5. Kapitel: Macht



Leises Knurren weckte Asche aus ihrem unruhigen Halbschlaf.
»Wer war das?«, murmelte sie, schlug die Augen auf und blinzelte ins Dämmerlicht.

Wind neben ihr gähnte. »Was denn?«

»Ich glaube, sie meinte meinen Magen«, miaute Käfer, der gegen die Kälte tief unter der Erde in der Nacht näher an seine Wurfgefährten gerückt war. »Ich habe Hunger!«

»Da bist du nicht der einzige.« Wind war aufgesprungen und pirschte in der Höhle umher. »Warum können uns diese Katzen dort draußen nicht endlich was zu fressen bringen?«

Das fragte sich Asche auch. Lange konnte es aber nicht mehr dauern. Die Fremden, die sie hier eingesperrt hatten, brachten ihnen jeden Sonnenaufgang eines ihrer Beutetiere. Drei Amseln, eine Taube und eine fette Spitzmaus hatten sie schon verspeist, seit die schildpatt-Kätzin und der Rotbraune sie von Wolke weggebracht hatten. Allmählich begann Asche sich zu fragen, ob sie je wieder freigelassen werden würden.
Was haben sie nur mit uns vor?, fragte sie sich, war sich aber nicht sicher, ob ihr die Antwort gefallen würde.

»Ständig Amsel! Nie gibt es Kaninchen!«, riss Käfer sie aus ihren Gedanken. »Bestimmt fressen sie die alle selbst!«

»Und sonst hast du keine Probleme?!«, fauchte Wind und sprach damit aus, was Asche ebenfalls dachte. »Ich würde ihnen allen am liebsten die Pelze zerfetzen, sodass wir hier raus kommen. Meinetwegen kannst du dir dann deine eigenen Kaninchen fangen. Soll mir egal sein.«

Asche schüttelte ihren Kopf über ihre Brüder, was diese in dem Halbdunkel der kleinen Höhle offenbar nicht bemerkten. Der eine war im wahrsten Sinne des Wortes ein Kaninchenhirn, der andere vollkommen leichtsinnig. Inzwischen schien Wind vergessen zu haben, wie sein letzter Versuch geendet hatte, gegen ihre Feinde zu kämpfen. Einzig eine Verletzung knapp über seinem linken Auge zeugte davon. Er ist wohl auf noch mehr Narben aus...

»Du wirst niemanden angreifen, wenn du schlau bist!« Die Stimme des rotbraunen Fremden klang gedämpft, als dieser sich mit einer Amsel im Maul durch den engen Eingang quetschte.

»Sag ich doch«, zischte Käfer. »Immer nur Amsel!«

»Sei still«, flüsterte Asche, doch entweder hatte der Rotbraune nichts gehört, oder es war ihm egal.

Er legte die Beute den Jungen vor die Pfoten, drehte sich um und tappte davon. Wenige Herzschläge später waren die drei wieder allein. Allein an diesem düsteren Ort, an dem sie zu beiden Seiten nur knapp eine Fuchslänge Platz bis zur Felswand hatten. Die Decke war so niedrig, dass Asche froh über ihre geringe Größe war. Jede Katze, die aus dem Jungenalter herausgewachsen war, hätte sich während ihrer gelegentlichen Jagdübungen beim Springen den Kopf gestoßen. Das konnte ihnen nicht passieren. Stattdessen war Asche bei ihrer letzten Trainingseinheit mit ihrer Vorderpfote umgeknickt, als sie hinter einem Stein hängengeblieben war. Der Untergrund war hier einfach zu uneben. Felsbrocken - teilweise katzenhoch - ragten aus dem Boden, so viele, dass er fließend in die Wand überzugehen schien.

»Ich nehme den ersten Bissen!«, miaute Käfer und Asche wandte sich zu ihm um. Ihr Bruder pirschte um die Amsel herum und beäugte sie, als hätte er vor, sie in einem Stück zu verschlingen.

»Nein ich!«, protestierte Wind. »Du hast schon gestern angefangen. Du hast als erstes und als letztes abgebissen. Wenn das so weitergeht, bist du am Ende fett wie eine flugunfähige Taube, während wir verhungern!«

»Stimmt doch gar nicht!«, empörte sich Käfer. »Außerdem wäre, wenn wir uns abwechseln, Asche an der Reihe. Sie dürfte anfangen.«

»Ist mir egal«, murmelte Asche. Sie hatte keine Lust, sich zu streiten und zudem dringendere Probleme.

»Siehst du? Dann kann ich genauso gut dran sein mit dem ersten Bissen«, fauchte Wind. »Wenn es sie nicht interessiert.«

Asche schüttelte den Kopf, zog sich hinter einen Felsvorsprung zurück und versuchte, die Stimmen ihrer Brüder zu ignorieren. Seit sie hier unten eingesperrt waren und keiner den anderen aus dem Weg gehen konnte, ging das ständig so.

Der Streit um die Beute rückte in den Hintergrund und Asches Gedanken wanderten zu den Sorgen um ihre Zukunft. Das leise Geräusch hätte sie fast nicht bemerkt. Ein Scharren. Hinter ihr. Aber das konnte doch nicht sein! Denn hinter ihr, da war nur massives Felsgestein! Hatte sie sich geirrt?

»Seid still!«, herrschte sie ihre Brüder an, die sich inzwischen laut quiekend am Boden balgten.

Käfer befreite sich aus dem Griff seines Kontrahenten und hüpfte einige Schritte zur Seite, während Wind weiter nach ihm schlug.
»Was ist denn los? Willst du etwa doch den ersten Bissen ha...« Käfers Frage endete in einem Aufschrei, als sein Bruder ihn umwarf.

»Da war jemand in der Wand!« Bei den legendären Wisperkatzen, hatte das mäusehirnig geklungen.

Wind schnurrte belustigt. »In der Wand? Hörst du Geister? Bestimmt hast du dich nur getäuscht und das waren diese Fuchsherzen dort draußen.« Er zeigte mit dem Schweif auf den Höhleneingang, wo ständig zwei der Fremden Wache hielten.
»Nein, es war in der Wand!«, beharrte Asche und musterte das graue Felsgestein neben ihr. Und als sie in den hintersten, schattigsten Winkel hinter dem Felsvorsprung starrte, sah sie es. Ein Riss im Gestein, gerade einmal groß genug, dass sich ein Junges hindurchquetschen konnte. Und dahinter nichts als Schwärze...

***

»Du willst, dass wir da durch gehen?« Die drei Jungen standen um den Felsspalt herum und Asche beäugte ihn skeptisch.

Er erinnerte sie an Wolkes Geschichte. Daran, wie sie ihr Augenlicht verloren hatte, als sie einer Stimme in einen dunklen Tunnel gefolgt war. Auch hier, in dieser Finsternis, lauerte etwas. All ihre Sinne schrien danach, sich möglichst weit von diesem Ort zu entfernen. Aber so schwach wollte sie vor ihren Brüdern nicht dastehen.

»Was kann denn schon passieren?«, miaute Käfer. »Entweder es ist eine Sackgasse, oder ein Weg hinaus.«

»Aber irgendwer ist da drin.«

Wind fuhr die Krallen aus. »Wenn er uns aufhalten will, bekommt er es mit mir zu tun! Wenn du dich nicht traust, Asche, geh ich eben vor.« Mit diesen Worten verschwand er in der Dunkelheit.

Einen Augenblick warteten die übrigen Jungen gespannt und als alles still blieb, folgte auch Käfer seinem Bruder. »Komm schon!«, forderte er seine Schwester mit einem letzten Blick zurück auf.

Allein zurückbleiben wollte Asche auch nicht. Nach einem weiteren Herzschlag des Wartens holte sie tief Luft und zwängte sich ebenfalls durch die Öffnung.

Dahinter gelangte sie in einen Tunnel, so dunkel, dass sie sich mühsam vorantasten musste. Während der ersten paar Pfotenschritte streiften ihre Schnurrhaare auf beiden Seiten das Gestein, dann schien sich der Raum um sie herum zu weiten. Ihr Weg wand sich hierhin und dorthin und alles war still bis auf die Atemgeräusche der Jungen und ihre leisen Schritte. Jeden Augenblick, so fürchtete Asche, könnte das, was hier eben gewesen war, sie angreifen. Ihnen die Augen auskratzen. Oder Schlimmeres.

Dann, hinter der nächsten Ecke, wurden die Tunnelwände in einen Lichtschimmer getaucht. Immer heller wurde es, bis sie an ein ähnlich enges Loch kamen, wie das am Anfang dieses Tunnels. Sie folgte ihren Brüdern hindurch und stand in einer Höhle. Die unterschied sich nicht großartig von der, aus der sie gerade entkommen waren, nur dass sie ein wenig größer war. Und sie war nicht leer. Nein, auch hier waren Katzen. Gefangene Katzen.

»Mutter!«, rief Asche, stürzte zu Wolke hinüber und begrüßte sie Nase an Nase.

Sie befanden sich wieder in der ersten Höhle, in die die Fremden gebracht hatten.

»Leise, meine Kleine«, schnurrte Wolke. »Sei leise, lass sie nicht hören, dass ihr hier seid!«

»Mäusedreck!« Wind schien Wolkes Mahnung nicht gehört zu haben. »Wir sind noch immer gefangen! Das hat uns alles nichts genützt!«

Asche war da anderer Meinung. Sie war froh, wieder bei ihrer Mutter zu sein. Vielleicht konnte sie Antworten auf die vielen Fragen finden, die ihr im Kopf umherschwirrten.

Leises Scharren lenkte Asche ab und sie wirbelte herum. Im hintersten Teil der Höhle lag Wirbelndes Laub auf dem Boden, die soeben ihre Augen aufschlug.

»Wirbelndes Laub!« Käfer tapste auf die Kätzin zu. »Sind deine Wunden schon besser geworden?«

Die einzige Reaktion war ein schwerfälliges Kopfschütteln.
Eine Fuchslänge von Wirbelndes Laub entfernt blieb Käfer stehen. »Was riecht hier denn so komisch?«

Nun setzte sich auch Asche in Bewegung und als sie neben ihrem Bruder angekommen war, bemerkte auch sie es. Ein Gestank, der sie an Beute erinnerte, die zu lange in der Sonne gelegen hatte.

»Meine Wunde«, krächzte Wirbelndes Laub. »Sie hat sich entzündet. Niemand bringt Kräuter und hilft mir damit.«

»Ich helfe dir!« Wind hüpfte herbei. »Was soll ich tun?«

»Das wirst du kaum können. Ich brauche einen Heiler und den haben nur... die, die uns hier gefangenhalten.«

»Woher weißt du das?«, wollte Asche wissen. Kennt sie diese Fremden etwa?

»Sie hat die Seiten gewechselt, hat vorher zu ihnen gehört«, murmelte Springender Rabe und gähnte.

»Du hast denen mal geholfen?« Wind hatte die Krallen ausgefahren. Asche fürchtete schon, er würde sich gleich auf die Verletzte stürzen, aber er knurrte nur: »Warum?«

Wirbelndes Laub setzte zu einer Erwiderung an, doch Wolke kam ihr zuvor. »Kommt zu mir, Junge. Ihr müsst das Ende meiner Geschichte hören.«

Wind peitschte aufgebracht mit seinem Schweif. »Interessiert mich nicht. Wirbelndes Laub hat meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Das muss sie auch nicht. Ich werde dir alles erklären. Aber lass mich alles der Reihe nach erzählen...«

***

»Erinnert ihr euch, an welcher Stelle ich letztes Mal aufgehört habe?«, wollte Wolke wissen, nachdem Asche und ihre Brüder sich bei ihr auf den kalten Stein niedergelassen hatten.

Wind warf einen finsteren Blick zu Wirbelndes Laub hinüber, während Asche antwortete: »Es war gerade ein Kampf zwischen deinem Clan, und zwei anderen Clans ausgebrochen.«

»Genau.« Wolke nickte. »Dem BachClan und dem FichtenClan.«

»Ja!«, miaute Käfer aufgeregt. »Und ihr wart auf dem Weg zum NebelClan. Weil du dort einer neuen Anführerin ihre neun Leben verleihen solltest.«

»Die Macht der Wisperkatzen wurde immer geringer«, murmelte Asche.

»Ich höre schon«, schnurrte Wolke, »dass ihr nichts vergessen habt. Ihr wollt bestimmt wissen, wie die Schlacht ausgegangen ist...

Der Lärm des Kampfes dröhnte in meinen Ohren. Blind tappte ich umher. Stolperte mal hierhin, mal dorthin in diesem mir unbekannten Gebiet.

Sehender Regen, wo bist du? Wenn doch nur eine der Wisperkatzen hier wäre! Mit ihrer Hilfe hätte ich sehen und mich zu Wehr setzten können. Aber meine Ahnen waren verschwunden, seit Jagender Sturms Befehl, zu kämpfen, verhallt war.
Auf einmal packte mich jemand an der Schulter, stieß mich um, sodass ich mit dem Bauch auf dem Boden landete und nagelte mich am dort fest.

›Das war einfach‹, zischte mir eine unbekannte Stimme ins Ohr. ›Hast mich wohl nicht kommen sehen. Sperr das nächste Mal deine Augen auf, dann wirst du vielleicht besser kämpfen als ein Junges!‹

Ich versuchte seine Worte zu ignorieren, zerrte an seinem Griff und schaffte es schließlich, mich herumzudrehen. Nun konnte ich nach seinem Bauchfell schlagen. Falls es sich dort befand, wo ich es vermutete. Aber dazu kam ich nicht mehr. Auf einmal war das Gewicht, das mich niederdrückte, verschwunden.

Verwundert rappelte ich mich auf, rechnete fest damit, erneut angegriffen zu werden. Hat mich jemand befreit?

Die fremde Stimme lieferte mir eine Antwort. ›Bei den machtlosen Wisperkatzen, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?‹

›Sie sind nicht machtlos‹, knurrte ich. ›Dank meinem Gesicht weiß ich das ganz genau.‹

›Du bist eine Sehende‹, stellte mein Gegenüber fest. ›Du solltest besser abhauen. Hier bist du zu nichts nutze. Wenn du bleibst, wirst du nur miterleben müssen, wie dein Clan vernichtet wird.‹

Donnerndes Pfotengetrampel entfernte sich.

›Schnell!‹ Die Stimme ließ mich herumfahren. Fliehender Rauch! ›Wir müssen hier weg! Wir verlieren! Folge mir!‹

Ich zögerte keinen Augenblick, lauschte seinen Schritten und stolperte hinter ihm her.

***

Der Geruch nach Angst und Blut lag in der Luft, als wir schließlich anhielten. Die Schritte weiterer Katzen waren zu hören, sowie der Klang ihrer Stimmen, leises Flüstern überall um sie herum. Aber weder den Gestank nach BachClan, noch den nach FichtenClan konnte ich ausmachen. Wer immer hier war, war vom Schlachtfeld entkommen.

›Wo ist Kiesel?‹, fragte ich und wünschte mir, meine Kriegerahnen würden endlich wieder auftauchen, damit ich mit ihrer Hilfe einen Flecken meiner Umgebung sehen könnte.

›Hier‹, krächzte mein Bruder und ich eilte auf seine Stimme zu.

›Bist du verletzt?‹

Es war Flüsternde Birke, die für ihn antwortete. ›Einer dieser BachClan-Krieger hat ihn ziemlich übel zugerichtet. Fallender Stein und Fliehender Rauch tragen ihn.‹ Ein leiser Schluchzer folgte, bevor sie fortfuhr: ›Wir wollten jemanden zurückschicken, um Heilender Ahorn zu holen, aber es wäre zu gefährlich für eine einzelne Katze zu gehen. Deshalb nehmen wir ihn mit zum NebelClan. Die haben auch einen Heiler.‹

Ich nickte benommen und tappte schweigend weiter. Unser Weg führte uns stetig bergauf und schon bald kamen wir an eine Territoriumsgrenze. Hier wurde der Boden unter meinen Pfoten zunehmend härter, hier und da ertastete ich Felsgestein, das mich an unser Lager daheim im Herzen des Tunnelsystems erinnerte. Auch der Wind wurde hier kälter, schneidender.

›Ich wünschte, du könntest sehen, was ich sehe‹, hauchte Flüsternde Birke neben mir. ›Man kann das gesamte Tal überblicken. Ich war schon ein paarmal mit einer Jagdpatrouille hier oben. Manchmal wünschte ich, ich könnte bleiben und hätte diesen Ausblick jeden Tag.‹

Ich wollte etwas erwidern, doch Jagender Sturms Ruf schnitt mir das Wort ab. ›Katzen des NebelClans! Wir sind hier, um eurer neuen Anführerin, Kämpfende Amsel, ihre neun Leben zu verleihen.‹

›Wir sind an ihrem Lager angekommen‹, informierte mich Flüsternde Birke.

›Ich weiß‹, miaute ich. Das leise Maunzen der Junge aus der Kinderstube, sowie die Gespräche derer, die sich dort die Zunge gaben, hatte ich bereits gehört.

***

Jagender Sturm führte mich durch das Lager und schließlich verriet der Widerhall meiner Schritte, dass wir eine geräumige Höhle betreten hatten.

›Sind wir im Anführerbau?‹, wollte ich wissen. Meine Aufregung nach der Schlacht war inzwischen etwas abgeklungen, und meine Gedanken wanderten weiter zu der Zeremonie, die mir bevorstand. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie sie ablaufen würde, doch Sehender Schatten war davon ausgegangen, dass ich das schaffen würde. Außerdem war ich nur die, die zwischen unseren Ahnen und Kämpfende Amsel vermitteln musste. Bestimmt würden mir die Wisperkatzen sagen, was zu tun war.
In meinen Gedanken versunken hätte ich die Antwort meines Vaters beinahe überhört. ›Dies ist ein zweiter Kriegerbau, eigens für Katzen unseres Clans, für die es zu spät ist, noch am selben Tag ins FinsterClan-Lager zurückzukehren. Wir werden die Nacht hier verbringen.‹

›Ist Kiesel auch hier?‹

›Nein, er ist bei der Heilerin‹, hörte ich Flüsternde Birke. ›Komm, ich bring dich hin.‹

Stolpernd folgte ich der jüngeren Kätzin. Wo bleibt nur Sehender Regen? Es war mittlerweile wieder vollkommen ungewohnt, ständig in völliger Dunkelheit zu tappen, wo in den letzten Monden immer eine der Wisperkatzen in der Nähe gewesen war...

Schon einige Herzschläge bevor ich Kiels Nest erreichte, schlug mir der Geruch nach Kräutern entgegen.

›Kiesel?‹, rief ich. ›Geht es dir gut?‹
Zunächst kam keine Reaktion, dann befahl eine mir unbekannte Stimme: ›Still! Er schläft und er benötigt Ruhe, wenn du willst, dass er überlebt!‹

›Komm‹, wisperte Flüsternde Birke. ›Ich zeige dir, wo er liegt.‹

Sie legte mir ihren Schweif über die Schultern und lenkte mich auf den richtigen Pfad. Wegen all des Kräutergeruchs konnte ich mich nicht auf meinen ohnehin nicht allzu guten Geruchssinn verlassen.

›Wirst du mit mir hier bleiben?‹, wollte Flüsternde Birke wissen. ›Ich kann ihn nicht allein lassen und...‹ Sie senkte ihre Stimme. ›Diese Heilerin ist mir nicht ganz geheuer. Sie mag sich mit ihren Kräutern auskennen, nicht aber mit Katzen.‹

›Natürlich bleibe ich!‹ Das war gar keine Frage. Wie sollte ich denn in dem zweiten Kriegerbau Ruhe finden, während Kiesel hier draußen litt. Immerhin war er mein Bruder, der immer zu mir gehalten hatte. Er hatte auch an meinem Nest gesessen und darauf gewartet, dass ich erwachte, nachdem diese fremde Katze mir das Augenlicht geraubt hatte!

Leises Scharren ertönte und Flüsternde Birke miaute: ›Ich habe uns ein Nest gemacht, Sehende Wolke.‹ Dann ließen wir uns neben meinem Bruder nieder.

Eine Weile herrschte Stille, bis mich auf einmal eine Bewegung ablenkte. Eine Bewegung, die ich gesehen hatte. Endlich! Die Wisperkatzen kamen zu mir zurück!
Als Sehender Regen auftauchte, wirkte er anders als sonst. Verändert. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, was mir an ihm seltsam vorkam. Die Farben um ihn herum, ja auch sein Pelz selbst, wirkten blasser als gewöhnlich. Weniger kräftig. Als wäre alles von dichtem Nebel umgeben.

›Es tut mir leid, Sehende Wolke‹, begann Sehender Regen, wobei seine Stimme klang, als sprächen da zwei Katzen, statt nur einer.

Bevor er fortfahren konnte, fragte ich: ›Ist da noch jemand?‹

›Ja ich‹, antwortete eine andere Stimme, viel zu leise, um sie zu erkennen.

Dann tauchte eine zweite Wisperkatze auf und mir stockte der Atem. Es war Sehender Schatten. Meine Mentorin. Sie musste an ihrer Krankheit und dem Alter gestorben sein und ich war nicht da gewesen!
Meine Gedanken, meinen Schock, waren mir wohl deutlich anzusehen, denn Sehender Schatten miaute: ›Es geht jetzt nicht um meinen Tod. Hör mir nun genau zu...‹

Was sie dann erzählte konnte ich kaum glauben: ›Alles, was die anderen Katzen schon seit Monden erzählen, stimmt. Wir werden zu viele Katzen hier im Land der Kriegerahnen. Der Wisperstein hat nicht genügend Macht, um all diese Seelen in den Clanterritorien wandeln zu lassen. Vor einem Mond haben wir einen dunklen Pfad entdeckt. Er beginnt an einem Ort... den es eigentlich nicht geben dürfte. Ich kann es dir nicht erklären, man muss es gesehen... gespürt haben, um es zu begreifen.‹ Ihr Blick wanderte in weite Ferne. ›Er führt von hier weg, wohin weiß niemand genau. Er ist unsere letzte Hoffnung. Wir werden dich verlassen müssen.‹

Ich war wie gelähmt vor Schreck. Warum jetzt? Wohin solten die Katzen gehen, die nun starben? Würde ich sie für immer verlieren? Oder die Anführerzeremonie... Wie sollte die neue NebelClan-Anführerin ihre neun Leben bekommen? Was würde aus mir werden? Wenn die Wisperkatzen nicht mehr waren, würde ich endgültig blind sein. Ich wäre nicht nur keine Kriegerin, keine Jägerin, keine Kämpferin, ich wäre noch nicht einmal mehr Sehende. Alles was ich in all diesen Monden erlernt hatte, wäre vergeblich gewesen! Ich würde für immer so hilflos sein, wie in dem Kampf an der Grenze.

›Warst du deshalb beim Angriff des BachClans und des FichtenClans plötzlich verschwunden?‹, verlangte ich von Sehender Regen zu wissen, wusste nicht, ob ich wütend oder traurig sein sollte. ›Du hättest mich zumindest vorwarnen können!‹

Sehender Regen neigte nachdenklich den Kopf. ›Zum Teil. Normalerweise begleiten mehr Wisperkatzen die Sehende zu einer Anführerzeremonie. Aber so viele Ahnen gleichzeitig auf eine so weite Reise zu schicken, benötigt mehr Macht, als der Wisperstein noch entbehren kann. Also war ich allein mit dir unterwegs, bis Sehender Schatten mich gerufen hat.‹

Einen Moment erlaubte ich mir, an die vergangenen Monde meiner Ausbildung zur Sehenden zurückzudenken. Das Rufen der Wisperkatzen, von dem Sehender Regen da sprach, war einer der schwierigeren Teile davon gewesen. Jeder, der die Ahnen sehen konnte, konnte sie mithilfe des Wispersteins auch rufen. Der Stein war mit den Ahnen verbunden und mit etwas Übung, hörten sie -egal wo sie sich gerade befanden- das, was man zu ihm sagte. Nur funktionierte das nicht allzu oft, denn aus irgendeinem Grund schien der Wisperstein die Gesellschaft der Toten zu bevorzugen. Die Worte der Lebenden waren ihm offenbar zuwider. Ich fand es immer noch verrückt.

›Deine Mentorin brauchte mich während ihrer letzten Atemzüge an ihrer Seite. Deshalb musste ich weg, konnte dir nicht alles erklären‹, fuhr Sehender Regen fort. ›Und auch jetzt läuft unsere Zeit ab. Wir müssen den übrigen Wisperkatzen folgen. Einige von ihnen haben den dunklen Pfad bereits betreten.‹

›Nein!‹, protestierte ich. ›Ihr könnt mich nicht verlassen! Das dürft ihr nicht!‹

›Du würdest sowieso eine der letzten Sehenden sein‹, miaute Sehender Regen. ›Diese Ära endet, ob wir es wollen oder nicht. Du hast selbst erlebt, wie schwer es mittlerweile ist, die Fähigkeiten der Sehenden zu erlernen und bald wird es noch schwieriger. Das FinsterClan-Lager ist nicht mehr so still wie zuvor.‹

›Mit wem sprichst du da?‹ Flüsternde Birke klang, als wäre sie gerade erst wieder aufgewacht.

›Mit den Wisperkatzen?‹ Das war Kiesels Stimme gewesen.

›Ja‹, antwortete ich in dem Moment, in dem Sehender Regen und Sehender Schatten an Kiesel vorbei liefen, um dann im Nichts zu verschwinden. In diesem kurzen Augenblick konnte ich meinen Bruder sehen, wie er mich aus halb geschlossenen Augen betrachtete. Unzählige Kratzer zogen sich durch seinen blutverkrusteten Pelz und eine tiefe, böse aussehende Wunde zog sich von seinem Nacken aus zu seinem Bauch, knickte dort ab und endete bei seinen Hinterbeinen.
Er könnte sterben, schoss es mir durch den Kopf. Doch dann verbot ich mir solche Gedanken. Kiesel war jung. Viel zu jung, um sich jetzt unseren Ahnen anzuschließen. Falls er sich ihnen überhaupt anschließen könnte, wenn sie gegangen waren...

›Du da!‹, herrschte mich jemand an. Die NebelClan-Heilerin, erkannte ich. Die hatte ich ganz vergessen. ›Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Er braucht Ruhe!‹

›Es ist gut, dass sie mich geweckt hat...‹, widersprach Kiesel. Seine Stimme zitterte. ›Ich... vielleicht hat sie Recht, Sehende Wolke. Die Heilerin. Sie meinte, ich würde vielleicht nicht... überleben.‹

›Sag das nicht!‹, jaulte Flüsternde Birke, doch Kiesel beachtete sie nicht. ›Ich muss dir etwas sagen. Ich weiß, wer an deiner Blindheit schuld ist...‹

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