Acht
Eleonore konnte es nicht glauben. Natascha hatte es tatsächlich geschafft. Jay gehörte ihr. Nur musste sie ihn auch halten können. Nie im Leben hätte Eleonore erwartet, dass er sich darauf einlassen würde. Offensichtlich war er nicht ganz so sehr von Natascha abgeneigt, wie es den Anschein hatte. Oder tat er es aus einem Gefallen heraus? Wenn ja, empfand sie Mitleid mit ihrer Freundin.
Doch wollte sie erst einmal abwarten. Vielleicht schaffte Natascha es ja tatsächlich sein kaltes Herz zu erwärmen und seine Liebe zu gewinnen. Fürs erste mussten sich die Frauen in Geduld üben, denn Jay und Alain waren erneut aufgebrochen, um etwas zu erledigen.
Was sie vor hatten wusste Eleonore nicht. Sie hatte Alain auch versprochen nicht danach zu fragen, was ihr sehr schwer fiel. Was machten die beiden nur geheimnisvolles, dass sie nicht darüber reden durften? Ob sie noch inoffiziell für Tamaran arbeiteten? Eleonore gingen so einige Möglichkeiten durch den Kopf.
Erst nach mehreren Tagen kamen die beiden wieder, ließen sich aber nichts anmerken. Eleonore hasste diese Geheimniskrämerei zutiefst. Sie war ein neugieriger Mensch und konnte es gar nicht leiden etwas nicht zu wissen.
Deshalb stattete sie Alain so bald wie es der Anstand zuließ auch einen Besuch ab. Eigentlich hätte sie für ihre Prüfungen lernen sollen, doch nun saß sie schon wieder im Salon der großen Villa und beobachtete Tuan, wie er geschäftig durchs Haus lief.
Sie hatte sich vorgenommen den Diener der beiden Herren auszufragen. Von ihm würde sie vielleicht mehr erfahren. Nur fand sie nicht die richtigen Worte, um ihn anzusprechen. Er wuselte hin und her, schenkte ihr dabei kaum Beachtung.
Halb zerknirscht trommelte sie mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel und ließ den armen Mann nicht aus den Augen. Plötzlich hörte sie ein leises Lachen. Sie drehte sich zur Treppe, auf der ein grinsender Jay stand, mit überkreuzten Armen, lässig ans Geländer gelehnt. Noch nie hatte sie ihn lachen gehört. Aber er machte sich bloß über sie lustig.
„Ihr könnt es aufgeben. Tuan ist verschwiegen."
Eleonore stutzte. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Nein, so etwas war nicht möglich. Tuan, der seinen Herren im selben Moment entdeckte, drehte sich zu ihm und verneigte sich höflich. Dabei achtete er darauf ihm nicht in die Augen zu sehen. Jay entließ ihn für den Moment und gesellte sich zu ihr. Was war denn mit ihm los heute? Ausnahmsweise schien er gute Laune zu haben.
„Seid Ihr wirklich so neugierig, Miss?"
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Das war ich immer schon. Ich kann Geheimnisse nicht leiden."
„Oh."
Jay ließ den Kopf hängen, als wäre er enttäuscht.
„Das wird schwierig, denn in diesem Haus leben nur Geheimnisse."
„Ihr würdet sie wohl nicht teilen, wenn ich Euch darum bitten würde?"
„Nein. Aber ich versichere Euch, Ihr werdet bald schon von alleine alles heraus finden. Alles was Ihr tun müsst, ist Euch in Geduld zu üben."
„Wie kommt Ihr darauf?"
„Ihr..."
Er zögerte.
„Was?"
„Ihr habt einen starken Geist."
Eleonore verstand gar nichts.
„Entweder du erklärst es ihr richtig, oder du musst es lassen. So verwirrst du sie nur."
Alain tauchte plötzlich aus einem der Nebenzimmer auf und setzte sich neben Eleonore. Es folgte eine knappe Begrüßung und sofort begann ihr Herz zu hüpfen, so doll freute sie sich ihn zu sehen.
Jay seufzte.
„Sei's drum, da ich kein Krieger mehr bin, kann ich wohl darüber sprechen. Außerdem erwarten die Channajiu, dass ich es mit den Menschen teile, die ich für würdig halte."
„Und du hältst Eleonore für würdig? Jay, sie ist weder in Tamaran geboren noch ein Krieger."
„Wo ist das Problem, Alain? Wenn alle weiterhin so denken, wie du, wird sich die Welt nie verändern."
„Wie du meinst. Ich möchte nur nicht, dass du sie in Gefahr bringst."
„Das werde ich schon nicht. Aber es wird Zeit, dass die Welt wieder vom Channa erfährt."
„Das Channa? Was ist das?", fragte Eleonore neugierig.
„Etwas, das in jedem von uns ruht. Das Channa ist sozusagen eine Art Energie, die es uns erlaubt Dinge zu tun, die normale Menschen nicht können. Die Channajiu haben früher ihr Wissen darüber mit den Kriegern Dokrats geteilt, bis der Hohe Rat Angst davor bekommen hat. Die Meister fürchteten, dass man solch eine mächtige Kraft gegen sie verwenden könnte. Also verboten sie die Anwendung und Verbreitung des Channa und säten Zweifel in den Köpfen der Menschen, bis diese die Channajiu fürchteten. So zogen sich diese zurück in die Berge und teilten ihr Wissen nicht mehr mit der Welt."
Jay machte eine Pause und Alain fuhr fort. „Was Jay zuvor meinte, ist, dass das Channa bei dir sehr stark sein muss."
„So etwas kann er einfach so sagen?"
„Wir haben gelernt das Channa zu nutzen und zu verbessern. Daher erkennen wir einen Menschen mit starkem Channa. Du bist so ein Mensch, nur dass es bei dir nicht ausgebildet ist."
„Aber woran erkennt man das?"
Je mehr sie über dieses Channa erfuhr, desto neugieriger wurde Eleonore.
„Ihr habt ein Talent dafür in die Seele der Menschen zu schauen", erklärte Jay. „Es fällt Euch selbst nicht auf, aber wenn Ihr mir in die Augen seht, habe ich ständig das Gefühl Ihr versuchst alle meine Gedanken und Gefühle zu erahnen."
Sein offenes Geständnis verblüffte Eleonore.
„Ich kann euch versichern, bei euch beiden ist mir nichts dergleichen gelungen."
Das war die Wahrheit. Bei ihrer ersten Begegnung mit Jay, hatten sie seine Augen fasziniert. Doch viel mehr als ein Haufen Geheimnisse, hatte sie nicht darin erkennen können.
„Das liegt daran, dass wir von Kindheit an gelernt haben unsere Gedanken und Gefühle zu verbergen. Bei den anderen Menschen aus Eskalat dürfte es dir nicht so schwer fallen sie einzuschätzen", meinte Alain.
Jay setzte sich ihr gegenüber.
„Wenn Ihr ein Krieger Dokrats wäret, könntet Ihr Euer Channa trainieren. Dann wäre es ein leichtes für Euch die Gesinnung eines Menschen einzuschätzen, was Euch in Tamaran erhebliche Vorteile verschaffen würde."
„Könnt ihr das?"
Beide nickten.
„Was könnt ihr noch?"
„Einiges", antwortete Alain und lehnte sich auf der Bank zurück. Dabei stieß sein Bein an Eleonores, was ihr wieder einen schnellen Puls bescherte. Sogleich fing sie Jays Schmunzeln auf.
„Was ist?", fragte sie verlegen.
Alain räusperte sich. „Hör damit auf Jay. Du bringst sie in Verlegenheit."
„Ich mache sie bestimmt nicht nervös."
Jay versuchte sein Lachen zu unterdrücken. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, wie er sich in Sanjanas Nähe gefühlt hätte, aber sie ließ es lieber bleiben. Es war das erste Mal, dass er nicht mit finsterer Miene vor ihr saß. Also wollte sie ihn nicht gleich wieder verärgern.
Außerdem wäre es Natascha gegenüber nicht gerecht. Ihr zuliebe würde sie Sanjana nie wieder in Jays Gegenwart erwähnen.
Tatsächlich taute Jay in den nächsten Monaten immer mehr auf. Ob es nun an Natascha lag oder nicht, er gab sich jedenfalls Mühe nicht mehr so abweisend zu sein.
~
Natascha war glücklich. Jay bemühte sich wirklich es ihr an nichts fehlen zu lassen. Er wirkte immer noch verschlossen und teilte seine Gedanken nicht mit ihr. Daher war es kein leichtes sich mit ihm länger zu unterhalten. Doch er machte diesen Mangel an Nähe und Gefühlen wieder gut, indem er ihr jeden Wunsch erfüllte.
Wenn er und Alain nicht auf Reisen waren, rief er sie oft zu sich und verbrachte einige Stunden mit ihr. Er behandelte sie niemals schlecht oder beschimpfte sie. Wenn er schlechter Laune war - nachdem er von einer Reise heim gekehrt war - ließ sie ihm immer Freiraum, bis er von selbst wieder zu ihr kam. Dann versuchte sie alles, um ihn aufzumuntern und ihn abzulenken.
Seine schlechte Laune deutete meist darauf hin, dass seine Reise nicht erfolgreich gewesen war - was auch immer er tat. Er verlor nie ein Wort darüber wohin er ging und was er tat. Sie wusste nur, dass er etwas gefährliches machte. Sie wagte nicht ihn danach zu fragen, denn das hatte sie ihm versprochen.
Die Zeit verging und Natascha hatte das Gefühl, dass Jay sich ihr gegenüber etwas öffnete. Die Gespräche wurden länger und sie wurde allmählich etwas schlauer aus ihm. Sie sprachen über alles mögliche nur nicht über seine Vergangenheit.
Er versuchte ein aufmerksamer Zuhörer zu sein, wobei sich Natascha sicher war, dass sie ihn manches Mal langweilte. Er lies sich nichts anmerken und folgte ihren Ausführungen, wenn sie ihm von ihrem Tag berichtete. Ihr Leben war bei weitem nicht so spannend wie seines, aber freute sie sich über jede Minute, in der er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte.
Mit der Zeit wurde sie auch offiziell zu seiner Geliebten. Auch wenn ihre Familie wenig von solch einer Beziehung hielt, ließ sie sich nicht davon abbringen. Dafür war sie diesem Mann schon zu sehr verfallen.
Wie konnte sie auch nicht, wenn er sie so gut behandelte. Auch wenn er nicht von Liebe sprach, er mochte sie immer mehr. Natascha fühlte das in seiner gesamten Weise, wie er sie berührte und mit ihr sprach. Vielleicht konnte sie ja doch noch sein Herz ändern.
Wenn sie bei ihm schlief, waren die Nächte endlos und er gab ihr immer ein seltenes Gefühl von Sicherheit. Der Himmel könnte einstürzen, Hochwasser das Dorf ertränken oder Waldbrände alles um sie herum vernichten, Jay würde da sein und sie beschützen. Ein bezauberndes Gefühl.
Alles was sie bedauerte, war seine geheimnisvolle Art und die Tatsache, dass sie kein Kind von ihm bekam. Ja er achtete darauf, dass sie nicht schwanger wurde. Er erwartete sogar von ihr einen speziell von Alain zubereiteten Trank aus Kräutern zu sich zu nehmen. Einmal im Monat sollte sie ihn trinken, damit sie nicht schwanger wurde.
Sie befürchtete unfruchtbar zu werden, aber Alain versicherte ihr, dass er nicht die Macht dazu besäße und ihr das niemals antun würde.
Es fiel Natascha schwer, denn sie hätte gerne ein Kind von Jay bekommen, was ihn vielleicht dazu bewegen könnte sie zu heiraten und mit ihr alt zu werden.
Doch was erwartete sie eigentlich? Er hatte ihr von Anfang an gesagt, dass er nicht ewig bei ihr bleiben konnte. Eines Tages würde er sie wieder verlassen. Da konnte er nicht zulassen, dass sie ein Kind bekam.
~
Amans kräftige Schritte hörte man schon sehr deutlich, obwohl die Türen zu Sanjanas Gemächern geschlossen waren. Er trat ein ohne anzuklopfen und stolzierte geradewegs auf ihr Bett zu. Natürlich hatte er keine Sekunde warten können. Er musste seinen zukünftigen Erben begutachten. Die Hebamme hatte Sanjana gerade das quäkende Bündel in die Arme gelegt. Sie war überglücklich und zugleich traf sie der Schlag, als sie in das blasse Gesicht des Neugeborenen sah.
Sobald sie in die tief grünen Augen des kleinen Kerlchens blickte, erstarrte sie. Er hatte genau die gleichen Augen, wie...sein Vater. Das war erstaunlicher Weise jetzt schon zu sehen.
„Lass ihn mich endlich sehen, Sanjana." Ungeduldig beugte sich Aman über das Baby. „Immerhin soll er auch..."
Ihm blieben die Worte im Halse stecken. Auch Arman konnte nicht leugnen, dass der Kleine überhaupt nicht nach Sanjana aussah und noch weniger nach ihm. Innerhalb von Sekunden lief er rot an und ballte die Fäuste.
„Arman..."
Sanjana wollte etwas sagen, doch sie kam nicht dazu.
„Wie kannst du mir das antun, Sanjana?", fragte Aman bedrohlich. „Dieses Kind könnte auch jeder andere anerkennen. Aber ich werde mir nicht die Blöße geben. Er hat nicht im geringsten Ähnlichkeit mit mir. Da mache ich mich ja lächerlich. Nein, ich werde dieses Kind nicht anerkennen. Du wirst ihn von der Öffentlichkeit fern halten und für tot erklären. Etwas anderes kannst du nicht von mir erwarten."
Damit wandte der Herzog sich ab und ließ eine vollkommen niedergeschlagene Sanjana zurück. Die Tränen liefen ihr wie ein Wasserfall über die Wangen. Das Baby weinte, als ihre Tränen in sein Gesicht tropften.
Wieder sah sie in diese wunderschönen grünen Augen. Er konnte nichts dafür, aber kaum war er auf der Welt, hasste und liebte sie das Kind. Warum musste er auch ausgerechnet diese ausdrucksstarken Augen besitzen? Sie erinnerten sie an Jay. Was sie irgendwie ein Stückchen tröstete. Andererseits waren diese Augen ein Fluch.
Nur wegen ihrem Kind, hatte sie Arman geheiratet. Damit er es als sein eigenes anerkennen und ihm einen Namen geben konnte. Und nun würde er genau das nicht tun, obwohl es die Bedingung war, dass sie ihn geheiratet hatte.
Sie hatte ihren Teil der Abmachung eingehalten, während sich ihr werter Gatte aus der Affäre zog. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Je länger Sanjana darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Also versuchte sie aus dem Bett zu kriechen, was sich in ihrem Zustand als etwas schwierig heraus stellte. Sie war total erschöpft und wollte sich eigentlich nicht bewegen. Ihr gesamter Körper schmerzte.
„Herrin, was macht Ihr? Ihr solltet Euch ausruhen."
Eine von Sanjanas Dienerinnen kam zu ihr gelaufen.
„Haltet ihn", sagte Sanjana und drückte der Frau ihr Kind in den Arm, das immer lauter schrie.
„Ihr solltet ihn stillen."
„Erzähl mir nicht was ich zu tun habe. Ich muss mit dem Herzog sprechen."
Quälend machte sich Sanjana auf zu ihrem Mann, der sich in seine Gemächer zurück gezogen hatte. Sanjana machte sich nicht die Mühe anzuklopfen und betrat einfach die Räumlichkeiten des Herzogs. Dieser hatte zwei Diener um sich, die ihm halfen seine Kleider zu wechseln.
Er blickte nur flüchtig zu ihr als sie sich vor ihn stellte. Dann wandte er sich wieder seiner aufwendigen Kleidung zu. Arman war stets auf gutes Aussehen bedacht. Er war schlimmer als manche Frau. In dieser Hinsicht passte die schlichte Sanjana gar nicht zu ihm.
„Warum bist du her gekommen?"
Es schien den Mann überhaupt nicht zu interessieren, wie es seiner Gemahlin ging. Vielleicht hätte er sich mehr um sie bemüht, wenn sie seinen Sohn zur Welt gebracht hätte und nicht den eines anderen.
Damals war ihm alles egal gewesen. Selbst die Tatsache, dass sie von einem anderen Mann ein Kind erwartete, schien ihm nichts auszumachen. Hauptsache Sanjana wurde die seine. Es war nicht so, dass der Herzog sich nicht für sie interessieren würde. Es war mehr das Kind, dass zwischen ihnen stand.
„Arman, ich weiß du hast so etwas nicht erwartet, aber erinnere dich bitte an unsere Abmachung. Du hast mir dein Wort gegeben das Kind zu akzeptieren."
„Ich kann es nicht akzeptieren. Die Leute würden reden."
„Das ist mir egal. Du hast mir dein Wort gegeben."
„Mir ist es nicht egal, Sanjana. Ich bin Herzog und habe mein Gesicht zu wahren."
„Ist das der einzige Grund?"
„Ein wichtiger Grund. Damit ist die Diskussion beendet. Geh und lass deine Sachen packen. Ich habe bald einen wichtigen Termin, bei dem ich deine Anwesenheit erwarte."
„Arman, ich fühle mich wirklich noch nicht in der Lage..."
Er ließ sie nicht weiter sprechen. „Ich diskutiere nicht, Sanjana. Mache dich empfangsbereit."
Sanjana fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. So sehr sie auch Jay verfluchte für sein Verschwinden. Sie konnte ihm niemals vorwerfen seine Versprechen nicht gehalten oder sie schlecht behandelt zu haben. Und schon wieder dachte sie an ihn. Würde sie das denn ewig verfolgen?
Als sie den Flur zu ihren Gemächern entlang ging, hörte sie ein kräftiges, schreiendes Baby. Für so einen kleinen Fratz hatte er schon eine mächtige Stimme. Doch in Sanjana löste diese Stimme etwas aus. Sofort beschleunigte sie ihren Gang.
Noch immer hatte sie Schmerzen und war erschöpft, doch ihr Kind rief nach ihr. Welche Mutter konnte ruhig bleiben, wenn das Kind nach ihr schrie? Sie eilte durch die Tür und lief sofort zu der Dienerin, die das Baby sanft in Ihren Armen hin und her wiegte und versuchte es zu beruhigen. Schnell nahm Sanjana das Baby an sich und setzte sich mit ihm, um es zu stillen.
„Er hat ununterbrochen nach Euch gerufen, Herrin. Ihr solltet den Herzog nicht weiter verärgern. Es macht Euch nur das Leben schwer."
Jede andere Herzogin hätte an dieser Stelle gesagt „Was erlaubst du dir eigentlich?"
Doch Sanjana war noch nie eine strenge Herrin gewesen.
„Ich will ihn nicht verärgern. Aber niemand fragt auch nur danach, ob er mich verärgert. Er kann tun und lassen was er will, nur weil er der Herzog ist. Warum kann ich als Herzogin dann nicht auch tun was ich will?"
Darauf bekam sie von der Dienerin keine Antwort.
„Dich fragt auch niemand, was du wirklich denkst und fühlst. So sollte die Welt nicht sein. Jeder sollte frei und offen sprechen dürfen."
„Manche Dinge bleiben lieber ungesagt, meine Herrin."
„Ich bin nicht so feige, als dass ich für den Rest meines Lebens schweigen möchte."
„Ihr vielleicht nicht."
„Wie ist dein Name?"
„Cire, meine Herrin."
„Gut, Cire. Ich möchte, dass du dich von nun an um mein Kind kümmerst, als wäre es dein eigenes. Der Herzog wird mir nicht viel Gelegenheit geben es selbst zu tun."
„Aber, Herrin, der Herzog ist auch nur ein Mensch. Er würde Euch doch nicht von Eurem Kind trennen."
„Mit der Zeit wird er Wege finden mich von ihm zu trennen. Aber er braucht jemanden, der für ihn da ist, wenn ich es nicht kann. Ich werde mich mit meinen Freunden in Verbindung setzen. Auch sie würden mir helfen."
Sanjana streichelte die Wange des Babys und betrachtete es liebevoll. „Bis dahin, wirst du für ihn da sein, wenn ich es nicht kann. Im Gegenzug dazu erlaube ich dir in meiner Gegenwart immer offen und ehrlich zu sprechen. Ich werde es für mich behalten und dich nicht dafür bestrafen. Es ist mir ein Bedürfnis zu wissen, was du denkst oder fühlst."
Cires Augen wurden groß. Vermutlich hatte das noch keine Herrin zu ihr gesagt.
„Ist das in Ordnung für dich?", fragte Sanjana nach, als Cire immer noch nicht antwortete. Diese schien sprachlos und brachte nur ein Nicken zustande.
„Fangen wir gleich an. Sag mir was du jetzt gerade denkst."
„Ich bin verblüfft über Eure herzliche Art, meine Herrin."
„Das dachte ich mir. Außerdem?"
„Ich habe mich wohl gefragt, wie ihr das Kind nennen werdet."
Sanjana überlegte. Darüber hatte sie sich bis jetzt noch gar keine Gedanken gemacht. Sie hatte viel zu viele andere Sorgen gehabt.
„Der Kleine braucht doch einen Namen. Es muss Euch etwas einfallen. Könnt Ihr ihn nach seinem Vater benennen?"
Nur wenige Menschen wussten, dass das Kind nicht vom Herzog war. Cire war einer davon. Zuerst hatte Sanjana gezweifelt, ob sie überhaupt jemanden die Wahrheit sagen sollte, aber sie konnte das unmöglich allein durchstehen. Erst recht, nachdem ihr Mann sich geweigert hatte das Kind anzuerkennen.
Sie hoffte, dass Cire sie nicht enttäuschen würde. Irgendjemandem musste sie aber vertrauen.
„Ich will nichts mehr mit seinem Vater zu tun haben. Wenn ich ihm seinen Namen gebe, werde ich ständig an ihn denken müssen und das ist nicht in meinem Sinne."
„Ihr..."
Cire zögerte und sprach ihre nächsten Worte vorsichtig aus. „Ihr habt ihn geliebt, nicht wahr?"
Solch eine Frage gehörte sich ganz und gar nicht für eine Dienerin, aber Sanjana nahm es ihr nicht übel. Immerhin hatte sie die Frau gebeten ihre Gedanken zu äußern.
Sie nickte schwach.
„Wo ist er jetzt?"
„Das weiß ich nicht. Er ist von einem auf den anderen Tag aus meinem Leben verschwunden. Ich weiß nicht wo er ist, was er macht und ob es ihm gut geht. Wenn ich ehrlich bin interessiert es mich auch nicht. Ich versuche dieses Kapitel aus meinem Leben zu streichen."
„Verstehe. Ich werde nicht mehr nach ihm fragen."
„Ist schon gut. Ich kann nachvollziehen, dass du neugierig bist. Ich wäre es nicht minder an deiner Stelle."
Cire trat näher und beobachtete das Baby in Sanjanas Armen.
„Eines ist sicher. Wäre er nicht, hätte ich den Herzog niemals geheiratet. Dann wäre ich jetzt frei."
Cire gab ihr einen mittleidvollen Blick.
„Bedaure mich nicht. Es war meine eigene Entscheidung, nun muss ich damit leben."
„Ganz egal was passiert, Herrin, ich werde immer auf Euch aufpassen. Jemand so nettes wie Ihr hat es nicht verdient unglücklich zu sein. Ich werde Euch jedenfalls zur Seite stehen. Außerdem will ich alles in meiner Macht stehende tun, um den kleinen Sonnenschein hier zu beschützen und es ihm an nichts fehlen zu lassen."
Cire streckte einen Finger nach dem kleinen Händchen aus.
„Sonnenschein?"
„Ja, er hat Euch ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Es war so, als würde die Sonne aufgehen."
Sanjana hatte es gar nicht bemerkt, aber immer wenn sie ihr Kind ansah, musste sie lächeln. Er war ihr jetzt schon so lieb und teuer. Er war ihr Schatz, ihr Sonnenschein. „Ich weiß nun welchen Namen ich ihm gebe."
„Nun welchen denn?"
„Adytia. Sein Name soll die Sonne sein."
„Das ist kein Tamaranischer Name", stellte Cire fest.
Sanjana schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist nidavisch und bedeutet Sonne."
„Welch schöner Name."
Die junge Frau lächelte zufrieden und spielte mit den winzig kleinen Fingern von Adytia. Auch Sanjana war zufrieden. So sehr sie sich auch über ihr Leben ärgerte. Sobald sie Adytia ansah, vergaß sie den Schmerz der Welt.
~
„Konzentriere dich!", rief Magnus und schlug mit der Rolle auf Jays Kopf. Dieser fasste sich reflexartig an die getroffene Stelle, obwohl es nicht wirklich schmerzte. Seine Schmerzresistenz war schon um einiges gestiegen, dank des langen Trainings.
Selbst ohne Training hätte es nicht wirklich weh getan. Es war mehr der Schmerz über sein Versagen, der weiterhin an Jay nagte. Seit vielen Monaten kam er hin und wieder nach Tinuval, um von den Channajiu zu lernen. Wenn er sich nicht von Magnus - seinem mittlerweile persönlichen Lehrmeister - an seine Grenzen treiben lies, jagte er Jeremy quer über den Kontinent.
Aber Jeremy spielte ein Spiel mit ihm und schaffte es jedes Mal wieder ihm zu entkommen. Genauso wie seine Jagd auf den Mann war seine Unterweisung bei Magnus nicht erfolgreich. Es ging ihm viel zu langsam. Schuld daran waren seine stetig abschweifenden Gedanken.
„Wenn du dich nicht konzentrierst, wirst du nie lernen die Welt zu sehen."
„Bei allem Respekt, Meister, aber wie soll ich etwas in Monaten lernen, was Ihr in Jahrzehnten erlernt habt?"
„Ich dachte du hättest genug Ehrgeiz, um schon viel weiter zu sein", sagte der Channajiu mürrisch. Schon vor einiger Zeit hatte er auf die höfliche Anrede verzichtet.
„Aber anscheinend haben wir doch aufs falsche Pferd gesetzt. Du bist nicht bei der Sache und anscheinend nicht motiviert genug, um die Welt zu verändern."
Jay fühlte sich gekränkt. Er wollte Magnus Worten keinen Glauben schenken. Es fehlte ihm keines Wegs an Motivation. Er ließ sich nur so leicht ablenken. Angefangen hatte das in Sanjanas Nähe. Jetzt ließ er sich schon vom bloßen Gedanken an die Frau ablenken.
Er selber konnte sich das nicht einmal verübeln. Seit sie in seinem Leben existierte, war es mit seiner Konzentration auf das Channa vorbei. Erst recht nachdem er regelmäßig Einblick in ihr Leben erhielt. Die Channajiu zeigten ihm weiterhin Dinge, die in der Welt passierten. Hin und wieder auch Dinge, die seine Freunde betrafen. Und manchmal sogar Dinge über seine Feinde.
„Willst du Jeremy ewig den Vorsprung gönnen? Tatjana hat dafür gesorgt, dass er ein mächtiges Channa bekommt. Ich will dafür sorgen, dass deines noch stärker wird, aber nicht wenn du weiterhin an deiner Kraft zweifelst."
„Ich zweifele nicht an meiner Kraft."
„Und ob du das tust. Du hast kein Selbstvertrauen. Genau aus dem Grund hast du auch die junge Senatorin verlassen. Denn ich bin mir sicher, hättest du deinen Fähigkeiten mehr vertraut, dann wärest du geblieben."
„Ich wollte sie beschützen und das hat auch funktioniert."
„Ach ja? Vielleicht konntest du sie vor Jeremy beschützen, aber nicht vor ihr selbst."
„Ich will nicht weiter darüber reden. Das Training ist beendet."
„Jay!", rief Magnus, als er sich davon machen wollte. „Du tust es schon wieder. Ich nahm an Davonlaufen wäre nichts für dich. Du musst lernen deinen Geist zu befreien. Solange du das nicht schaffst wirst du immer wieder versagen. Dann kannst du es nicht mit Jeremy aufnehmen."
Jay wartete. Ganz unglaubwürdig war das nicht.
„Magnus, sagt mir, wie sehr glaubt Ihr an mich?", fragte Jay und sah dem Channajiu in die Augen.
„Nun Tatjana hat an dich geglaubt, sonst hätte sie nicht ihr Leben für ihren Glauben gegeben. Ich für meinen Teil vertraue Tatjanas Urteil. Das sollte dir als Antwort genügen."
„Das bedeutet, Ihr selbst glaubt nicht an mich."
„Das habe ich nicht gesagt. Ich sehe dein Potenzial. Nur was du damit anfängst, ist deine Sache. Noch bist du nicht so weit, um in jeden Kampf zu ziehen. Das heißt nicht, dass du es niemals sein wirst."
„Ich habe einen Traum, Magnus. Das erste Mal wurde er mir bewusst, als ich auf den weißen Mauern Dokrats stand und die Soldaten motivierte den Saboranern gegenüber zu treten. Wenn ich es auch nicht ganz freiwillig tat, ich habe jedes einzelne Wort so gemeint."
„Was hast du ihnen gesagt?"
Jay wusste, dass der Channajiu die Wahrheit schon kannte. Er wollte, dass Jay es erzählte.
„Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht für die Stadt kämpfen, sondern für die Menschen. Dass sie mutige und freie Männer sein sollen und an sich selbst glauben sollen."
Magnus nickte zustimmend.
„Warum kannst du ihnen das sagen, aber nicht dir selbst?"
Jay zuckte ratlos mit den Schultern.
„Gibst du auf?"
Jay schüttelte den Kopf.
„Nicht wenn ich jemals wieder in den Spiegel schauen möchte."
„Dann mach weiter. Denk an dein Ziel. Wenn das nicht als Motivation reicht, dann tu es für deine Freunde, oder tu es für dein Volk."
Jay lachte ironisch.
„Mein Volk? Ich weiß ja nicht einmal, ob es mein Volk ist. Dank Mohan werde ich das auch nicht erfahren."
„Gib nicht deinem Meister die Schuld. Wenn du es wirklich wissen wolltest, hättest du ihn gefragt. Aber du bist untergetaucht, ohne nach der Wahrheit zu suchen. Vielleicht hattest du auch Angst, es könnte dich erschüttern deine Herkunft zu kennen. Du hättest mich jeder Zeit danach fragen, oder im Spiegel nach Antworten suchen können. Außerdem; was spricht denn dagegen Tamaran zu deinem Land zu machen und es als dein Volk anzuerkennen?"
Magnus hatte Recht. Auch wenn er sich damals geschworen hatte Mohan nach der Wahrheit über seine Familie zu fragen, letztendlich hatte er es nicht fertig gebracht. Was wenn ihm die Wahrheit nicht gefiel? Es war einfach als Weise zu leben und sich vorzustellen ein Niemand zu sein. Nur ein Mann, der für ein fremdes Lang kämpft ohne wirklichen Grund. Der sein Leben gibt, um Befehlen zu folgen und eine willenlose Marionette zu sein. Das hatte er sein Leben lang über getan. Darin war er gut.
Nun war es an der Zeit sich zu fragen, wofür er eigentlich kämpfte. Wollte er wirklich für ein Land kämpfen zu dem er selbst vielleicht nicht gehörte? Wollte er für seine Freunde kämpfen? Oder wofür? Sein Traum war Frieden und Freiheit. Aber war es das wert dafür zu kämpfen und zu sterben? War dieser Krieg auch der seine? So viele Fragen und keine einzige Antwort.
„Ich kann dir nicht helfen deinen Weg zu finden. Es ist deine Entscheidung welchen Weg du gehst. Ich kann dir nur helfen ihn einfacher zu machen."
Jay antwortete nicht mehr. Er stand nur da und überlegte. Nach zehn Minuten der Stille trat der Channajiu zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Du weißt doch im Grunde schon was du willst. Sei nicht so beschränkt dich an etwas fest zu halten. Erweitere deinen Horizont. Sei ein Krieger Jay. So ein Krieger, wie die Welt ihn braucht und schätzen wird. Erinnere dich an deinem Kodex."
„Ich weiß jetzt, was ich will."
„Gut. Das ist ein Anfang. Damit können wir arbeiten."
Jay straffte die Schultern, konzentrierte sich und sammelte seine innere Kraft. Dann lächelte er.
„Nun gefällt mir der Ausdruck in deinen Augen, Junge."
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