Drei

Adytia ging zurück in den Thronsaal. Er hatte noch viel zu tun, was ihn zur Eile antrieb. Dennoch ließ ihn der Gedanke an seine Schwester nicht in Ruhe. Sie hatte die Neuigkeit viel zu gut aufgenommen. Ja sie hatte es mit Fassung getragen. Adytia hatte einen Tobsuchtsanfall oder einen andersartigen Gefühlsausbruch erwartet, aber bestimmt kein zurückhaltendes Lächeln.

Er hatte ihr genau angesehen, wie wenig sie seine Worte begeistert hatten.
Er würde für die nächste Zeit wohl Wachen vor ihren Gemächern platzieren. Adytia traute seiner Schwester kein bisschen. Sie würde sich bestimmt noch etwas einfallen lassen, um dieser Situation zu entkommen. Nur was?

Im Thronsaal angekommen ging Adytia an den vielen Gemälden vorbei. Dort waren Bilder seiner gesamten Familie zu sehen. Er blieb stehen. Die Ähnlichkeit untereinander war schon verblüffend. Obwohl Adytia kaum Ähnlichkeit mit seinem Großvater König Satos erkannte, schien er seiner Großmutter Königen Ellia umso mehr zu ähneln.

Er war ihnen nie begegnet. Viele in Skeliva erzählten sich, wie grausam sein Großvater gewesen war. Man berichtete von seinen Untaten und von den Grausamkeiten seines Sohnes Satjin. Auch von ihm gab es ein Bild. Warum hing es noch? Warum hatte Jay diese Bilder nicht abnehmen lassen, wenn sie doch in Ungnade gefallen waren?

Das war auch so eine Sache die er nicht verstand. Genauso wenig wie das Verschwinden seines Vaters. Langsam ging Adytia ein paar Schritte weiter. Er wusste, dass Tristan ihn beobachtete. Nur hielt er sich schweigsam im Hintergrund. Vermutlich machte er sich gerade seine eigenen Gedanken über Jay. Vor seinem Bild blieb Adytia stehen. Wie stolz er war, als er erfahren hatte, dass Jay sein Vater war. Er hatte stets zu ihm aufgesehen und ihn verehrt. Nicht nur weil er ein talentierter Krieger und Channajiu war, sondern auch weil er als Mensch außergewöhnlich war.

„Grübelst du immer noch darüber nach?"
Adytia hatte sie nicht bemerkt. Sie war ganz leise in den Saal gekommen und war wenige Meter vor ihm stehen geblieben. Tristan hatte sie mit Sicherheit bemerkt.
Aria Sarkut, Tochter von Ram und Samara stand vor ihm und schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. Ihre blauen Augen strahlten wie immer und ihre blonden Locken umrahmten ihr hübsches, schmales Gesicht.

Auf den ersten Blick meinten viele die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter zu erkennen. Doch das täuschte. Sie sah genauso aus wie ihr Vater.  Zu Adytias Verwunderung und zu seiner Erleichterung hatte sie nicht das Temperament ihrer beider Eltern bekommen. Sie war ruhig und ausgeglichen. Oft ließ sie sich von ihrem Verstand leiten und nicht von ihren Gefühlen. Adytia wünschte sich manchmal das auch zu können. Doch er hatte das Temperament seiner Eltern geerbt.

„Wie lange stehst du schon da?", fragte er sie nun und erwiderte ihr Lächeln.
„Nicht lange. Ich habe dich aus Mayas Gemächern kommen sehen und bin dir gefolgt."
„Warum hast du dich nicht bemerkbar gemacht?"
Sie zuckte unschlüssig mit den Schultern. Ihre Finger lugten aus den Ärmeln ihres hellen Kleides hervor und umklammerten den Saum.

„Warum quält es dich so?", fragte sie und überraschte ihn damit.
„Was meinst du?"
„Dein Vater. Glaubst du nicht er wäre zurück gekehrt, wenn er bei uns sein wollte? Meinst du nicht er gönnt sich endlich das Leben, welches er schon so lange verdient hat?"
„Ich würde es mir wünschen. Doch warum musste er einfach so verschwinden? Er hat es versprochen, Aria. Ich war dabei als er versprochen hat zu meiner Mutter zurück zu kehren."

Man konnte deutlich die Verzweiflung aus seinen Worten hören.
„Er ist auch zu ihr zurück gekehrt. Er war hier, er war für uns alle da. Er hat Sanjana geheiratet und war dir ein Vater."
Aria kam zu ihm in legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

„Nicht lange genug. Er hat uns einfach so im Stich gelassen", sagte er verletzt.
Aria wollte es nicht wahr haben. Immer wieder versuchte sie Adytia davon zu überzeugen, dass Jay keine Wahl gehabt hatte. Dass er für alles, was er tut, einen Grund hat. Zumindest das wollte Adytia ihr glauben. Nur warum hatte Jay ihm diesen Grund nicht mitgeteilt? Warum hatte er niemanden etwas gesagt?
Wut keimte in Adytia auf. Noch niemals war er so wütend auf seinen Vater gewesen. Es wurde mit jedem Tag seiner Abwesenheit schlimmer.

Er trat von Aria weg, zog ein Messer aus seinem Gürtelhalfter und warf es mit Schwung auf das Bild seines Vaters. Die Klinge blieb genau in der Brust seines Vaters stecken. So schockiert Tristan war, umso ruhiger blieb Aria. Sie verstand vielleicht noch Adytias Wut auf seinen Vater. Doch niemand konnte etwas an der Situation ändern. Jay blieb verschwunden und Adytia wusste nicht, ob er ihm jemals gerecht werden würde.

~

Maya stand nun seit Stunden zur Anprobe auf dem Sockel und konnte sich nicht bewegen. Man hatte sie schon mit unzähligen Nadeln gestochen, ihre Haare beinahe eingenäht und war ihr mehr als einmal auf den Fuß getreten. Sie war doch keine Puppe. So langsam riss ihr der Geduldsfaden. Dabei war die Schneiderin nicht annähernd zufrieden und meinte immer, es gäbe noch so viel zu tun.

Maya war müde, hungrig und genervt. Viel lieber wäre sie mit Rony in den Wald geritten und hätte ihren neuen Bogen ausprobiert. Rony war der Stallbursche und ihr einziger Freund in Sonara. Mit ihm ging sie auf die Jagd, übte ihr Kampftraining und konnte sich stundenlang über fremde Welten und Geschichten mit ihm austauschen.

Auch Rony hatte noch nicht viel von der Welt gesehen, doch immerhin war er schon in Dokrat und ein, zwei anderen kleineren Orten gewesen. Er war im gleichen Alter wie sie und hegte die gleiche Tendenz dazu gelegentlich in den umliegenden Wald auszureißen und von einem besseren Leben zu träumen. Auch wenn sie sich eigentlich nicht über ihr Leben beklagen sollte, Maya wollte schon lange etwas anderes. Die Welt hatte so viel mehr zu bieten, als nur den Palast von Sonara.

Während die Schneiderin energisch Anweisungen herunter rasselte, versuchte ihre nervöse Gehilfin, also Mayas Zofe in dem Fall, so schnell wie möglich zu arbeiten, um ja keinen Fehler zu machen und nichts zu vergessen. Dabei stach sie Maya zum wiederholten Male in den Bauch. Sie fluchte laut auf und schenkte der Schneiderin einen mörderischen Blick. Eigentlich sollte das ihre Aufgabe sein. Warum stand sie also nur so da und gab Anweisungen? Anscheinend hielt sie sich für etwas besseres, da sie vom König persönlich eingestellt wurde.

Maya platze jedoch der Kragen. Das im wahrsten Sinne. Anscheinend hatte man den Stoff nicht korrekt zusammen genäht. So zerfiel alles, selbst die Ärmel und Maya stand kurz darauf nur noch im Korsett und Unterrock da. Sie seufzte, doch Madame Bourini, so nannte sich die ehrenwerte Schneiderin, schimpfte ungehalten drauf los.

Nicht mit Maya. Sie konnte ja nichts dazu. Sie hatte ja nur still gestanden. Nein, sie machte doch tatsächlich das arme Mädchen nieder, dass überhaupt keine Ahnung von der Arbeit hatte, die Madama Bourini ihr aufgetragen hatte. 

So schmiss Maya die beiden unter dem Vorwand hinaus, dass sie eine Pause benötigte. Sobald sie ihre Ruhe hatte, ließ sie sich rücklings aufs Bett fallen und starrte erschöpft an die Decke. Über ihrem Bett hing ein aufwendig bestickter Wandteppich. Er zeigte Rankenartige Pflanzen und verschnörkelte Tiere. Der Teppich erinnerte sie immer an den Wald draußen. Es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken. Sie kam nicht hinaus. Vor ihrem Zimmer standen Wachen, die sie begleiten würden. Ganz sicher wollten sie Maya daran hindern den Palast zu verlassen.

Innerlich verfluchte sie ihren Bruder. So leicht gab sie nicht auf. Sie kämpfte sich aus den unbequemen Stoffen, die einmal ein Kleid werden sollten und ließ sie einfach auf dem Boden liegen. Danach suchte sie sich ihre Jagdkleidung zusammen und zog sich an. Ihre Locken flocht sie eilig zu einem Zopf zusammen. Anschließend schob sie den Riegel vor die Tür zu ihrem Schlafgemach und öffnete das Fenster. Wenn die Wachen nur halb so gut, wie Krieger waren, würden sie ihre Flucht sehr bald schon bemerken. Doch ohne das Channa würde es wohl eine Weile dauern.

Maya brach nicht zum ersten Mal aus. Wie oft war sie schon an den Ranken hinab geklettert? Es war riskant, doch musste sie es wagen. Sie wollte sich nicht einer arrangierten Ehe fügen. Adytia hatte ja keine Ahnung, was er da von ihr verlangte. Sie würde ihn vermissen. Sie würde alle vermissen. Trotzdem, hielt sie hier nichts mehr. Es war ihr Leben. Sie allein entschied über ihre Zukunft.

Vermutlich war es die dümmste Idee ihres Lebens. Bereuen konnte sie es später noch. Sie klemmte sich den Bogen um ihre Lederjacke und stieg über den Rahmen hinaus. Sie hielt sich an der Mauer fest, bis sie einen sicheren Halt an einem Ast gefunden hatte. Zum Glück lag ihr Zimmer nicht allzu hoch. Sie musste ein paar Meter an den festen Ranken hinunter klettern und sich dabei an den Ästen eines nahe stehenden Baumes festhalten. Zum Schluss würde sie sich an den unteren Ästen orientieren und vom Baum aus zu Boden springen.

Geschafft! Sie hockte sich neben die Mauern des Palastes und kroch in ein Gebüsch, das dort entlang wuchs. Sie schaute sich um. Niemand zu sehen. Keine Wachen.
Maya bahnte sich vorsichtig einen Weg über den dicht bewachsenen Hof. Sie hielt sich stets am Rande. Es war schon beinahe ungewöhnlich, dass niemand sie bemerkte. Vermutlich rechnete keiner mit ihrem Ausbruch am helllichten Tag. Die Wachen würden von Adytia bestimmt später ordentlich was zu hören bekommen. Sie taten Maya beinahe leid.

Sie schlich langsam voran. Ihr Ziel: Der Stall. Sie konnte unmöglich eines der Pferde stehlen, ohne, das jemand es mitbekam. Dann wäre ihr Abenteuer schneller vorbei, als es überhaupt anfangen konnte. Sie wollte sich lediglich von Rony und Kim verabschieden.
Kim war ihre braune Stute, die Adytia ihr vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Auch sie würde Maya schrecklich vermissen. Nur konnte sie das Pferd leider nicht mitnehmen. Sie war einfach viel zu wertvoll, um sie auf ihr Abenteuer mitzunehmen. Rony würde sich schon gut um sie kümmern.

Vorsichtig schlich sie ab das Gebäude heran. Doch nahm Maya bestimmt nicht den Vordereingang. Sie kletterte durchs hintere Fenster. Sofort stieg ihr der Geruch von Heu in die Nase und ein deutliches Schnauben war zu hören.
„Maya?"
Erschrocken sah sie zu dem rothaarigen Jungen auf, der plötzlich vor ihr stand.
„Rony, nicht so laut."

Sie griff an seinen Arm und zog ihn hinunter in die Hocke.
„Was soll das Maya? Willst du, dass man mich deinetwegen zu Kleinholz verarbeitet?", flüsterte er protestierend.
„Natürlich nicht. Ich werde dich nicht länger in Schwierigkeiten bringen, Rony. Nur musste ich mich doch noch von dir verabschieden."
„Verabschieden?", wiederholte er etwas zu laut.
„Schrei nicht so, oder wir beide werden erwischt. Ich habe vor von hier abzuhauen."

Rony machte große Augen. Er musste sie für verrückt halten.
„Bist du irre? Warum solltest du das tun? Du hast doch alles, was man sich nur wünschen kann."
„Ja, alles, außer Freiheit", gab sie nörgelnd zur Antwort und verdrehte die Augen. „Hör zu, Rony, mein Bruder droht mich zu verkuppeln."
„Verstehe." Das sagte er zwar, nur hatte Maya nicht das Gefühl er konnte sie verstehen. Für jemanden wie ihn war es das vielleicht auch nicht. Er würde sich vermutlich darum reißen jemanden zu heiraten, nur um aus seiner ärmlichen Lage heraus zu kommen.

Dabei ging es ihm gar nicht schlecht. Er hatte gut zu essen und man behandelte ihn anständig am Königshof. Nicht zuletzt durch Mayas Einfluss. Trotzdem konnte man ihr Leben nicht mit seinem vergleichen. Das war der Grund, warum er sie nicht verstehen konnte.

„Rony, bitte kümmere dich gut um Kim, während ich fort bin."
„Bekomme ich nicht mehr Informationen von dir? Wohin gehst du? Was hast du vor und wann kommst du wieder?"
„Es ist besser, wenn du nichts darüber weißt. Sie werden kommen und dir Fragen stellen. So musst du wenigstens nicht lügen."
„Die werden mich an den Galgen bringen."
„Nein, so weit kommt es nicht. Trotzdem erspare ich dir Ärger, wenn ich dir nichts erzähle.

„Ist es denn so schlimm?"
„Was?", fragte Maya verwirrt.
„Zu heiraten."
Sie schwieg. Was sollte sie ihm nur darauf antworten?
„Schon gut, du musst darauf nicht antworten. Ich weiß ja, dass du andere Erwartungen vom Leben hast. Ich wünschte, ich könnte auch so einfach abhauen."
„Komm doch mit."
„Ich kann nicht. Wer würde sich denn dann um Kim kümmern?"
Es war eine Ausrede. Maya verstand und drängte ihn nicht länger. Rony war eben nicht mutig genug diesen Schritt zu wagen. Also musste sie es alleine tun.

Sie ließ ihn ihren Bogen und einen Köcher aus ihrem Versteck im Stall bringen. Es war kein sicheres Versteck, doch allemal besser, als den Bogen mit in den Palast zu nehmen. Während sie in einer dunklen Ecke auf ihn wartete, schlüpfte er vorsichtig in die Box von Kim, drückte ein Fach in der hinteren Wand ein und holte ihre Sachen hervor.

Sobald er wieder bei ihr war klemmte sich Maya Bogen und Köcher um den Oberkörper und kletterte dann wieder durchs Fenster hinaus. Rony folgte ihr mit einigem Abstand. Sie umarmte ihn zum Abschied, bevor er ihr  half über die hohe Mauer aus dem Palast zu klettern.
„Ich hoffe, ich sehe dich irgendwann wieder, Maya!", rief er ihr leise nach, als sie schon im Begriff war an der anderen Seite von der Mauer zu hüpfen. Vielleicht würden sie sich wieder sehen. Vielleicht eines Tages.

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