Zweiundzwanzig

Alain traute seinen Augen nicht. Er wusste wie Jays Channa aussah. Dennoch hatte es ihn überrascht es in Aktion zu sehen. Was hatten ihm die Channajiu aus Tinuval noch alles beigebracht? Und zu welchem Preis? Nie hätte er gedacht, dass sich die innere Energie auch auf Gegenstände übertragen könnte.

Durch das Channa war es Jay möglich gewesen den Pfeil exakt zu lenken und letztendlich das gewünschte Ziel zu treffen. In diesem Fall: Jeremy. Wie er ihn sehen konnte, war Alain ein Rätsel. Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Die einzigen, die es noch hätten verstehen können, waren die Channajiu. Es würde lange dauern solche Fähigkeiten wieder unter das Volk zu bringen.

„Sie werden ihn zu mir bringen."
„Ist er tot?", fragte Alain zögerlich.
Jay schüttelte den Kopf und ließ den Bogen sinken. Im nächsten Moment waren die blauen Flammen verschwunden. Und Alain erkannte Anstrengung im Gesicht seines Freundes.

Er war definitiv angeschlagen von der Explosion und niemand wusste welche Kraft es ihn kostete das Channa auf solch hohen Niveau anzuwenden. Jay war ein Channajiu, aber dabei war nicht zu vergessen, dass er immer noch ein Mensch war.

Offenbar hatte Jay tatsächlich getroffen. Von Alains Position aus war es nicht zu erkennen gewesen, aber die Saboraner mussten alles deutlich verfolgt haben. Sie positionierten sich in einiger Entfernung von den Stadtmauern und machten keinerlei Anstalten einen Angriff zu starten.

Stattdessen tauchte nach einiger Zeit Ram wieder auf. Ein Trupp Soldaten folgte ihm. Gleich vier von ihnen schleppten den verletzten Jeremy, dem der Pfeil noch im Rücken steckte. Er fauchte vor Zorn und gleichzeitig jammerte er wegen der Schmerzen.

Alain verzog das Gesicht. Jay hatte ihn bewegungsunfähig gemacht, aber nicht lebensbedrohlich verletzt. Dass er das selbst auf diese Entfernung geschafft hatte, überwältigte den jungen Krieger.

Als Jay ihm seinen Bogen zurück gab, betrachtete Alain diesen eher skeptisch und belächelte seine eigenen Fähigkeiten. Im nächsten Moment verwarf er seine Zweifel. Jay konnte nur so gut schießen, weil er sein Channa benutz hatte. Unter normalen Bedingungen würde Alain besser sein.
Was dachte er da nur? Er sollte sich über so etwas jetzt keine Gedanken machen. Es gab wichtigeres zu tun.

„Sieh an, Jeremy, weit bist du ja nicht gekommen. Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht entkommen wirst?"
Jeremy hatte ebenso verzweifelt und verwundert auf den Bogen gesehen. Offenbar zweifelte auch er daran, dass Jay ihn damit getroffen hatte. Du kannst dich nicht mehr vor mir verstecken."

„Wenn du doch solche Fähigkeiten besitzt, warum hast du mich dann nicht schon früher aufgespürt?"
Die Frage war durchaus berechtigt, dachte sich Alain.

„Weil ich zuerst etwas verändern musste. Jetzt habe ich die Mittel, um mich frei in der Stadt zu bewegen, ohne Vorschriften beachten zu müssen. Da draußen war es egal, was ich tue. Doch in der Stadt kann ich nicht handeln, wie es mir beliebt. Deshalb musste ich mir das Vertrauen des Rates und des Volkes erarbeiten, bevor ich dich festnehmen konnte. Außerdem habe ich auf dein Auftauchen gewartet. Je länger du dir Zeit gelassen hattest, desto mehr Zeit blieb Samier entsprechende Maßnahmen zu treffen was deine Gifte betrifft. So konnte er in aller Ruhe geeignete Heilmittel herstellen."

„Was? Nur deswegen hast du nichts unternommen? Doch du wusstest die ganze Zeit wo ich war?", fragte Jeremy ungläubig.
Jay ließ sich Zeit mit der Antwort. Er schien sich die richtige Antwort zu überlegen.

„Nein, ich wusste nicht, wo du dich aufgehalten hast, noch wie du und deine Männer in die Stadt gekommen seid. Doch war mir klar, dass du früher oder später den Kontakt zu Sanjana oder mir aufnehmen würdest. Du bist zwar ein durchtriebener Mann, der sich nur mit weglaufen auskennt, aber du bist einfach gestrickt, Jeremy. Ich weiß, wie du denkst: Einfach, vorhersehbar."

Jeremy gab ein lautes Knurren von sich. Jays Worte gefielen ihm gar nicht. Er wehrte sich, wollte definitiv weglaufen. Doch die Männer hielten ihn gut fest.
„Was soll das werden? Ein weiterer Fluchtversuch? Wir haben doch alle gesehen, dass das nichts bringt."

Jay ging zu Jeremy hin, hockte sich auf Augenhöhe und fuhr fort: „Tatjana hat dir vielleicht beigebracht dein Channa unsichtbar zu machen, doch die Channajiu haben mich gelehrt zu sehen. Ich sehe nicht nur mit den Augen. Verstehst du?"

Jeremys wütender Gesichtsausdruck war Antwort genug. Jay erhob sich wieder und befahl den Soldaten den Mann abzuführen und unter besonderen Sicherheitsmaßnahmen einzusperren. Ram sollte sich höchstpersönlich darum kümmern.

„Soll ich mich um seine Wunden kümmern?", fragte Alain.
„Nein, er wird nicht davon sterben. Es soll ihn jemand anders notdürftig verarzten, sodass er nicht verblutet."
„Warum hast du ihn am Leben gelassen, Jay? Er ist zu gefährlich."
„Wir haben im Augenblick andere Dinge zu erledigen."

Damit drehte sich Jay wieder um und sah über den Rand der Mauer hinweg auf das saboranische Heer. Alain verstand.
Er sah etwas weißes, dass sich im schwachen Licht der Stadt von der Dunkelheit abhob. „Ist das eine weiße Flagge?"
„Scheint so", gab Jay monoton zur Antwort.
„Sie wollen verhandeln?"

„Nein, sie müssen verhandeln. Ich werde noch ein letztes Mal versuchen eine Schlacht zu verhindern. Ich werde mit Sutjit verhandeln."
„Vielleicht will er nur die Bedingungen für unsere Kapitulation besprechen."
Jay lachte spöttisch. „So leicht gebe ich nicht auf. Doch werde ich alles tun, um zu verhindern, dass mein Volk stirbt."



~



Vor den Toren erwartete Sutjit den Hohen Meister von Tamaran gefolgt von zwei Wachen, die sich etwas im Hintergrund hielten. Jay hatte auch zwei Begleiter. Nämlich seinen neuen Heerführer Ram, der nun langsam an seiner linken Seite ritt und natürlich sein bester Freund und Leibwächter Tristan zu seiner Linken.

Gleich nachdem er Sanjana sicher zu Samier gebracht und sich versichert hatte, dass sie nicht sterben würde, war er zu Jay zurück gekehrt.
Es war etwas gewagt ihn mitzunehmen, wo er doch Sujit hintergangen hatte. Bei dem letzten Treffen mit ihm, hatte Tristan noch auf seiner Seite gestanden. Zumindest hatte Sujit das damals noch geglaubt.

Jays Sorge um seinen Freund war unbegründet. Bei solch einer Besprechung unter der weißen Flagge, waren jegliche Waffen verboten. Keiner von den Kriegern hatte sich ernsthaft bewaffnet. Alles was sie dabei hatten waren Dolche und einige Wurfmesser.

Die Saboraner hatten sich ebenfalls nicht bewaffnet. Zumindest sah es äußerlich nicht danach aus. Wenn Jay gewollt hätte, könnte er sich dessen absichern, aber er wollte seinem Bruder eine Chance geben. Er konnte zumindest von ihm sagen Ehre zu haben und sein Wort zu halten. Er war nicht wie Satjin. So jemanden überhaupt seinen Bruder zu nennen, schien für Jay schon sehr schwer. Aber das war vorbei. Er hatte ihn damals getötet, ohne von der Verwandtschaft zu ihm zu wissen.

Sujit erwartete die drei Tamaraner mit ausdrucksloser Miene. Er sah jedem in die Augen zu Anerkennung. Nur für Tristan hatte er noch eine nach oben zuckende Augenbraue vorgesehen.
„Ich hätte es wissen müssen. Üblicherweise hätte ich dich jetzt gefragt, was dich dazu bewegt hat diesem Mann so loyal zu folgen, Tristan. Doch nach dieser kleinen Demonstration vorhin kenne ich die Antwort bereits. Das war beeindruckend, Jay."

„Du irrst dich", begann Tristan und nahm Jay damit die Gelegenheit etwas zu erwidern, „ich folge ihm nicht auf Grund seiner Fähigkeiten oder Intelligenz. Wir sind seit unserer Kindheit befreundet. Wir kennen alles von einander und verstehen uns ohne Worte. Ich kann mich vollkommen auf Jay verlassen und umgekehrt. Außerdem teilen wir die gleichen Ideale und Moralische Vorstellungen. Ich bin der Meinung, dass es keinen ehrlicheren und selbstloseren Menschen gibt, als Jay Mathur."
„Würdest du so weit gehen und ihn als einen perfekten Krieger beschreiben?"

„Nein, keiner ist perfekt. Auch Jay macht Fehler. Jedoch erwartet er selbst nicht von sich perfekt zu sein. Natürlich hat Jay Ziele und strebt nach höherem, kann dabei aber von sich behaupten ein guter Mensch zu bleiben."

Jay fühlte sich durch diese Worte geehrt. Allerdings gefiel ihm das Gespräch nicht. Sujit war bestimmt nicht gekommen, um Tristans Schwärmereien anzuhören.
„Wie auch immer. Du wolltest reden Sujit, dann rede auch!", forderte Jay den Saboraner auf, der seine Aufmerksamkeit wieder ganz und gar ihm schenkte.
„Ich denke du hast meine Worte vom letzen Mal noch nicht vergessen, Jay. Wie lautet deine Antwort?"

„Solange du immer noch der Meinung bist Tamaran als schwach anzusehen, werden wir uns nicht einigen können."
„Du wirst Tamaran also nicht aufgeben?"
„Nein. Ich habe eine Verantwortung für die Menschen hier. Ich werde alles mögliche tun, um mein Volk zu beschützen. Wenn du dich aber für den Kamp entscheidest, dann werde ich dich mit allen verfügbaren Mitteln bekämpfen. Nur sei dir darüber im Klaren, dass sich in Dokrat einiges verändert hat. Es wird nicht leicht werden für euch."
„Ich habe die saboranische Armee auch zu neuer Stärke gebracht. Unterschätze uns nicht."

Plötzlich lachte Jay leise. „Was soll das werden Sujit? Diskutieren wir nun stundenlang darüber, wer das größte und beste Pferd im Stall hat? Wir sollten beide unseren Stolz vergessen und nachgeben. Du siehst davon ab Tamaran zu vernichten und ich werde deinem Wunsch Folge leisten und der Thronfolge nachkommen. Dafür müssten wir nur eines tun: die Waffen nieder legen. Es gibt keinen Grund für uns zu kämpfen. Wir wissen doch gar nicht mehr warum unsere Völker verfeindet sind."

Sutjit hob die Augenbrauen. Er war definitiv erstaunt über Jays Worte. Noch mehr als er, war es Ram.

„Ich habe kein Verlangen danach dich zu vernichten. Abgesehen von der Verwandtschaft zwischen uns, bist du ein Mensch genauso wie ich. Wir alle haben das Recht zu leben. Ich habe saboranisches Blut in mir und trotzdem hat mich das Volk von Tamaran als seinen Herrscher akzeptiert. Nicht wegen meiner Hautfarbe oder Herkunft, sondern wegen meiner Taten. Ich lebe seit meiner Kindheit hier und habe nicht das Gefühl anders zu sein als du oder irgendjemand in Tamaran. Also warum einen sinnlosen Krieg führen und nur weiterhin Blut vergießen?"

Jay machte eine Pause, um Sujits Antwort abzuwarten. Dieser überlegte lange, bevor er unruhig im Sattel hin und her rutschte und fragte: „Was schlägst du vor? Dass wir uns die Hand zum Frieden reichen sollen?"

„Genau das", gab Jay prompt zurück. „Lass uns die beiden Länder einen. Mein Volk ist dein Volk und umgekehrt. Wir sind alle gleich. Warum sollen wir uns bekämpfen? Weil unsere Vorfahren aus einem längst vergessenen Grund die Feindschaft begonnen haben?"

Sujit antwortete nicht. Er starrte vom Sattel herunter auf den trockenen Boden, der einzig und allein von den Fackeln seiner und Jays Begleiter erhellt wurde.
„Du willst Dokrat, Bruder? Nimm es dir! Ich öffne die Stadt für jedermann. Nur sie ab vom Blutvergießen."

Nun blickte Sujit auf. In seinem Blick war solch Wärme und Erkenntnis abzulesen. Dann hob er sich aus dem Sattel und trat vor Jays Pferd. Er kniete sich in einen Prinzensitz vor Jay nieder und senkte demütig den Blick.

„Unsere Eltern haben einen weisen Thronfolger geboren. Nun sehe ich ein, dass wir keinen Grund mehr haben die Waffen zu erheben. So bitte ich dich, sei unser König und führe unsere Völker in eine glorreiche Zukunft. Ich werde alles tun, um dich dabei zu unterstützen."

Jay war erleichtert. Sujit war eben doch nicht wie Satjin. Er hatte Verstand, was ihn einerseits gefährlich machte. Andererseits konnte es ihn aber auch zu einem sehr mächtigen Verbündeten machen.
Jay stieg ebenfalls vom Pferd, kam zu seinem Bruder, fasste ihn an den Oberarmen und ließ ihn sich erheben. „Eine weise Entscheidung von dir, Sujit. Es ist besser wenn wir zusammen arbeiten. Ich habe nämlich keinen Hass auf dich."

„Du hast allen Grund mich zu hassen. Ich habe Satjin Jahre lang erlaubt dich zu quälen und Tamaran ins Unglück zu stürzen."
„Es ist vergessen, mein Freund."

Jay hörte seine Freunde aufatmen. Er konnte es selbst kaum glauben, aber der Krieg war vorüber. Er hatte es geschafft. Seit Jahren hatte er davon geträumt. Doch damit war es nicht getan. Nun musste er noch die Großmeister unter Kontrolle bringen und das Volk versöhnen. So lange hatte sich der Hass in den Köpfen der Menschen verankert. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden das zu ändern. Es würde auch noch Jahre dauern.

Doch er wollte den Menschen zeigen, dass sie statt sich gegenseitig zu vernichten, es auch möglich ist zusammen zu leben. Dies war seine neue Aufgabe als Channajiu. Als Friedenswächter.
„Was wirst du eigentlich mit Jeremy machen, jetzt wo du ihn endlich in Gewahrsam hast?", fragte Sujit noch, nachdem beide wieder auf ihre Pferde gestiegen waren.

„Er wird seine gerechte Strafe bekommen. Er ist schuld daran, dass Sanjana wieder vergiftet wurde. Das kann ich nicht unbeachtet lassen. Er hat genug Unheil angerichtet. Ich denke es ist auch in deinem Sinne, dass er bestraft wird."

„Ja ich bin jetzt nicht mehr der Herrscher. Du bist von nun an für beide Völker verantwortlich. Also darfst du entscheiden, was mit ihm geschieht."
Jay nickte dankend. „Ich weiß dein Vertrauen in mich zu schätzen."
„Du bist der rechtmäßige Herrscher. Es ist meine Pflicht dich zu respektieren."

Nachdem Sujit mit seinen Soldaten abgezogen war, verschwand die Anspannung und Jay wurde sich seines schmerzenden Körpers wieder bewusst. Sujit hatte nichts zu seinem blutenden Kopf gesagt. Noch hatte irgendjemand nach der Explosion gefragt. Das erwartete ihn, als er wieder in die Stadt zurück kam.

Bevor er irgend etwas anderes tun konnte, ging er zu der Stelle, an der Jeremy die Explosion hervor gerufen hatte. Die Häuser waren halb zerstört oder gänzlich zusammen gebrochen. In der Mitte klaffte ein riesiger Krater. Die Flammen waren mittlerweile gelöscht, dennoch sah man noch die Brandspuren und vor allem das Blut. Auch die Leichen waren verschwunden.

Dennoch rekapitulierte Jay das Geschehene. Woher hatte Jeremy das Wissen um solch eine Waffe? Und warum hatte er sich nicht wieder einer Illusion hingegeben? Er hatte seltsame Fähigkeiten, die er unmöglich im Laufe der vergangenen Jahre erlernt haben konnte.

Jay hatte dafür gesorgt, dass Jeremy immer auf der Flucht sein musste. Also wann war er so mächtig geworden? Verhielt es sich mit deinem Channa vielleicht ähnlich wie mit seinem eigenen? Jays Fähigkeiten waren auch nach und nach stärker geworden. Nur hatte er sie mit Hilfe von Magnus trainiert. Wenn Jeremys Channa mit der Zeit von alleine so stark geworden war, dann war er noch gefährlicher, als Jay geahnt hatte. Nicht einmal Satjin hatte solch eine Stärke besessen.

Vielleicht, weil er das Channa von Grund auf abgelehnt hatte. Er hatte es immer gefürchtet und deshalb erst einmal die Entwicklung bei Jeremy sehen wollen. Hatte Satjin etwa gefürchtet seine Seele an die Dunkelheit zu verlieren? Welch anderen Grund hätte Satjin haben können?

Jay untersuchte noch immer das Geröll und die Spuren der Explosion. Er fand ein dunkles Pulver. Überall in dem Krater verteilt. Er befahl seinen Männern die Stelle abzusichern und niemanden dort hin zu lassen. Er würde sich später noch einmal damit beschäftigen. Nun galt es den Rat aufzusuchen und die Friedensbedingungen zu besprechen. Doch zu aller erst musste er noch wo anders hin.

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