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Emma, August 2019

Es war ein schöner Tag, der Himmel war blau, nur einige harmlose, weiße Wölkchen konnte man am Horizont erkennen. Die Bäume, die sich in der sanften, lauwarmen Sommerbrise leicht hin und her bewegten, zeigten sich in einem wunderschönen, hellen Grünton und wurden vom Schein der Sonne zum Strahlen gebracht. Man konnte nichts hören außer dem Vogelgezwitscher und dem stetigen Plätschern des kleinen Baches, der sich nicht weit entfernt durch die Landschaft schlängelte und einigen Tieren ein Zuhause bot. In der Luft hing der Geruch nach frisch gemähtem Gras und wenn man den Blick weiter schweifen ließ, so erkannte man ein abgemähtes Getreidefeld und einen weißen Berg, den man kaum ansehen konnte, weil er das Licht der Sonne so stark reflektierte. Es war eine malerische Szene, die ein friedliches Bild vermittelte.

Ich nahm einen tiefen Atemzug der noch frischen Spätsommerluft, in der Hoffnung, einen Teil dieses Friedens in mich aufnehmen zu können und senkte meinen Blick hinab auf das hölzerne Kreuz, welches vor mir stand.
Auch nach all der Zeit, die vergangen war, fühlte es sich nach wie vor unwirklich und falsch an, hier an diesem Ort zu stehen. Dabei müsste man meinen, dass man sich irgendwann daran gewöhnte, dass ein Mensch nicht mehr da war.

"Ach Omi", seufzte ich leise und lächelte leicht, während ich mir ihr Bild vor Augen rief. Ihr Gesicht, das auch mit 100 Jahren noch kaum Falten aufgewiesen hatte. Ihre grauen Haare, die mit zunehmendem Alter plötzlich wieder angefangen hatten, dunkel zu werden. Ihr zahnloses, aber liebevolles Lächeln, mit dem sie uns immer bedacht hatte, wenn wir sie besucht hatten.
"Wer isses denn?", hatte sie immer im guten Plattdeutsch gefragt, da ihre Sehkraft zuletzt bei unter zwanzig Prozent gelegen hatte.
"Emma isses, Oma", hatte ich dann stets geantwortet und auf ihrem Gesicht war dieses Lächeln erschienen, welches ich vermutlich niemals vergessen würde.
"Ach Emma, Kind, wie schön, dass du mich besuchst", hatte ihre Antwort gelautet und sie hatte ins Blaue hinein nach meiner Hand gegriffen, um diese liebevoll zu täuschen.

Bei dem Gedanken daran spürte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Wenn ich so an sie dachte, da fühlte es sich beinahe so an, als wäre sie noch hier bei uns. Als würde sie gleich mit ihrem Rollator um die Ecke getuckert kommen und darüber meckern, dass ich mal wieder viel zu dünn angezogen war. Dabei war es egal, wie warm es war, sobald man bei Oma kein Unterhemd anhatte, war man zu dünn angezogen.

"Ich vermisse dich, Omi", murmelte ich so leise, dass es kaum zu verstehen war. Dabei hätte ich es vermutlich auch laut schreien können, es hätte sowieso niemand gehört, da ich vollkommen alleine auf dem Friedhof war. Viele Leute hassten es, an einen solchen Ort zu kommen und auch mir war nicht immer wohl dabei, hier zu sein. Gerade zu Beginn, nachdem ich erfahren hatte, dass meine Oma ihren letzten Atemzug getan hatte, da hatte ich es nicht über mich gebracht, hierher zu kommen. Beim ersten Versuch war ich in Tränen ausgebrochen und hatte beinahe um mich geschlagen, weil meine Mutter versucht hatte, mich dazu zu überreden. Auch jetzt noch kostete es mich immer wieder Überwindung, weil man auf Friedhöfen unweigerlich mit dem Tod konfrontiert wurde und man sich dessen bewusst wurde, was man nicht mehr hatte. Dennoch hatte ich heute das dringende Bedürfnis verspürt, meine Oma zu besuchen. Und hier, vor ihrem Grab, das noch immer keinen richtigen Grabstein bekommen hatte, da fühlte ich mich ihr nun mal am nächsten.

"Weißt du, Oma", begann ich und blinzelte die Tränen weg, die begonnen hatten, mir die Sicht zu verschleiern. "Im Moment läuft einfach alles schief. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Ich kann nicht mehr", erklärte ich ihr und schwieg dann wieder. Ich wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde und doch tat es gut, die Worte auszusprechen, die ich schon viel zu lange mit mir herum geschleppt hatte.

Wäre Oma noch hier, sie hätte gewusst, was zu tun gewesen wäre. Oder aber sie hätte mir in den Hintern getreten und mir gesagt, ich solle mich nicht so anstellen. Andere vor mir hätten schon Schlimmeres überstanden. Womit sie Recht hatte. Und obwohl ich das wusste, so fühlte ich mich dennoch vollkommen überfordert und alleine gelassen von der Welt. Ich hatte Niemanden, dem ich meine Sorgen und Probleme anvertrauen konnte. Meine beste Freundin hatte genug eigene Probleme, meine Eltern kümmerten sich lieber um ihren kleinen Sohnemann, der ja noch ein Baby war, und ihre achtzehn-jährige Tochter überließen sie sich selbst. Ich war ja schon erwachsen. Das auch ich mich manchmal noch danach sehnte, von ihnen in den Arm genommen oder gelobt zu werden, das interessierte sie nicht.

"Ich wünschte, du wärst noch hier, Oma", schniefte ich, weil mir bei den Gedanken erneut die Tränen in die Augen gestiegen waren. "Du warst immer die Einzige, die mich verstanden hat. Die Einzige, die zu mir gehalten hat", jammerte ich weiter und spürte die salzige Feuchtigkeit der Tränen, die mir über die Wange kullerten. "Wenn ich dich doch nur noch ein einziges Mal sehen könnte. Nur noch einmal mit dir sprechen könnte. Was würde ich dafür geben, wenn dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde", schluchzte ich und wischte mir undamenhaft mit dem Ärmel meiner dunkelblauen Strickjacke über die Nase. Mein Blick wanderte von dem schlichten Holzkreuz über die anderen Gräber, die sich hier befanden, während ich versuchte, mich wieder zu beruhigen.

So viele Menschen lagen hier begraben, so viele Geschichten, so viele Schicksale, die nach und nach in Vergessenheit geraten würden, weil man nicht mehr über sie sprach. Der Gedanke, dass es irgendwann einmal uns allen so gehen würde, half mir nicht gerade dabei, meine Fassung zurück zu gewinnen. Es wurde Zeit, dass ich zurück zum Auto ging und den Friedhof verließ, wenn ich nicht weiter in ein Loch der Trauer und Hoffnungslosigkeit fallen wollte. Bevor ich aber ging, pflückte ich noch einige Gänseblümchen, die auf der Wiese um die Grabsteine herum wuchsen und legte sie Oma aufs Grab, so, wie ich es früher immer gemeinsam mit ihr bei ihrem Mann getan hatte, der schon weit vor ihr verstorben war.

"Mach's gut, Oma", murmelte ich dann und ein trauriges Lächeln stiel sich auf mein Gesicht. "Und danke fürs Zuhören!" Mit diesen Worten wand ich mich von ihrem Grab ab und lief langsam zurück in Richtung Straße, nicht ohne noch einmal einen Blick zurück zu werfen. "Dich werde ich niemals vergessen, ich verspreche es dir", dachte ich mir währenddessen und schloss das kleine Gartentürchen, dass den Friedhof von der Straße abtrennte.

~~

"In Erfurt war es dunkel. Nicht nur bei Nacht", las ich am Abend den ersten Satz von Mirjam Presslers Buch "Dunkles Gold". Sie war eine meiner liebsten Autorinnen und hatte mich mit ihren Büchern beim Erwachsen werden begleitet, weswegen es für mich eine Selbstverständlichkeit gewesen war, mir ihr neustes Buch zu kaufen, auch wenn ich schon nicht mehr zwangsläufig zu ihrer Zielgruppe gehörte. Frau Pressler schaffte es einfach, einen mit kurzen, prägnanten Sätzen in ihre selbst erschaffenen Welten zu entführen und einen während ihrer Geschichte zum Lachen zu animieren oder zu Tränen zu rühren. Sie war eine wahre Meisterin der Schreibkunst gewesen und ich wusste schon jetzt, dass auch dieser Roman, der vom Erfurter Schatz handelte, selbst ein wahrer Schatz war. Leider war es auch ihr letzter Roman, da sie vor kurzem nach langer Krankheit von dieser Welt gegangen war. Der Tod lauerte nun mal über all. Dieser Gedanke betrübte mich wieder, weil ich erneut an meine eigene Oma denken musste, die nach 101 Jahren vor mittlerweile drei Jahren von uns gegangen war. Der Besuch bei ihrem Grab heute war dringend nötig gewesen.

Seufzend strich ich über die aufgeschlagene Buchseite, bevor ich das Buch schloss und auf meinen Nachttisch legte. Ich hatte gerade keine Geduld zum Lesen. Der Tag hatte mich geschlaucht, denn nach dem Friedhofsbesuch hatte ich mich mal wieder mit meinen Eltern gestritten. Das kam in letzter Zeit fast täglich vor. Nun lag ich müde und erschöpft in meinem kuscheligen Bett und wollte nichts mehr sehen und hören. Mein Kopf dröhnte und ich war froh, morgen endlich einmal ausschlafen zu können.

Ich zog meine Decke ein Stück weiter nach oben, sodass sie mir bis zur Nasenspitze reichte. Dann schloss ich die Auge und hoffte, dass die Welt morgen wieder besser aussehen würde. Dass dies nicht der Fall sein würde, konnte ich in diesem Augenblick noch nicht wissen.

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