stark genug ist. Es war bisher auch nicht besonders überragend."
„Nur weil du nicht gelernt hast es intensiv zu nutzen. Allein in Tinuval kannst du ein wahrer Channajiu werden, so wie dein Vater. Er und seine Freunde haben sich alle hier der Ausbildung hingegeben. Nun bist du an der Reihe. Ich werde dich als meinen letzten Schüler unterrichten. Dann wirst du das Channa weitergeben und jene unterrichten, die dazu bereit sind es auf die richtige Weise einzusetzen. Doch warne ich dich, genauso wie Jay damals. Lass deine innere Kraft niemals unkontrolliert wachsen. Wenn du das Gefühl hast die Kontrolle zu verlieren, komm hier her und meditiere. Dann wird sich dein Körper wieder beruhigen und du kannst von vorn anfangen."
„Ich habe verstanden."
„Ach und was deine ausgerissene Schwester betrifft..."
Adytia wunderte sich, woher Magnus das wusste.
„Sie wird ihren eigenen Weg finden."
„Wie darf ich das wieder verstehen?"
„Wir alle haben unsere Aufgaben im Leben. Die eine ist größer, die andere kleiner. Bei dir und Maya bin ich mir ganz sicher, dass euch ein ganz bestimmter Weg vorherbestimmt wurde. Ebenso wie Jay Mathur."
Magnus lehnte sich entspannt zurück. Adytia trank den Met und dachte über Magnus Worte nach. Er machte sich große Sorgen um Maya. Er hatte gehofft sie mit Magnus Hilfe zu finden. Doch anscheinend musste er sich erst seiner Lehre unterziehen. Bis dahin würde Tristan nach ihr suchen. Er war nach Eskalat geritten, um dort seinen Freund Alain aufzusuchen. Die beiden waren Krieger. Adytia vertraute keinem so sehr, wie ihnen. Wenn es jemand schaffte seine Schwester zu finden, dann die beiden. Doch sie mussten sich beeilen. Maya hatte bereits das Land verlassen.
~
Es verging eine weitere Stunde, bevor Antonio zurück kam. Maya hatte die ganze Zeit still auf der Bank gesessen und die Uhr fixiert. Es war schon der dritte Tag. Der dritte Tag in Freiheit und dennoch war sie eingesperrt. So oft hatte Maya davon geträumt aufs Meer hinaus zu fahren und die Welt zu erkunden. So hatte sie sich das bestimmt nicht vorgestellt. Sie benötigte dringend frische Luft.
Also wartete sie, bis Antonio die Tür aufschloss und zu ihr ins Zimmer kam. Er musterte sie mit seinen blauen Augen.
„Ist dir immer noch schlecht?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Das hoffte ich. Immerhin bist du nicht mehr ganz so blass."
„Es würde mir noch besser gehen, wenn ich an Deck könnte."
Er sagte nichts darauf, schien nur darüber nachzudenken.
„Ich bitte Euch, wir sind auf einem Schiff. Wohin sollte ich denn versuchen zu fliehen? Noch habe ich keinen Todeswunsch und werde nicht über Bord springen. Ich benötige nur dringend etwas frische Luft und Bewegung, sonst werde ich noch wahnsinnig", sagte Maya in der Hoffnung ihn überzeugen zu können.
„Wie Ihr wollt. Sobald ich die Kajüte verlasse, dürft Ihr mich begleiten."
Maya freute sich nur halb über seine Einwilligung. Wozu musste sie noch auf ihn warten? Wollte er sie auf Schritt und Tritt bewachen?
Antonio ging in die Koje und wies Maya an ihm zu folgen. Er ging zum Schrank und holte ein sauberes Kleid heraus. Sie war überrascht, als er es ihr aufs Bett legte. Es war kein einfacher Lumpen, nein, es war ein hochwertiges, aber schlichtes Kleid. So etwas trug nur jemand von hohem Stand.
„Wo-woher habt Ihr sie?", fragte Maya stotternd, als sie noch die anderen Kleider im Schrank bemerkte.
„Ach die wurden von der ein oder anderen Frau zurück gelassen", gab Antonio grinsend zurück.
Maya bekam ein ungutes Gefühl.
„Ist sie tot?"
„Wer?", fragte er nach, während er sich plötzlich das Hemd aufknöpfte.
Maya versuchte sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Die Frau, die dieses Kleid getragen hat."
„Nein", antwortete Antonio empört. „Ich tendiere nicht dazu Frauen zu ermorden. Zumindest solange, bis sie versuchen mich zu ermorden." Er grinste.
Als er ihren verstörten Gesichtsausdruck bemerkte wandte er sich mit halb offenem Hemd zu ihr und sagte grinsend: „Sie ist wohlbehalten von Bord gestiegen."
„Nur ihr Kleid hat sie hier gelassen?", fragte Maya nach. Das war zu viel Information. „Ich will mir das gar nicht erst vorstellen. Sie muss Euch ja sehr geärgert haben, um so gepeinigt zu werden."
Es dauerte einen Augenblick, bevor Antonio mit einem gewissen Unterton in der Stimme antwortete: „Ihr habt mich mehr geärgert."
Maya benötigte eben so lange, um seine Worte richtig zu deuten.
„Dennoch habe ich meine Kleider noch an. Ich sollte mich glücklich schätzen."
Sie hatte es trotz Unsicherheit als Scherz gemeint, doch Antonio blieb aus irgend einem Grund ernst. Seine Miene bleib ausdruckslos. Nur seine nächsten Worte verunsicherten Maya.
„Ja, solltet Ihr", erwiderte er und wandte sich ab. Sie sah, wie er seinen Oberkörper freimachte und ein Tuch in die mit Wasser gefüllte Schale auf der Kommode eintauchte. Erst drehte sie sich weg. Sie hatte kein Verlangen danach einen halb nackten Mann zu sehen. Was sollte das plötzlich?
Lange hielt sie es nicht aus. Ihre Neugierde überwog. Hatte sie nicht gerade ein paar Narben gesehen? Maya wagte einen verstohlenen Seitenblick. Er hatte einige Narben an den Armen und auf dem Rücken. Er musste ein sehr hartes Leben haben. Nicht, dass Maya Mitleid mit ihm empfand. Nur wirkte er nicht auf sie, wie ein ehrloser Pirat. Er war mehr als das. Seltsam welche Gedanken sie beschäftigten, während sie seinen nackten Oberkörper anstarrte.
„Wie viele Männer hast du schon gesehen?"
Seine Frage kam vollkommen unerwartet und sorgte dafür, dass Maya sich verschluckte.
„Wie bitte?"
Er ließ das Tuch ins Wasser fallen und drehte sich wieder zu ihr um. Maya hatte vergessen, dass er sie ihm Spiegel beobachten konnte. Also hatte er mitbekommen, wie sie ihn beobachtete hatte. Am liebsten wäre sie unter dem Bett verschwunden. Sie spürte ihre Wangen erröten und auf einmal schien es unglaublich warm in der Kajüte zu sein.
„Ich wette, so viele waren es nicht."
Das war zu viel. Wieso saß sie hier eigentlich noch? Sie brauchte keine zehn Sekunden, um vom Bett aufzuspringen und aus dem Raum zu flüchten. Hinter sich knallte sie die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Nun sollte er mal im Gefängnis schmoren. So schnell würde sie ihn dort nicht wieder raus lassen.
Es würde eine Weile dauern, bis seine Männer ihn vermissen würden. Vielleicht könnte sie ihn sogar bis zur Nacht dort drin halten. Dann könnte sie noch unbemerkt ein Beiboot klar machen, wenn die meisten Männer schliefen. Es war ein verrückter Plan. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Es wäre also ein Wagnis einfach drauf los zu rudern und so warf sie einsichtig ihren Fluchtplan über Bord.
Trotzdem freute sich Maya Antonio fürs Erste in der Koje eingeschlossen zu haben. Mit den Konsequenzen würde sie später klar kommen. Ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu vergeuden, eilte sie an Deck und erfreute sich an der kühlen Brise.
Natürlich betrachtete man sie mit Misstrauen und Argwohn. Maya grinste unsicher zu den Männern, die gerade dabei waren das Schiff für eine Wende vorzubereiten.
„Der Käpt'n hat mich raus gelassen. Ich darf mir wohl ein wenig die Beine vertreten", erklärte sie schnell, bevor Fragen aufkamen.
Die Mannschaft kümmerte sich nicht weiter um sie, bis auf Brock, der von der Brücke zu ihr hinunter kam und sie vorsichtig zur Seite führte. An der Reling blieb er stehen und sah sie eindringlich an.
„Ihr solltet nicht alleine hier herum laufen. Antonio sollte das eigentlich wissen, wieso hat er Euch allein gehen lassen?"
Maya zuckte nur mit den Schultern und spielte die Ahnungslose.
„Ich sollte ihn danach Fragen."
Maya griff panisch nach seinem Arm. Sie musste ihn irgendwie aufhalten, sonst würde er bemerken, dass sie Antonio unter Deck eingesperrt hatte. Er sollte dort noch ein wenig länger versauern.
„Ich halte das für keine gute Idee. Ihm ging meine Anwesenheit sehr auf die Nerven, weil er mit wichtigen Unterlagen beschäftigt ist. Er wollte von niemandem gestört werden."
„Also hat er vielleicht einen Hinweis gefunden. Dann muss ich erst recht zu ihm und ihm helfen."
Maya fluchte innerlich. Als Brock sich erneut abwandte, stellte sie sich direkt vor ihn und flüsterte ihm zu: „Ganz unter uns gesagt, ich denke der Käpt'n braucht eine gewisse Zeit für sich."
Erst verstand Brock sie nicht. Doch Maya sagte nur leise: „Intim, versteht sich."
Danach räusperte er sich und blickte leicht verlegen zur Seite.
„Verstehe. Nun denn...Ihr solltet somit an Deck bleiben. Doch haltet auch auf der Brücke auf, um Schwierigkeiten zu vermeiden."
Maya verstand. Sie wusste mittlerweile, dass Brock und Antonio sie bloß vor ihrer Mannschaft schützen wollten. Männer waren eben doch nur Männer und auf See manchmal ganz schön ausgehungert.
So gesellte sich Maya zum Steuermann ans Achterdeck und lehnte sich über die erhöhte Reling. Es tat gut etwas durchatmen zu können. Vor ihr lag nichts, als der weite Ozean und eine Welt, die voller Eindrücke und Abenteuer war. Sie lockte Maya. Versprach ihr alles und noch mehr. Leider kam sie vorerst nicht von diesem Schiff herunter.
Sie hatte bestimmt nicht lange dort gestanden. Sie träumte mit offenen Augen vor sich hin, als plötzlich etwas vor ihrer Nase baumelte. Sie zuckte zurück und betrachtete den metallenen Gegenstand. Es war ein Schlüssel, der an einem Band direkt vor ihr Gesicht gehalten wurde.
Erschrocken fuhr sie herum und blickte in ein paar blaue, Unheil verkündende Augen. Antonio grinste schelmisch.
„Also wenn Ihr das nächste Mal jemanden einschließt, vergewissert Euch wenigstens, dass derjenige keinen Zweitschlüssel besitzt."
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