Vier

Eleonore stand auf der weiten grünen Wiese und sog den herrlichen Frühlingsduft ein. Hier eine Blume da ein Vogel. Sie stand mitten in Mutter Natur und betrachtete die weite Landschaft um sie herum.

Sie liebte ihr Land. Berandur war wunderschön. Weite Wiesen und Felder, dicht bewachsene Wälder und viele Tiere. Besonders viele Wildpferde gab es in den Bergen. Es waren ihre Berge, denn niemand außer den Schäfern und Viehtreibern traute sich so hoch in die Wildnis. Sie war mit ihrem Vater ausgeritten um ihr Land zu begutachten. Ihre Eltern besaßen eine Ranch in den Bergen und lebten von den Rinderherden und der Pferdezucht. Ja sie liebte das Leben. Sie liebte die Natur und wollte sie um nichts in der Welt eintauschen.

Ihr Vater stand bei seinem Pferd und beobachtete sie lächelnd, wie sie sich im Gras drehte und sich rücklings fallen lies. Es war eine weiche Decke, die duftete und summte. Das Summen kam wohl eher von den Bienen um sie herum.
„Man merkt, dass du ein Landkind bist."
Ihr Vater stellte sich neben sie und bot ihr Schatten von der Sonne.
Sie lächelte friedvoll.
„Na und? Ich bin halt gerne ein Landkind. Ich könnte mir nicht vorstellen jemals in einer großen Stadt zu leben."

„Das glaube ich dir gern."
„Ich wollte mich nachher noch mit Natascha treffen."
Eleonor setzte sich im Gras auf. Natascha war ihre allerbeste Freundin. Sie trafen sich beinahe jeden Tag.

„Das wundert mich auch nicht."
Ihr Vater lachte. „Ihr beide klebt aneinander wie Pech und Schwefel."
„Das ist seit unserer Kindheit so. Ich habe ja sonst niemanden hier."
„Du hast deine Mutter und mich."
„Wohl wahr, aber ich brauche jemanden nur für mich. Jemanden, dem ich alles anvertrauen kann und der immer Zeit für mich hat. Ihr seid zwar auch für mich da nur leider habt ihr nicht immer Zeit für mich. Ihr habt viel auf der Ranch zu tun, während ich auch an mein Studium gebunden bin."

„Schon gut. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich habe Verständnis."
Natürlich hatte er das. Ihr Vater hatte für alles Verständnis. Deshalb liebte sie ihn so. Sie konnte sich keine besseren Eltern wünschen, als die ihren.

Nach dem Ausritt in die Berge, kehrten beide zur Ranch zurück. Dort hatte ihre Mutter schon einen herrlichen Eintopf vorbereitet. Eleonor liebte den Eintopf ihrer Mutter. Vor allem mit Linsen.
Voll gefuttert und glücklich machte sie sich am Nachmittag auf den Weg ins Dorf zurück. Das kleine Örtchen Eskalat lag an der Küste Berandurs. Gut zweihundert Menschen lebten dort hauptsächlich von Landwirtschaft und Fischerei.

Natascha wartete auf dem Marktplatz am alten Brunnen auf sie. Sie trug ihr Lieblingskleid. Dunkelblau, mit weißer Spitze. Ihre rötlich-braunen Locken reichten knapp über ihre Schulter und waren an der Seite zurück geflochten, wie ein Kranz. Sie hatte braune Augen, die Eleonore freudig anstrahlten, als sie sie sahen. Ihre Freundin sah heute besonders glücklich aus.

„Sag bloß du bist den ganzen Weg vom Berg hinunter gelaufen", fragte Natascha anstelle einer Begrüßung.
„Ja warum denn nicht. Ich bin jung und es ist schönes Wetter."
„Dann hast du jetzt bestimmt keine Lust mehr mit mir spazieren zu gehen."
Schmollte sie etwa? Eleonore lachte. „Natürlich können wir spazieren gehen. Dann kannst du mir so gleich von deinem neusten Schwarm erzählen."

Natascha hatte die witzige, aber lästige Angewohnheit sich schnell und kurzlebig zu verlieben. Den Richtigen hatte sie bis jetzt nie gefunden. Leider konnte Eleonore das von sich auch nicht behaupten.
„Ich habe tatsächlich jemanden gefunden. Er ist der richtige, dieses Mal bin ich mir sicher."
Eleonore lachte wieder. „Das sagst du jedes Mal."

„Dieses Mal ist es anders."
„Also gut, erzähle es mir. Wer ist er? Des Grafen Sprössling oder des Kaufmanns Gefährte?"
Natascha schüttelte den Kopf.
„Ach die sind nicht mal im Ansatz so wie er. Er ist nicht von hier. Im Grunde weiß ich auch nichts von ihm. Nicht einmal wie er heißt. Seit kurzem sehe ich ihn, wenn er zum Stadthalter geht."

„Weißt du wo er wohnt?"
„Nein, ich habe versucht ihm zu folgen, aber jedes Mal hat er wieder das Dorf verlassen. Ich vermute er kommt von Außerhalb."
„Du hast dich also in einen Fremden verliebt?" Eleonore klang verzweifelt. Dieses Mal hatte ihre Freundin ein echtes Problem.
„Ich kann doch auch nichts dafür. Er ist mir über den Weg gelaufen und es war um mich geschehen. Aber das kannst du nicht verstehen. Du glaubst nicht an die Liebe auf den ersten Blick."

„Oh doch, das tue ich. Aber du wechselst deine Liebschaften öfter als Lady Sherwood ihre Kleider."
Benannte Dame wechselte ihre Kleider fast schon stündlich. Sie war eine der Frauen, die ein Kleid niemals zweimal anziehen würden.
„Es sind keine Liebschaften. Ich bin ja kein..." sie senkte die Stimme „Flittchen."
„Aber Schwärmereien."

Dagegen konnte Natascha nichts sagen.
„Du hast mich also mit Absicht hier her gebeten, damit du mir deinen aktuellen Traummann zeigen kannst."
„Er wird für immer mein Traummann sein. Ich kann nach ihm keinen anderen lieben. Er ist perfekt. Ich muss ihn haben."
„Trotzdem du gar nichts von ihm weist?"
„Ich gedenke dies bald zu ändern."

Eleonore schüttelte nur den Kopf. Wie konnte ihre Freundin nur so naiv sein. Aber sie konnte eine gewisse Neugier nicht abstreiten. Fremde waren immer interessant und wurden von den Dorfbewohnern stets neugierig unter die Lupe genommen.

Also lies sich Eleonore von Natascha über den Platz führen. Sie warteten nicht weit von der Villa des Stadthalters entfernt. Angestrengt starrte Natascha auf das prächtige Haus. Eleonore nahm schon an, vergebens gekommen zu sein, als Natascha plötzlich entzückt in die Hände klatsche.

„Er ist da. Da ist er, so schau doch", rief sie aufgeregt und deutete auf einen dunkelhaarigen Mann, der aus dem Haus kam. Er war groß, kräftig und gänzlich in Schwarz gehüllt. Er hatte eine ungeheuer faszinierende Ausstrahlung, was er nicht zuletzt seinem attraktiven Äußeren verdankte.

Sie standen etwa fünfzig Meter entfernt. Dennoch war nicht zu übersehen, wie gut der Fremde aussah. Kein Wunder, dass Eleonores beste Freundin sich zu so einem Mann hingezogen fühlte. Er war etwas besonderes und absolut nicht mit ihren vergangenen Schwärmereien in einen Topf zu werfen.

Sogleich wurde ihre Aufmerksamkeit von jemand anderem gefordert. Hinter dem Fremden kam ein weiterer junger Mann aus dem Anwesen. Eleonore hielt die Luft an. Der etwas dunkelhäutige Mann mit den kurzen Haaren war ihr bestens bekannt. Sie war ihm vor Jahren in der Hauptstadt begegnet, als sie ihre Verwandtschaft dort besucht hatte.

Er trug ebenfalls schwarz, bis auf das helle Hemd, was unter seinem dunklen Wams hervor schien. Trotz des warmen Wetters trugen beide Herren Stiefel, die ziemlich abgenutzt und dreckig aussahen, als kämen sie von einer sehr langen Reise oder hätten die Nacht im Wald verbracht.

„Das gibt es doch nicht. Welch wunderlicher Zufall."
Natascha schaute sie verwirrt an.
„Was ist los?"
Ihr Blick wanderte zwischen den Fremden und Eleonore hin und her.
„Sag bloß sie sind dir bekannt?"
„Der Dunkelhaarige nicht, aber sein Begleiter. Folge mir."
Sie begaben sich zu den Herren und Eleonore sprach sie ohne Umschweife an.
„Alain! Bist du es?"

Alain wandte sich zu ihr und staunte nicht schlecht.
„Eleonore! Welch Überraschung."
„Also bist du wieder hier. Sag welch Schicksal hat dich dieses Mal nach Eskalat getrieben?"
„Nun...eine ganz gewaltige Wendung...des Schicksals", haspelte er und rang wie gewöhnlich nach Worten.

Der schwarzhaarige Mann machte sich keine Mühe sich vorzustellen oder Interesse an den Damen zu zeigen. Er entfernte sich schweigsam und begab sich zu zwei Pferden, die nicht weit entfernt an einer Wassertränke angebunden waren.

„Bist du wegen einer Mission hier?"
Eleonore wusste genau, dass Alain dem Tamaranischen Reich als Krieger diente. Nicht zuletzt zeigte das seine vornehme Kleidung und das schwere Schwert an seinem Gürtel.

Daher nahm sie an, der Mann bei den Pferden war ebenfalls einer. Damit standen Nataschas Chancen diesen Mann zu bekommen gleich null.
Tamaranische Krieger waren nicht für Gefühlsduselei bekannt. Manchmal waren sie für Eleonore sogar unmenschlich. Außerdem war es ihnen verboten sich zu binden.

„Nein", antwortete Alain freundlich, „ich werde von nun an mehr Zeit in Eskalat verbringen. Aus rein privaten Gründen."

„So? Das ist wunderlich...aber ich freue mich dich wieder gesehen zu haben. Ich habe oft an dich gedacht."
Alain schien sichtlich verlegen angesichts ihres Geständnisses.
„Vielen Dank."
Mehr brachte er nicht heraus. Er hatte ohnehin schon mehr gesprochen, als es für ihn üblich war. Er hatte nie viel Zeit mit Worten verschwendet.

Währenddessen trat Natascha vor und machte sich mit Alain bekannt. Sie kamen aber nicht dazu mehr als drei Worte zu wechseln.
„Alain!"
Die leise aber ernste Stimme des Fremden lies Eleonore neugierig zu ihm sehen. Wann war er wieder in ihre Nähe gekommen? Er wartete auf Alains Reaktion. Dieser nickte und sagte an sie gewandt: „Zu meinem Bedauern muss ich euch verlassen. Mein Freund wird ungeduldig."

„Wo wollt ihr hin?"
Nataschas Frage brannte zwar auch Eleonore auf der Zunge, schickte sich aber nicht für die junge Lady Di Valoria. Aber von Anstand hatte Natascha Di Valoria noch nie viel gehalten. Trotz ihrer gehobenen Herkunft.
„Wir haben noch ein paar Dinge zu erledigen."
Alains Lächeln ging Eleonore durch und durch. Er war ein faszinierender Mann.
Ganz gegensätzlich zu ihm schien sein Freund zu sein. Er sagte kein Wort, betrachtete sie aber aufmerksam. Waren alle Krieger so verhalten?

Alain verabschiedete sich höflich mit einer leichten Verbeugung und versicherte Eleonore, dass man sich bald wieder begegnen würde. Dann wandte er sich ab und ging zu seinem Pferd.

Zu ihrer Verwunderung blieb sein schweigsamer Freund einen Moment länger stehen. Sie bemerkte seinen gefühllosen aber zugleich abschätzenden Blick. Es war als wolle er sicher stellen, dass sie keine Bedrohung für ihn war.

Noch niemals hatte sie solche Augen gesehen. Sie waren aschgrau wie die Wolken. Sie bohrten sich direkt in sie hinein. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und Eleonore fragte sich ob sie es faszinierte oder sie sich fürchten sollte.

Da drehte er sich um und nahm die Zügel seines Pferdes, welche Alain ihm reichte. Die beiden wechselten einen seltsamen Blick. Bevor sie beide davon ritten. Verwirrt und doch auch fasziniert schauten die Mädchen ihnen nach. Natascha seufzte schwärmerisch.
„Hast du dieses attraktive Gesicht gesehen? Er ist... unbeschreiblich."

Zugegeben beide Männer waren attraktiv. Nicht einmal der hübsche Sohn des Grafen könnte da Konkurrenz machen. Bis jetzt hielt Eleonore ihn für gutaussehend. Aber diese beiden Tamaraner waren doch aus einem ganz anderen Holz geschnitzt.
„Er hat dich nicht mal eines Blickes gewürdigt."
„Das macht nichts. Bald wir er das."

„Na du bist ja zuversichtlich. Hast du nicht den Blick gesehen mit dem er mich angestarrt hat? Und seine Augen...diese Augen haben das Leben gesehen."
Eleonore sah in Gedanken versunken auf die Stelle wo die Tamaraner gerade verschwunden waren.
„Ich bin neugierig. Woher kennst du Alain und meinst du er kann mich seinem Freund vorstellen?"
„Natascha du bist unmöglich."

„Sag jetzt nicht du findest sie nicht auch interessant. Die Art wie du in Alains dunkle Augen gestarrt hast, war doch mehr als deutlich. Du hast den armen Mann ganz in Verlegenheit gebracht."
Eleonore versuchte Nataschas vielsagendem Blick auszuweichen. Ihre olivgrünen Augen funkelten mit Verzückung.


~



Eleonore nahm auf der bequemen Bank im Salon Platz und schaute sich neugierig um. Die Einrichtung war antik, ebenso wie die Bauart der Villa. Nur hatte man dem Haus einen frischen Putz verpasst und den Urwald von Garten in einen Park verwandelt. Und das innerhalb weniger Wochen.

Eleonore staunte nicht schlecht. Sie strich behutsam mit den Fingern über das teure Polster. Es war weich und ein herrliches Muster verzierte den hellen Stoff. Solch feine Möbel konnten sich die wenigsten in Eskalat leisten.
„Welch schönes Haus. Wenn ich mich entsinne, wie es zuvor aussah..."

Tuan stellte das Teeservice auf dem kleinen Tisch ab und schenkte ihr ein.
„Ja es ist schön geworden. Den Herrn wird es freuen, dass Euch das Haus gefällt."
„Dem Herrn? Redet Ihr von Herrn Jenssen?"
„Nein, Miss. Ich sprach von dem Herrn Mathur. Dies ist sein Haus und vorübergehend residiert hier auch Herr Jenssen."

„Oh."
Sie knetete verlegen ihre Hände. Der Mann musste von Alains Freund gesprochen haben. „Sagt, Tuan, seit wie vielen Jahren steht ihr schon in Herrn Mathurs Diensten?"
„Es sind schon einige."
„Ihr müsst eine besondere Stellung haben, wenn er Euch mit ins Ausland nimmt."
„Gewiss. Ich darf den Herren überall mithin begleiten."

„Hat er Euch auch unsere Sprache gelehrt? Ich kam nicht umhin zu bemerken wie akzentfrei Ihr Euch ausdrücken könnt."
„Ja diese und fünf weitere Sprachen erlernte ich von meinem Herren."
„Beeindruckend. Krieger müssen gebildeter sein, als ich bisher annahm."

Wieder ein Schmunzeln von dem Diener. Was er wohl denken mochte? Er gab immer eine Antwort ohne wirklich viel zu sagen. Mit jeder Antwort bekam sie zwei neue Fragen dazu. Allerdings kam sie nicht dazu sie zu stellen. Aus dem Augenwinkel erhaschte sie eine Bewegung. Auf der Treppe stand Alains Freund. Tuan bemerkte ihn im selben Augenblick und verneigte sich.

„Mein Herr, was kann ich für Euch tun?", fragte der Diener ohne seinem Herren in die Augen zu sehen.
Der schwarzhaarige Mann kam die Stufen hinunter und gab dem Diener ein paar Anweisungen. Zumindest glaubte Eleonore es für solche zu halten, denn er sprach in einer fremden, eigenartigen Sprache.

Anscheinend waren es geheime Anweisungen. Tuan nickte jedenfalls und entfernte sich still. Jay Mathur musterte sie mit undurchdringlicher Miene während er langsam durch den Raum ging. Er hatte eine beeindruckende Ausstrahlung und zugleich etwas beunruhigendes.

„Ihr müsst Miss Eleonore Teagan sein."
„Und Ihr Jay Mathur."
Neugierig betrachtete sie ihn als er nicht hinsah. Sie wollte auf keinen Fall unhöflich sein. Er trug schwarze Hosen und ein dunkles Hemd. Darüber trug er ein ledernes Wams, das perfekt mit seinen Stiefeln und dem Gürtel um seine Mitte harmonierte.

An dem Gürtel war ein silberner Dolch befestigt, ebenso wie zwei kleinere Messer. Um seinen Hals war ein dünnes Lederband gebunden, an dem ein aus Holz geschnitzter Anhänger in Form eines Adlers baumelte. Eleonore machte sich bewusst, dass ein Krieger Tamarans vor ihr stand. Nicht dass sie sich gefürchtet hätte, aber besonders freundlich wirkte er nicht auf sie.

„Zu meinem Bedauern muss ich Euch mitteilen, dass Alain noch nicht hier ist. Ich schickte ihn etwas zu erledigen."
„Oh."
„Aber wenn es Euch beliebt, könnt Ihr gerne warten. Er kommt bald zurück."
„Ja vielen Dank."
Sie schwieg einen Moment, suchte nach einem Thema, um diese aufgesetzte Höflichkeit von ihm aufzulockern.
„Ein sehr schönes Haus."

Er nickte dankend.
„Es gefällt Euch also."
Jay Mathur nahm etwas weiter von ihr entfernt in einem Sessel platz und faltete die Hände vor sich. Dabei sah er sie ununterbrochen an. Eleonore hätte ein Vermögen für seine Gedanken gezahlt. Im Moment wurde sie noch nicht schlau aus ihm.

„Das Haus stand lange Zeit leer. Es war heruntergekommen und düster. Im Dorf erzählt man sich es sei verflucht, Geister würden hier verkehren."
Sie lachte befangen.

„Ich für meinen Teil glaube nicht an Geister. Sie sind nichts weiter als Illusionen, optische Täuschungen, die unser Unterbewusstsein hervorruft, um uns Streiche zu spielen."
Das war der längste Satz den er bisher gesprochen hatte.

„Ich glaube auch nicht daran. Aber ich muss zugeben, dass mir dieses Haus immer etwas unheimlich erschien. Einmal brach ich mit Freunden hier ein. Die Dielen knarzten, Fenster klapperten und der Wind pfiff laut durch alle Lücken. Das war schon gespenstisch. Aber Geister selbst habe ich nie gesehen."

Es herrschte wieder unangenehme Stille. Eleonore fühlte sich seltsam von ihm angestarrt. Sie versuchte seinem Blick stand zu halten. Er bemerkte ihr Vorhaben und schmunzelte. „Was macht Ihr?"
„Ich versuche aus Euch schlau zu werden", gestand sie offen.

„Ihr seid nicht die erste die das sagt. Und bestimmt nicht die letzte die daran scheitert."
„Warum? Wollt Ihr nicht, dass ich Euch kennen lerne? Warum seid Ihr dann herunter gekommen?"

„Um Euch Gesellschaft zu leisten. Ich weiß, dass Alain viel an Euch liegt. Allein seinetwegen war ich gewillt mir einen Eindruck von Euch zu machen."
Sie staunte.
„Ihr steht euch sehr nahe, nicht wahr?"
„Vielleicht."
„Wenn Ihr das nicht wisst, wer dann?"

Keine Antwort von ihm. Stattdessen meinte er nach einer Pause: „Ihr scheint ihn ja zu mögen."
„Ist das so offensichtlich?"
Er nickte leicht. Sie spürte ihre Wangen erröten.
„Klar, als sein bester Freund musstet Ihr das bemerken."
„Sein...bester Freund?"
Er schien verwirrt.
„Ja. Das seid Ihr doch."
Jay zuckte mit den Schultern.
„Das würde ihn sehr verletzen, wenn er Euch jetzt sehen könnte."

„So glaubt Ihr?"
Er stand wieder auf und ging durch den Raum. „Eines kann ich Euch versichern, er ist nicht mein bester Freund. Aber er kennt mich mit am besten und weiß wie ich etwas meine, wenn ich es sage. Er hätte mich nicht missverstanden."

„Es wundert mich, was Ihr da sagt."
„Warum? Weil ich sagte, er sei nicht mein bester Freund? Nun es ist wie folgt: Zwei Dinge, die Ihr wissen solltet. Erstens, mein bester Freund - so wie Ihr es nennt - ist vor nicht allzu langer Zeit im Kampf gestorben. Und zweitens, es liegt immer im Auge des Betrachters, wer eines solchen Titels würdig ist."

Schwachsinn! Dachte sich Eleonore.
„Wie könnt Ihr das sagen? Freundschaft ist doch überall gleich auf der Welt."
Sie hatte endlich ein Gespräch mit ihm, aber es gefiel ihr nicht.
„Dann sagt mir, Miss Teagan, wie würdet Ihr Freundschaft definieren? Habt Ihr jemandem, den Ihr als besten Freund bezeichnen könntet? Wenn ja, erklärt mir was diesen Menschen besonders für Euch macht."

„Meine beste Freundin habt Ihr schon gesehen. Sie bedeutet mir allerdings sehr viel."
„Ah, das Mädchen bei Euch auf dem Platz."
Sie war verwundert, dass er sich überhaupt an sie erinnerte. Immerhin hatte er sie nicht einmal angesehen.
„Ja. Ihr Name ist Natascha Di Valoria. Sie ist die Tochter eines erfolgreichen Kaufmannes. Schön, dass Ihr Euch erinnert."

„Wie könnte ich nicht? Immerhin konnte sie nicht die Augen von mir nehmen."
Eleonore lachte.
„Es ist Euch aufgefallen? Ich für meine Person fand das ziemlich lästig."
Ein Blick in seine kalten, grauen Pupillen, verriet wie sehr es ihm auch missfallen war. „Ich bitte für sie um Verzeihung", meinte sie nun wieder etwas eingeschüchtert.

Er machte eine abtuende Handbewegung.
„Ich gebe zu sie ist manchmal ziemlich direkt und vergisst alle Förmlichkeit. Sie ist genauso neugierig wie ich und sie kann auch ganz schön eingebildet sein. Aber wer sie wirklich kennt, der weiß was für ein herzensguter Mensch sie ist. Ich kann mich immer auf sie verlassen, kann ihr alles erzählen. Wir haben den gleichen Geschmack und selbe Interessen. Wir machen alles miteinander, sehen uns fast täglich."

Jay Mathur hatte ihr aufmerksam zugehört. Aber seine Miene zeigte weder Bewunderung noch Verständnis.
„Ist das Eure Art Freundschaft zu bezeichnen?"
„Gewiss. So wie es überall der Fall ist."
„Nicht überall."

Er nahm ihr gegenüber Platz. Warum kam er jetzt näher? Was machte ihn so unruhig? War es die Unterhaltung oder war da noch etwas anderes? Jedenfalls schien Jay Mathur sich in seiner Haut überhaupt nicht wohl zu fühlen, jedoch bemühte er sich das zu verbergen.
„Da wo ich herkomme, bezeichnet man so etwas als Bekanntschaft. Ihr könnt Euch glücklich schätzen ein solch unbeschwertes und freies Leben führen zu dürfen."

„Das ist nicht Euer Ernst, Mein Herr."
„Und ob. In meiner Welt bedeutet Freundschaft bedingungsloses Vertrauen und eine Selbstverständliche Opferbereitschaft, wie es nur wenige Menschen bereit sind zu geben. Ich nenne Alain einen meiner besten Freunde, weil er nicht klug und witzig ist oder wir viel gemeinsam haben. Sondern weil er mich bis aufs kleinste Haar kennt. Er weiß alles über mich und umgekehrt. Ich muss mich nicht großartig ausdrücken, damit er mich versteht."

Er lehnte sich lässig zurück, aber seine nervösen Finger tippten unruhig auf die Armlehne seines Sessels, als er weiter sprach:
„Wir haben rein gar nichts gemeinsam und trotzdem weiß er, was ich denke, was ich fühle. Er kennt sogar jedes kleinste Geheimnis von mir. Er ist immer für mich da. Begleitet mich bis and Ende der Welt, würde ich ihn darum bitten. Ich kann mich hundert prozentig auf ihn verlassen, in jeder Situation. Wenn ich rufe, ist er da und sagt nicht tut mir leid habe keine Zeit. In einem Kampf brauche ich mich nicht umzuschauen, was hinter mir ist. Ich weiß, dass er da ist und mir den Rücken deckt. Genauso wie ich den seinen decken würde. Ich würde ohne mit der Wimper zu zucken mein Leben für ihn geben und er hat bereits bewiesen, dass er jede Bitte für mich erfüllen würde und mein Leben über seines stellen würde. Das ist für mich Freundschaft."

Eleonore war zutiefst berührt. Eine solch enge Verbundenheit zu Alain hätte sie nie erwartet. Aus ihm sprach noch etwas anderes. Wieder sah sie diesen Ausdruck in seinen Augen. Der Mann hatte einiges erlebt. Sie erhob sich und versuchte ihm Verständnis zu vermitteln.
„Ich bin mir sicher Ihr habt eine Menge durch gemacht. Eure Welt ist eine andere als die meine."

„Ihr wisst rein gar nichts über meine Welt."
Er stand ebenfalls wieder auf und wandte sich ab. Die pure Ablehnung von ihm verletzte sie. „Natürlich. Ihr seid ein Krieger, Eure Welt ist grausam und düster. Glaubt Ihr ich weiß nichts über Euch?"

Blitzschnell drehte er sich um und trat ein paar Schritte auf sie zu.
„Bei allem Respekt, Miss, was glaubt Ihr über mich zu wissen?", fragte er aufgebracht. „Nur weil Ihr ein paar Worte mit mir gesprochen habt und Alain kennt, bildet Euch nicht ein mich zu kennen."
„Es tut mir schrecklich leid, wenn ich Euch zu nahe getreten bin. Es war nicht meine Absicht Euch zu erzürnen. Aber ich möchte ehrlich zu Euch sein. Ich möchte Euch gerne kennen lernen."

Er lachte sarkastisch.
„Ganz ehrlich, Miss, ihr hütet Euch lieber vor meiner Person. Es ist gefährlich mich zu kennen."
„Warum?"
„Weil...", er hielt inne und fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes rabenschwarzes Haar. Für einen kurzen Moment wirkte er verloren. Dann sagte er: „Verzeiht mein Temperament. Ich bin momentan nicht ganz ich selbst. Aber ich meinte es ernst. Ihr tut gut daran Euch von mir fern zu halten."
„Und was geschieht, wenn ich das nicht tue?"
„Dann seid Ihr töricht."

„Mag sein. Dennoch möchte ich Eure Freundschaft erwerben."
Er hob die Augenbrauen. „Weshalb?"
„Wegen Alain. Ich mag ihn. Da Ihr ihm sehr nahe steht möchte ich auch Euch kennen lernen."

Normaler Weise konnte sie gut in die Menschen hinein schauen, aber dieser Mann gab nichts von sich preis. Wenn sie Alain jemals für verschlossen hielt, dann hatte sie sich geirrt. Gegen Jay war Alain ein offenes Buch. Zumindest für sie.

„Ist es denn so falsch? Ich bin gewiss kein Krieger und habe auch nicht alle diese tollen Eigenschaften, von denen Ihr gesprochen habt. Aber ich bin ehrlich und verlässlich."
Sie stutzte. Für ein paar Minuten wirkte er traurig. Seine grauen Augen sahen sie an, nahmen sie aber nicht wahr. Er wirkte hilflos und einsam. Das war seit dem sie das Haus betreten hatte mehr Gefühl als er vorher gezeigt hatte. Dann fasste er sich wieder und brachte seine Gesichtszüge unter Kontrolle.

„Tut mir leid, Miss Eleonore, ich habe weder die Zeit noch halte ich es für richtig, wenn wir uns zu nahe kommen."
Sie lachte. „Ich wollte nicht mit Euch Hochzeit halten, ich habe lediglich um Eure Freundschaft ersucht."
Sie hatte nur einen Scherz machen wollen. Aber aufgrund Jays Gesichtsausdrucks, wusste sie, dass das ein Fehler war. Sofort ware seine Ausstrahlung wieder abweisend. Verkrampft straffte er die Schultern und holte tief Luft.

„Alain wird jeden Moment zurück sein. Entschuldigt mich."
Jay Mathur verneigte sich, so wie es Ehre und Anstand von ihm verlangten. Aber keine Sekunde zulange, bevor er sich abwandte und die Stufen hinauf stieg. Eleonore hatte ein schlechtes Gewissen. Dabei wusste sie nicht einmal was sie falsches gesagt hatte.

Kurz drauf hörte sie ein Pferd auf den Hof reiten. Sie erhob sich, um aus dem Fenster zu schauen. Draussen führte Alain sein Pferd direkt in den Stall und kam wenige Sekunden später wieder heraus. Er klopfte sich Staub von den Armen während er auf das Wohnhaus zukam.

Tuan erschien aus dem Nichts und öffnete die Tür. Eine kurze Verbeugung und er nahm dem jungen Mann den Umhang ab. Dieser bedankte sich, erblickte sogleich Eleonore und grüsste sie freundlich.

„Wie war dein Tag, meine Liebe. Ich hoffe du musstest nicht zu lange warten. Aber dort draussen ist es wie im Jungle."
Er gab ihr einen flüchtigen Handkuss, was sie rot werden ließ.
„Und ich nahm an du wärest in der Wüste gewesen, so wie du aussiehst."
„Nein, zum Glück nicht."
Beide lachten. Da sah Alain plötzlich nach oben und erblickte Jay, der sich über die Brüstung der Empore beugte. Alain sagte ihm etwas sauf tamaranisch. Es hörte sich jedenfalls danach an und Jay nickte zufrieden. Dann verschwand er wieder.

„Dein Freund hat mich während ich wartete unterhalten."
Alain machte große Augen. „Wirklich?"
Sie nickte. „Das hätte ich nicht erwartet. Schade dass Ihr euch kennen gelernt habt, als ich nicht hier war."
Er brannte natürlich darauf mehr über ihr Gespräch mit Jay zu erfahren, war aber zu höflich und zu eigen, um es zu sagen.

Eleonore verstand seinen Wunsch trotzdem. Sie zögerte und warf einen nervösen Blick nach oben. Alain verstand und lachte.
„Keine Sorge, du kannst ungehemmt sprechen. Ganz gleich was du sagst, würde es ihn nicht beeindrucken. Außerdem weiss er ohnehin schon was du von ihm hältst."

„Ach ja?"
„Er hat so eine Art siebten Sinn dafür."
Auch wenn sie nicht verstand, wie er das meinte erzählte sie ihm, worüber Jay mit ihr gesprochen hatte. Dabei führte Alain sie in einen größeren Wohnbereich. Dort standen bequeme Sessel vor einem Kamin und viele Bücheregale. Eine breite Fensterfront führte auf eine Terrasse. Diese war von zwei Grashügeln umrandet um Windschutz zu geben. Zwischen ihnen erstreckte sich ein atemberaubender Blick aufs Meer. Ja Eleonore liebte dieses Haus. Es war unglaublich, was man aus der alten heruntergekommenen Hütte gemacht hatte.

Die Sonne schien auf Alains muskulöse Arme und liess sie heller erscheinen. Welch schöne Hautfarbe der Mann hatte- tamaranisch und exotisch. Seine dunkelbraunen Locken waren zwar noch sehr kurz aber länger als sonst. Sie fielen ihm schon in die Stirn. Himmel war er attraktiv.

Eleonore konnte gar nicht anders als ihn anzustarren. Waren alle tamaranischen Krieger so gut aussehend? Dann würde sie auf jeden Fall nach Dokrat gehen wollen. Schnell verwarf sie den Gedanken. Das war unmöglich. Ihre Eltern würden eine solch verrückte Idee niemals gutheißen. Aber eines genoss sie unheimlich: In Alains Nähe fühlte sie sich wohl. Sie konnte sich entspannen und er nahm sie, wie sie war.

Die Gesellschaft, von der sie üblich umgeben war - abgesehen von Natascha - war engstirnig und verklemmt. Bei ihm war es anders. Sie hatte es nicht nötig sich zu verstellen. Das hatte sie immer schon so empfunden. Auch damals schon in der Hauptstadt, wo er sie beschützen sollte.

Damals war er allein dort gewesen, um mit wichtigen Personen aus gehobenen Kreisen zu sprechen. Es war ungewöhnlich für Dokrat einen Krieger in solchen Angelegenheiten zu schicken. Vielleicht war es auch ein anderer Grund gewesen, den er ihr damals nicht verraten konnte.

Jedenfalls war er ihr sofort ins Auge gefallen. Sie hatten sich auf einem Staatsbankett kennen gelernt. Ein Mann mit solch auffälliger Hautfarbe musste einfach auffallen. Alle Damen hatten sich nach ihm umgedreht. Nur mit ihr hatte er einmal getanzt, weil ihr Vater den Wunsch geäußert hatte.

Ihre Eltern fanden Alain auch sofort sympathisch. Wäre er kein Krieger und sie nicht zu jung gewesen, hätten sie ihn vielleicht sogar gebeten Eleonore zu heiraten. Oh zu gerne hätte sie das getan. Keine Frau aus Eskalat hätte sich rühmen können einen solchen Mann zu bekommen. Aber es sollte nicht sein. So gut sie sich auch verstanden, er war ein Krieger. Das durfte nicht sein.

Doch heute sah alles anders aus. Heute war er kein Krieger mehr, heute sah er immer noch umwerfend aus, heute war er immer noch sympathisch und heute war sie immer noch in ihn verliebt.

All die Gefühle von damals keimten in ihr auf. Bis jetzt hatte sie ihr Herz verschlossen und diese Gefühle in den hintersten Winkel ihres Herzens verbannt. Nun da er bei ihr war, kam alles zurück. Es war nur ein Tanz gewesen. Ein einziger Tanz, der ausgereicht hatte um ihr Herz an Alain zu verlieren.

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