Sechzehn
Alain hatte sich große Sorgen um seine Freunde gemacht. Auch als Hoher Meister sollte Jay nicht so sorglos mit seinem Leben umgehen. Immerhin machte das Channa nicht unsterblich. Warum nur waren er und Ram alleine gegangen? Jay erhält irgend einen Brief von einem Unbekannten und stürzt sich Hals über Kopf aus der Stadt. Was dachte er sich nur dabei?
Alain stand im Salon und beobachtete seinen Freund Ram, der total entnervt und müde auf der Bank saß und den Kopf hängen ließ. Jay war gleich nach seiner Rückkehr in seinen Gemächern verschwunden. Er hatte verstört gewirkt, und doch hatte es nicht danach ausgesehen, als wären er und Ram in einem Kampf gewesen. Trotzdem wirkten sie erschöpft.
„Hier!"
Eleonore reichte Ram einen Becher mit warmen Met. Das würde ihn nicht nur wärmen sondern mit Sicherheit aufmuntern. Ram liebte das Zeug. Manchmal dachte Alain, dass das Getränk einen höheren Stellenwert für Ram hatte als Samara. Aber nur wenn er schon drei oder vier Becher davon getrunken hatte.
Doch Ram lehnte sehr zu Alains Verwunderung ab. Na so was. Es musste was ernstes passiert sein, wenn Ram nicht einmal was trinken wollte. Langsam wurde Alain unruhig. Ram war nicht die Art von Mann sich so gehen zu lassen. Auch Jays Reaktion war verwirrend. Alain kannte seinen Freund einfach zu gut. Er wusste genau wenn er sich verstellte.
Er hatte die beiden in der Halle empfangen und sie mit Fragen gelöchert. Doch Jay hatte seine Waffen und seinen Umhang abgelegt und war geradewegs nach oben gegangen.
„Wie...du überlässt sämtliche Erklärungen wieder mir?", stellte Ram wenig begeistert fest. „Zieh dich nicht wieder aus der Affäre, Jay."
„Tut mir leid, Ram, ich bin beschäftigt", gab Jay zurück, als er schon auf der Treppe war.
„Das kannst du nicht machen."
„Ich bin der Hohe Meister von Tamaran. Ich kann machen was ich will."
Damit verschwand Jay.
Alain seufzte und setzte sich neben seine Frau, die immer noch versuchte Ram aufzuheitern.
„Kannst du mir nicht endlich erzählen, was dich so bekümmert? Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht darüber redest."
„Du kannst mir einfach nicht helfen. Ich glaube ich verliere so langsam den Verstand."
Alain seufzte erneut. Dieses Mal aus Frust. „Rede endlich."
Ram sammelte sich einen Moment, dann begann er von dem Treffen in der alten Ruine zu berichten. Je mehr er erzählte, desto größer wurden Alains Augen. Als Ram fertig war, griff er doch nach dem mittlerweile kalten Met und lehrte den Becher zügig. Er verzog das Gesicht. Das Getränk konnte gar nicht mehr gut schmecken.
„Ich kann nicht fassen, was du mir da sagst. Tristan soll am Leben sein? Und noch schlimmer...er ist zu den Saboranern übergelaufen? Jay ist der saboranische Thronfolger und noch dazu Sujits Bruder? Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll."
„Armer Jay. Er muss sich furchtbar fühlen", sagte Eleonore besorgt.
„Er hat es mit erstaunlicher Fassung getragen."
Alain verschränkte die Arme. „Ich glaube dir kein Wort. Nicht einmal ihn kann so ein Treffen unberührt lassen."
„Tut es auch nicht", sagte Jay, der plötzlich im Raum stand. Er hielt ebenfalls einen Becher in der Hand, der nach noch stärkerem Alkohol aussah. Alain hatte Verständnis, dass er dieses Mal den Alkohol brauchte.
Jay setzte sich zu Ram und trank einen weiteren Schluck. „Was ist mit dem Rat?"
„Ganz ehrlich, Ram, ich will den Rat gerade nicht sehen. Ich kümmere mich später darum."
„Verstehe."
„Heißt nicht, dass ich aufgebe. Ich mache es nur später."
„Schon gut. Ich habe nichts gesagt."
„Aber gedacht."
Überrascht sah Ram ihn an. „Bitte bleib aus meinem Kopf raus, Jay! Das ist ja gruselig."
Jay lachte. Einen Augenblick später stimmten Alain und seine Frau mit ein.
„Was?", fragte Ram verwirrt.
„Ich habe deine Gedanken nicht gelesen, Ram. Zu neunzig Prozent werde ich darin eh nur Samara finden. Aber ich habe dir deine Sorge um mich gerade angesehen."
Wieder lachte Eleonore.
„Verständlich nach allem, nicht wahr?"
Anstelle einer Antwort trank Jay den Becher leer und stellte ihn ab.
„Geht es dir jetzt besser?", fragte Alain ohne den Blick von den Becher zu heben.
„Mir geht es nicht schlecht."
„Als ob es dir gut ginge."
„Das habe ich nicht gesagt."
„Und was wirst du jetzt machen?"
„Alain, zu wissen, dass mein Ursprung in Saboran liegt, ändert gar nichts. Irgendwie habe ich es geahnt. Ich meine, seht mich doch an. So helle Haut findet man nun mal nur in Saboran. Dass ich zufällig noch Sujits Bruder bin, ist doch ein Bonus."
„Soll das ironisch sein?"
Jay schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß nur noch nicht genau was ich daraus mache." Er stand auf. „Lasst euch nicht zu sehr ablenken. Tristan ist vor acht Jahren gestorben. Es ändert sich also nichts in der Hinsicht. Nur kann ich mich nicht darauf konzentrieren. Der Rat braucht mich. Außerdem ist diese Ratte noch da draußen." Jay sprach definitiv von Jeremy.
„Keine Sorge, wir passen schon auf uns auf. Kümmere du dich erst einmal um den Hohen Rat."
Jay nickte.
~
„Bist du sicher, dass es für uns in Ordnung ist hier zu sein?", fragte Eleonore ihren Gemahl nervös und hakte sich bei ihm ein. Herausgeputzt und vorbereitet schritten sie durch den ehrfürchtigen Palast Dokrats.
Eleonore sah sich genau um. Es war ein altes Gebäude, deren Wände und Säulen bestimmt zehn Meter hoch waren. Rote Läufer dämpften ihre Schritte auf dem hellen Steinboden und an der Decke hingen gigantische Feuerschalen hinab. Sie ließen die sonst strahlend weißen Wände in einem warmen Orange erscheinen, was die gesamte Umgebung nicht so kalt und ungemütlich machte. Ein schwarz gekleideter Mann - definitiv ein Krieger für Eleonore - führte sie zu einer breiten Flügeltür. Er wies den Wachen davor an, den beiden Gästen Eintritt zu gewähren.
„Ihr dürft euch auf der Empore niederlassen. Aber seit leise. Sobald ihr euch laut bemerkbar macht, werde ich euch des Saals verweisen" sagte der fremde Krieger.
Alain nickte bestätigend.
„Sie haben uns nicht einmal nach Waffen untersucht" flüsterte Eleonore ihm zu.
„Sie wissen genau, dass wir keine bei uns haben. Außerdem genieße ich die Gunst und das Vertrauen des Hohen Meisters."
Eleonore sah ihn zwinkern und lächelte breit zurück.
„Irgendwas gutes muss es ja haben."
Wieder grinste Alain. Dann führte er sie auf der Empore entlang wo sich schon einige stille Zuschauer aufhielten. Dieser Bereich war speziell denjenigen überlassen, die eine Erlaubnis hatten den Ratssitzungen beizuwohnen, sich aber nicht aktiv daran beteiligen durften.
Es war Eleonore noch immer ein Rätsel, dass man sie und Alain hinein gelassen hatte. Aber Alain war schon früher Mitglied des Rates gewesen und lies sich keine Sitzung entgehen, seit Jay zurück war. Dieses Mal hatte er Eleonore den Wunsch nicht abschlagen können ihn zu begleiten. Sie war einfach viel zu neugierig.
Nun standen sie da und lauschten den Themen die unterhalb von ihnen besprochen wurden. Das meiste waren Banalitäten, nichts was wirklich den Krieg oder die im Lande verstreuten Saboraner betraf.
Eleonore fand Jay auf dem Steinsitz hinter den Stühlen der Großmeister. Sobald jemand das Wort hatte, erhob derjenige sich und nahm wieder Platz, sobald er zu Ende gesprochen hatte.
„Ist er gelangweilt?", fragte Eleonore weiterhin im Flüsterton.
„Nein er ist konzentriert."
Jay meldete sich nicht zu Wort. Hätte Eleonore es nicht besser gewusst, hätte sie angenommen er würde gar nicht zuhören. Doch er hörte genau zu.
„In Ordnung, des Weiteren hätten wir einen Mann, der um Audienz ersucht", sagte einer der Protokollanten.
Mann lies den Mann herein. Ein kleiner, aber dünner Mann mit abgetragenen, schmutzigen Kleidern. Er trug ein Wams, eine zerrissene Hose und Schuhe die bestimmt schon hundert Jahre alt waren.
Eleonore erkannte ihn als armen Bauern und empfand Mitleid mit ihm. Sie hatte auf ihrer Reise gesehen, was mit einigen Dörfern und ihren umliegenden Ländereien geschehen war. Ein trauriger Anblick war ihr in Erinnerung geblieben. Den Mann - bestimmt schon fünfzig oder sechzig Jahre alt - zierte eine Halbglatze. Der Rest seiner trockenen Haare war wirr und zerzaust. Er verneigte sich tief vor den Großmeistern und wartete bis man ihm gewährte zu sprechen.
„Sein Name ist Gorin und er ist aus Falzyr", las der Protokollant laut vor.
„Sprecht Gorin, was ist Euer Anliegen?", sagte Meister Joran. Alain erklärte, dass dieser Großmeister seit Jahren den Rat im Namen von Meister Yaran leitete. Diese Rolle spielte er immer noch. Obwohl es eigentlich nicht mehr seine Aufgabe war.
„Ich bin gekommen, um den Hohen Rat um Hilfe und um Großmut zu bitten", begann Gorin. „Unser Dorf leidet noch immer unter zahlreichen Angriffen von Saboranern, die sich als Räuber verkleiden. Sie zerstören unsere Felder und Häuser. Deshalb können wir auch nicht die Nahrung anbauen, die wir so dringend benötigen. Ich bin nur ein Bauer und zu alt mich jetzt noch nach einem anderen Handwerk umzusehen. Selbst wenn nicht, alles was wir im Dorf errichten, wird nach kürzester Zeit zerstört. Seit langem weiß ich nicht mehr wie ich meine Familie ernähren soll. Daher bitte ich den Hohen Rat um finanzielle Unterstützung und um den Schutz der Krieger. Ansonsten wird unser Dorf bald verhungern."
Es war üblich, dass sich der Senat um finanziell Angelegenheiten kümmerte, aber Falzyr war so klein und unbedeutend, dass es keine eigenen Verwaltung hatte. Gorins Erscheinen zeigte außerdem ein gewisses Maß an Vertrauen des Volkes und Hoffnung in den neuen Meister des Landes. Der Wunsch nach Veränderung und Sicherheit war deutlich zu spüren.
Leises Getuschel entstand unter den Anwesenden Kriegern. Jay, der zuvor den Kopf mit dem Arm auf der Lehne abgestützt hatte, richtete sich auf. Doch noch immer sagte er nichts.
Dafür erhob sich wieder Meister Joran. „Eure Situation ist wirklich bedauerlich. Vielen Dörfern und Städten ergeht es ähnlich. Ich versichere Euch, dass das Treiben der Saboraner bald ein Ende haben wird. Jedoch ist es uns nicht möglich unsere Krieger zu entbehren. Wir brauchen jeden einzelnen von ihnen, um die Stadt angemessen zu verteidigen. Selbst das wird nicht genug sein. So brauchen wir viel Geld, um Soldaten auszubilden und auszurüsten. Daher können wir kein Geld erübrigen, das Euch aus Eurer Lage befreien könnte."
Auch einer der Krieger erhob sich. Seine grau-blonde Mähne war streng zurück gekämmt und seine schwarze Kleidung wurde von mehreren Auszeichnungen und Medaillen verziert. Sein Gesicht war berechnet und kalt. Sobald Eleonore ihn sprechen hörte, würde ihr übel.
„Ich bitte noch etwas zu bedenken, Großmeister."
„Sprecht, General Draff."
„So bedauerlich das Schicksal des Dorfes ist, wenn wir einem was geben, werden andere kommen, denen wir auch etwas geben müssen. Ehe wir uns versehen, wäre die Staatskasse erschöpft und wer bezahlt dann die Soldaten?"
„Ein wichtiger Einwand, General. Habt Dank uns daran zu erinnern welche Prioritäten wir setzten müssen."
Meister Joran wandte sich wieder an Gorin. „Ich bedaure. Eurem Ersuchen wird nicht statt gegeben."
Sichtlich enttäuscht lies Gorin den Kopf hängen. Sogleich kamen zwei Wachen, um ihn hinaus zu begleiten, während die Großmeister sich schon nach dem nächsten Thema erkundigten.
Plötzlich ertönte ein lautes: „Halt!" durch den Saal und alles verstummte.
Eleonore hielt kurz die Luft an. Zum ersten Mal, seit sie zuschaute, hatte sich Jay erhoben und kam nun auf die Großmeister zu, die leicht erschrocken alle drei gleichzeitig von ihren Stühlen aufgestanden waren. Neben Meister Joran blieb Jay stehen und wies die Wachen allein mit einer Geste an zu gehen. Gorin blieb zurück. Voller Erwartung was der Hohe Meister als nächstes tun würde. Eleonore griff angespannt nach Alains Hand. Dieser schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln und konzentrierte sich wieder auf den Hohen Rat.
„Ihr wünscht etwas zu sagen, Meister Mathur?", fragte Joran als hätte Jay gerade etwas unmögliches gewagt.
„Allerdings", knurrte Jay. „Soll das Eure Vorstellung davon sein ein Land zu regieren?"
„Ich verstehe nicht."
„Natürlich nicht. Ihr könnt ja gar nicht anders als nur über euch selbst nachzudenken. Fakt ist doch, dass ihr vor lauter Angst nur noch auf eure eigene Sicherheit bedacht seid. Der Krieg hat aus euch ein paar egoistische Volltrottel gemacht."
Eleonore schluckte. Das saß. Die Großmeister waren so verwirrt nach dieser offenen Beleidigung, dass sie nichts darauf erwidern konnten.
„Ich fragte euch...und damit richte ich das Wort an alle hier. Ich frage euch...wofür kämpfen wir denn überhaupt in diesem Krieg? Worum geht es hier?"
Der Rat blieb ihm die Antwort schuldig.
„Gut, dann frage ich anders. Was macht Tamaran zu einem Land? Sind es die Grenzen, von uns Menschen eigenhändig geschaffen? Sind es die Bärge, Täler und Wälder, das Land an sich? Oder ist es der Name vielleicht?"
Wieder blieb der Rat still.
„Ich gebe euch die Antwort. Nicht weil ihr es nicht wisst. Wohl eher, weil ihr es vergessen habt: Es sind die Menschen. Damit sind nicht nur die wenigen gemeint, die in Dokrat leben. Sondern alle!"
Jay trat noch einen Schritt nach vorne. Eleonore konnte ihn nun im Licht der Feuerschalen deutlicher erkennen. „Und wenn nicht für das Volk, wofür lohnt es sich dann zu kämpfen? Für Stolz? Für Ruhm und Ehre? Die Medaillen, die ihr sammelt? Für Stärke, um euch gegenseitig etwas zu beweisen?"
Jays Stimme wurde lauter. „Sagt mir wofür?"
Keiner wagte auch nur sich zu bewegen.
„Wenn wir unser Volk weiterhin so vernachlässigen und die zurück weisen, die unsere Hilfe am meisten brauchen, dann sollten wir uns schämen uns Krieger zu nennen. Denn ihr alle habt vergessen was ein Krieger eigentlich ist. Ihr alle kennt euren Kodex. Beim Abschluss der Akademie müsst ihr ihn alle aufsagen. Glaubt ihr das sind nur leere Worte? Wer von euch kann denn mit Stolz behaupten, dass er danach lebt? Wer beschützt das Volk weil er es will? Wer kämpft nicht aus eigennützigen Gründen? Wer von euch ist selbstlos und keine willenlose Marionette des Rates? Ich habe mich mein Leben lang geweigert so zu werden. Am Ende hätte ich mich fast selbst an Dokrat verloren. Aber der Kodex hat uns nicht gelehrt willenlos und gefühllos zu sein. Außerdem müsst ihr lernen wieder an euch selbst zu glauben. Ihr seid Krieger, verdammt noch mal!"
Jay bekam vereinzelte Zustimmung von den Männern im Rat.
„Ihr genießt die beste Ausbildung und dennoch seid ihr zu schwach, weil ihr dem Hohen Rat gestattet habt euch zu manipulieren und schwach zu machen. Einst waren wir ein stolzes Volk. Ich will Tamaran dahin zurück bringen. Doch das kann ich nicht allein tun. Ich brauche eure Hilfe. Ihr habt mich als euren Meister gewählt. Dieses Vertrauen, welches ihr mir entgegen gebracht habt werde ich nicht missbrauchen."
Wieder gab es Zustimmung nur dieses Mal viel lauter.
„Von nun an wird der Hohe Meister nicht mehr schweigsam dort sitzen und nichts tun. Die Zeiten sind vorbei!"
Nun hatte Jay den gesamten Rat auf seiner Seite. Er wartete einen Moment bis er zu Gorin sagte: „Ihr sollt soviel Geld mitnehmen, wie ihr tragen könnt. Außerdem sollen euch fünf Krieger begleiten von mir persönlich ausgewählt um Falzyr einen dauerhaften Schutz zu gewähren und euch zu helfen das Dorf sicher aufzubauen. Sie werden solange bleiben, bis das Dorf sich selbst verteidigen kann."
Jay drehte sich um und blickte in die kalten und erzürnten Gesichter der Großmeister.
„Das könnt ihr nicht machen, mein Herr."
„Meister Dolfgeir, wollt ihr mir, dem Hohen Meister von Tamaran, erzählen was ich kann oder nicht?", fragte Jay mit hochgezogener Augenbraue. Dolfgeir schluckte und nahm Platz.
„Bitte bedenkt doch, wir brauchen die finanziellen Mittel, um eine Armee aufzubauen", warf Joran noch ein. Jay verengte die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Meine werten Großmeister, wir haben eine Armee."
„Sie ist nicht stark genug", protestierte Meister Frey.
„Doch das ist sie!", schrie Jay schon fast. „Wenn ihr den Männern nicht eingeredet hättet, sich nur auf ihre körperliche Stärke zu verlassen, könnte sie noch viel stärker sein. Alles was sie tun müssen ist wieder an sich selbst zu glauben, dem Channa zu vertrauen und mir zu vertrauen. Dann wird unsere Armee schon bald ihre alte Stärke erreichen. Zudem werde ich die alten Krieger aus dem Exil zurückholen. Ihre sogenannten Vergehen sind mit sofortiger Wirkung vergessen, ihre Ränge wieder hergestellt genauso wie ihre Ehre."
Tosender Beifall ertönte und Jay hatte den gesamten Rat für sich gewonnen. Eleonore spürte eine Gänsehaut auf ihren Armen. Ein Blick in Alains strahlende Augen verriet wie stolz er gerade auf seinen Freund war.
~
Diese engstirnigen, hohlköpfigen und unfähigen Großmeister hatten genug Unheil angerichtet. Es wurde mal Zeit, dass ihnen jemand Einhalt gebot. Er hatte bloß auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Auch wenn die Großmeister ihn jetzt noch mehr hassten, wie zuvor. Darauf nahm Jay keine Rücksicht. Nach und nach würde er sich ihnen entledigen. Mit Applaus und Begeisterungsstürmen hatte Jay weniger gerechnet. Doch freute es ihn sehr. Das machte es ihm wesentlich leichter.
Er stutze, er spürte Alain im Rat. Schnell lies er seine Augen über die Anwesenden gleiten. Tatsächlich fand er ihn und Eleonore auf der Empore. Ein zufriedenes Lächeln huschte für Sekunden über Jays Gesicht. Dann nahm er wieder seinen Platz ein und wies den Protokollant an fort zu fahren.
Nach der Versammlung kehrte Jay nach Hause zurück. Es war ihm unangenehm die Gemächer des Hohen Meisters einzunehmen. Darum zog er sein eigenes Heim jeder Zeit vor. Sobald er auf seinem Hof angekommen war fiel sein Blick auf eine dunkle Kutsche mit vier prächtigen Schimmeln vorgespannt.
Er kannte die Kutsche nicht, noch hatte sich Besuch angekündigt. Verwirrt ließ er sich vom Rücken seines Pferdes gleiten, überlies es dem Stallburschen und eilte die Stufen hinauf. Doch vor der Eingangstür zögerte er. Die Person, die er spürte konnte sich unmöglich in seinem Haus befinden und doch konnte er sich auf sein Channa in dieser Hinsicht verlassen. Sein Blick fiel wieder auf die Kutsche und vor seinen Augen erschienen Bilder vom Vormittag.
Also hatte er sich doch nicht geirrt. Sie war da! Obwohl sich Jay jeglicher Gefühle entsagt hatte, bei ihr konnte er es nicht. Er freute sich zu sehr, um sein klopfendes Herz unter Kontrolle zu bringen. Doch er mahnte sich zur Ruhe. Er durfte seinen Gefühlen nicht nachgeben. Es ging einfach nicht. So stand er bestimmt fünf Minuten vor dem Haus und versuchte sich zu beruhigen. Bis sich die Tür vor ihm öffnete und Salik ihn fragend ansah.
„Wie lange möchtest du denn noch dort draußen verweilen? Wartest du auf etwas bestimmtes?"
„Wie? Ach nein. Ich war nur leicht verwirrt über den hohen Besuch."
„Ah ja. Sie kamen heute morgen. Aber warum kommst du nicht erst einmal herein."
Jay folgte der Aufforderung. Sein Weg führte ihn zielsicher in den Salon, wo sich seine Freunde versammelt hatten und die unangemeldeten Gäste unterhielten.
Arman Archyr von Barath hatte sich die Ehre nicht nehmen lassen, den Hohen Meister persönlich im Augenschein zu nehmen. Wie selbstverständlich hatte er auch seine Gemahlin genötigt sich dem Schauspiel anzuschließen, denn das würde es zweifelsohne werden - und ja, er hatte sie genötigt, das hatte Jay durch sein Channa erfahren.
Nun saß sie elegant wie eine Porzellanstatue in seinem Salon, trug die feinste Seide, den kostspieligsten Schmuck und war geschminkt wie eine Prinzessin. Jeder Mann würde ihr sein Herz zu Füßen legen. Jay wusste es besser. Sie war viel schöner ohne all das.
„Ah Jay, willkommen zurück."
Übertrieben lächelnd stand Ram plötzlich auf und begrüßte seinen Freund. Aller Augen waren nun auf ihn gerichtet.
„Meister Mathur, gehe ich richtig in der Annahme?", fragte der Herzog von Barath ebenfalls eine Spur zu höflich.
Dieser Arman sollte gar nicht erst versuchen sich bei Jay einzuschmeicheln. Wäre er wenigstens gut zu Sanjana gewesen, dann würde es Jay nichts ausmachen, gute Miene zu machen. Aber Arman war nicht gut zu seiner Frau. Ganz im Gegenteil. Und wieder schossen Jay die Bilder aus Namalia durch den Kopf. Nur dieses Mal kam eine ganze Reihe von neuen dazu, begleitet von stechenden Kopfschmerzen.
So gelang es Jay nicht ganz ein Lächeln zu Stande zu bringen. Den Schmerz ignorierend und Sanjanas Blick ausblendend ging er auf den blonden Mann zu und verneigte sich halb zur Begrüßung. Es war eher eine Sache der Gewohnheit, denn eigentlich stand er weit über dem Herzog und musste sich nicht mehr verneigen. Doch er brachte ihm damit einen gewissen Respekt entgegen, den Arman Archyr in Jays Augen eigentlich nicht verdient hatte.
Dieser erwiderte den selben Gruß und begann sogleich Jay zu mustern. Es war für Jay ein leichtes in seinen Kopf zu schauen und seine Gedanken zu deuten.
Arman war überrascht einem so jungen Mann gegenüber zu stehen. Er hatte jemanden mit weitaus mehr Lebenserfahrung für mehr geeignet gehalten. Außerdem hatte der Mann eine ordentliche Portion Respekt vor ihm. Immerhin hatte sich die Nachricht von Jays außerordentlichen Fähigkeiten wie ein Lauffeuer übers Land verbreitet.
Wie stark Jay war, vermochte keiner einzuschätzen, was auch der Grund für Armans hohes Maß an Respekt war. Er hasste es Menschen nicht einordnen zu können. Was das betraf freute sich Jay. Doch dann fiel dem Herzog etwas auf, was ihm gar nicht gefiel. Das Lächeln gefror ihm für einen Moment zu lange im Gesicht.
Arman bemerkte Jays Augen. Und da erschien wieder das Bild des dunkelhaarigen Jungen aus Namalia. Es war Adytia. Sanjanas und Jays Sohn. Arman hatte sich geweigert ihn anzuerkennen, wegen exakt dieser grünen Augen und nun sah er sie in Jay Mathur wieder.
Innerlich verfluchte Jay sich und versuchte seine gewohnte Maske aufzusetzen. Wäre Sanjana nicht anwesend, wäre ihm das schon längst gelungen. Er war nachlässig geworden.
Auf einmal entspannte sich Armans Gesicht wieder. Offensichtlich sah er nun wieder das gewohnte grau. Hatte er den Wandel bemerkt oder tat er es als Einbildung ab? Jay hoffte letzteres.
All das war in wenigen Sekunden passiert. Jay hatte das Gefühl es wären Minuten gewesen. Das verdankte er dem Channa. Er bekam einfach alles intensiver mit. Und das wurde immer stärker. Bald würde er Magnus wieder einen Besuch abstatten müssen. Das Channa unkontrolliert wachsen zu lassen, könnte ihn ins Verderben stürzen. Wie oft hatte der Channajiu ihn davor gewarnt?
„Es ist mir eine Ehre Eure Bekanntschaft zu machen Meister Mathur. In ganz Tamaran hört man nur Lobreden über Euch."
Ach was, tatsächlich? Dachte Jay sich gelangweilt.
„Die Ehre ist ganz meinerseits, Herzog Archyr. So bin ich aber noch mehr erfreut Eure reizende Gemahlin wieder zu sehen."
Zuerst hatte Jay überlegt Arman etwas vorzuspielen und ihn im Glauben zu lassen, er kannte Sanjana nicht. Aber so feige war er nicht.
„Oh, Ihr kennt sie bereits."
„Ja wir kennen uns, Arman", bestätigte Sanjana und erhob sich. Sie machte einen so tiefen Knicks, wie Jay es vorher noch nie bei ihr gesehen hatte. Schnell griff er nach ihrem Arm und half ihr wieder hoch. Damit erwies er ihr die entsprechende Ehre. Nur hatte er vergessen, was eine einzige Berührung mit ihr in ihm auslöste. Also lies er sie ganz schnell wieder los.
„Vor einigen Jahren hatte ich den Auftrag sie zu beschützen und nach Dokrat zu bringen."
„Damals war er noch ein Major", erklärte Sanjana.
„Ach so ist das."
Natürlich würde sich der feine Herzog damit nicht zufrieden geben. Er wollte Sanjana später nach Details fragen. Jay bekam ein wachsendes Gefühl der Unruhe. Seit Arman seine wahren Augen gesehen hatte. Das könnte Sanjana in große Schwierigkeiten bringen.
„Nun, Herzog Archyr, ich bitte Euch, sowie Eure reizende Gemahlin meine Gäste zu sein. Nun da ihr den weiten Weg gemacht habt, kann ich Euch unmöglich wieder so schnell fortschicken."
Jay musste versuchen Sanjana länger bei sich zu behalten. Nicht aus selbstsüchtigen Gründen. Er fürchtete um ihre Sicherheit. Nicht allein wegen ihres Mistkerls von Gatten, sondern auch wegen Jeremy. Noch blieb der Feigling in seinem Versteck. Doch sobald er erfuhr, dass Sanjana hier war und noch dazu Jays Freunde, würde er sich schon bald wieder nach Dokrat wagen. Jay konnte sich immer noch nicht hundertprozentig auf seine Sinne verlassen. Das bereitete ihm Sorge.
„Ihr seid zu großzügig, Meister Mathur. Wie könnte ich diese Einladung ablehnen? Jedoch muss ich schon morgen zu einem wichtigen Termin weiter reisen."
„Ich habe dafür vollstes Verständnis. Ich weiß, was es heißt alle Hände voll zu tun zu haben."
Beim letzten Satz schenkte er Sanjana ein breites Grinsen. Es war eine Anspielung darauf ihr Leibwächter gewesen zu sein und damit im wahrsten Sinne die Hände voll zu tun zu haben.
Offenbar schien sie seinen Gedanken verfolgt zu haben, denn sie hob verschmitzt eine Augenbraue. Für einen Augenblick zu lange hielt ihr Blick den seinen gefangen. Er hatte sie wirklich sehr vermisst. Nie wieder wollte er ihr wehtun müssen.
„Ich mache einen Vorschlag. Was haltet ihr davon, wenn Sanjana Euch noch etwas länger Gesellschaft leistet? Sie kann mich würdig vertreten."
Jay war nicht nur angetan von der Idee sondern begeistert. „Es wäre mir eine Freude. Ihre Durchlaucht darf sich so lange als mein Gast fühlen, wie sie es wünscht."
Der Herzog nickte Jay dankend zu und lächelte. Nur Sanjana starrte ihren Gemahl an, als hätte er sie gerade in die Höhle des Löwen geworfen. Sie hielt wohl nichts von der Idee länger hier zu sein. Verübeln konnte Jay es ihr nicht.
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