3. Kapitel: Lichtschimmer
»Wird Wirbelndes Laub wieder gesund?« Asches Stimme klang ängstlicher als sie beabsichtigt hatte.
»Sie war schon immer eine starke Kätzin«, miaute Wolke. »Und jetzt beeilt euch!«
Rasch schlossen Asche, Wind und Käfer zu Wolke auf. Angeführt wurde ihre kleine Gruppe von Springender Rabe und Fliehender Rauch, die sich ihren Weg durch das dichte Unterholz bahnten. Auf ihren Rücken trugen sie Wirbelndes Laubs schlaffen Körper. Die Verletzte gab kaum noch ein Lebenszeichen von sich, abgesehen von einem gelegentlichen schmerzerfüllten Stöhnen. Immer wieder drohten den beiden Kriegern die Pfoten auf dem nassen Boden unter dem Körper wegzurutschen, doch irgendwie schafften sie es jedes Mal im letzten Augenblick ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
Regen, der inzwischen in Strömen auf sie herab prasselte, durchnässte Asches Pelz bis auf die Haut. Selbst die Fichten und Kiefern, schwarze, ausgefranste Umrisse vor dem Nachthimmel, boten keinen Schutz mehr. Auch von ihren Ästen tropfte das Wasser bereits auf den Waldboden wo Asche gerade auf einen katzengroßen Stein sprang. Überall ragten die Felsbrocken hier aus dem rutschigen Gemisch von Tannennadeln und Matsch zwischen den Wurzeln der Bäume hervor. Die Jungen sprangen von Stein zu Stein, um nur auf festem Untergrund zu laufen und lotsten auch Wolke über den richtigen Pfad. Bloß keine Spuren hinterlassen!
Schon bald tauchte zwischen den Baumstämmen ihr Ziel auf. In der Erde klaffte dieser Abgrund, den die Jungen bereits am Tag zuvor entdeckt hatten.
»Da gehen wir runter?«, quiekte Wind aufgeregt, als sie am Rande des Risses angelangt waren.
Wolke nickte. Sie schien trotz ihrer Blindheit genau zu wissen, wo sie sich befanden. »Folgt mir!«
***
Asches Ballen waren aufgeschürft und brannten von dem harten Gestein, über das sie jetzt schon seit einer ganzen Weile unterwegs waren. Überall um sie herum war nur undurchdringliche Schwärze. Einzig an den Gerüchen, einem gelegentlichen kaltem Luftzug aus der Tiefe, dem Echo ihrer Schritte und dem, was ihre Pfoten ertasteten, konnte sie sich orientieren.
»Wir sind inzwischen doch bestimmt weit genug gelaufen«, beschwerte sich Käfer. »Wie groß ist dieses Tunnelnetz eigentlich? Müssen wir es nicht gleich ganz durchquert haben?!«
In Gedanken stimmte Asche ihrem Bruder zu. Sie schleppte sich hinter den anderen her, wobei sich jeder Schritt so schwer anfühlte als würde sie durch einen Fluss waten, bis Wolke endlich anhielt. Ihre Mutter hatte hier unten die Führung übernommen, schließlich war sie diejenige, die sich in der Finsternis am besten zurechtfand. Ob es nun daran lag, dass sie es gewohnt war, im Dunkel zu tappen, oder ob sie sich an diesem Ort auskannte, konnte Asche nicht sagen. Möglicherweise ist dies das Tunnelsystem, in dem sie aufgewachsen ist.
»Hier können wir erst einmal ausruhen«, miaute Wolke.
Sie waren in einer Höhle angelangt, die gerade einmal groß genug war, dass die sieben Katzen darin gemütlich Platz fanden. Zwei Tunnel führten von hier weg: Der eine, durch den sie eben gekommen waren und ein zweiter, durch den ein Lichtschimmer seinen Weg hinein suchte. Fernes Rauschen und leises Plätschern drang von dort zu ihnen hinüber und Asche meinte am Ende des Tunnels Wasser zu erkennen.
»Was ist da?«, sprach Wind aus, was auch Asche sich fragte.
»Ein unterirdischer Fluss.« Kaum hatte Wolke geantwortet, da stürmte Wind auch schon los, dicht gefolgt von Käfer und Asche. »Das müssen wir sehen.«
Erschrocken maunzend purzelte Asche auf den Boden, als sie auf einmal gegen Fliehender Rauchs Schweif rannte. Er hatte ihnen den Weg versperrt. »Hiergeblieben. Die Situation ist zu ernst für Spiele und Entdeckungsreisen.«
»Aber der Fluss ist doch nur einen Katzensprung entfernt!«, protestierte Wind und Käfer stimmte ihm zu: »Wir gehen gar nicht weit weg!«
»Ich mache euch einen Vorschlag«, Wolke erhob sich auf die Pfoten und tappte zu den am Boden liegenden Jungen hinüber. »Wenn ihr darauf verzichtet, zum Fluss zu gehen, erzähle ich die Geschichte weiter, während Springender Rabe und Fliehender Rauch sich um Wirbelndes Laub kümmern.«
»Das ist ein blöder Vorschlag!« Käfer war auf die Pfoten gesprungen, sein Schweif peitschte durch die Luft. »Ich will jetzt diesen Fluss sehen.«
»Ich auch!«, stimmte ihm Käfer zu, woraufhin Wolke zögernd nickte. »Wenn du sie begleitest, Fliehender Rauch, wird schon nichts passieren.«
»Ja!« Ohne die Antwort des Kriegers abzuwarten, stürmten Asches Wurfgefährten davon. Sie selbst blieb hingegen unschlüssig.
Flüsse habe ich in meinem Leben schon genügend gesehen, entschied sie. Ich möchte viel lieber wissen, ob Wolke es wohl geschafft hat, Sehender Schattens Aufgabe zu lösen!
»Ich möchte lieber die Geschichte hören!«, miaute sie.
»Na dann, komm mit!« Wolke tappte zur Höhlenwand hinüber und rollte sich dort zusammen.
Asche kuschelte sich in das warme Fell ihrer Mutter, um zu vermeiden, dass ihr Blick auf Wirbelndes Laub fiel. Auch gesäubert sah die lange Wunde an ihrem Bauch noch furchterregend aus. Sie war froh, als Wolke zu erzählen begann und so für Ablenkung sorgte.
»Meine Wurfgefährten hatten ihre erste Patrouille bei den LichtClans erfolgreich absolviert und seit ihrer Rückkehr waren bereits einige Sonnenaufgänge vergangen. Während ich meine Zeit mit immer wieder neuen, vergeblichen Versuchen, die Wisperkatzen zu sehen, verbrachte, trainierten sie ihre Kriegerfähigkeiten. Birke, die etwa einen Mond jünger war als ich und meinen Wurfgefährten ständig beim Training zusah, erzählte mir jeden Tag mit ihrer aufgeregt-piepsigen Stimme von ihren Erfolgen, was mich nur um so frustrierter werden ließ.
Gerade grübelte ich wiedermal darüber nach, wie ich es anstellen sollte, den Wisperstein zu sehen, um Sehender Schattens Auftrag zu erfüllen und so endlich zu ihrer Schülerin zu werden - natürlich nur, damit ich endlich auch meine Ausbildung zur Kriegerin beginnen durfte - als mir sich jemand näherte.
›Versuchst du immer noch die Aufgabe der Sehenden zu lösen?‹, fragte Kiesel.
›Klar‹, murmelte ich schlecht gelaunt. ›Bringt mich nur auch nicht weiter.‹
Seine Schritte näherten sich noch weiter, aber waren da nicht auch noch die einer weiteren Katze? Erst als ich den Pelz meines Bruders an meiner Seite spürte, bemerkte ich auch Laubs Geruch. Es war das erste Mal, dass meine Schwester mich in Heilender Ahorns Bau besuchte, seit ich in den Tunneln angegriffen worden war.
›Ich habe eine Idee‹, zischte Kiesel mir ins Ohr.
Ich beugte mich zu ihm vor. ›Ja?‹
›Wenn ich zum Wisperstein vorausgehen würde, könntest du meiner Geruchsspur folgen.‹
›Ich... Ich könnte Sehender Schatten auch... ablenken.‹ Noch nie hatte ich Laub stottern hören. Was hat sie bloß? ›Damit sie... nicht sieht, wie du mit der Nase am Boden die... die Spur verfolgst. Dein Geruchssinn war noch nie... besonders gut!‹
›So machen wir es‹, beschloss Kiesel. ›Soll ich los gehen?‹
Bestätigend nickte ich und hörte gleich darauf, wie er davon tappte.
Ich spürte, wie sich auch Laub neben mir bewegte, doch ich hielt sie zurück: ›Was ist los mit dir?‹
›Dein Gesicht! Es sieht schrecklich aus!‹, platzte es aus ihr heraus. ›Weißt du, wer dir das angetan hat?‹
Zuerst schüttelte ich den Kopf, doch dann kam mir plötzlich wieder in den Sinn, was die Katze, dieser Schatten in der Finsternis, über die Wisperkatzen gesagt hatte, als ich blutend am Boden lag. Du und Laub, ihr seid die Zukunft unseres Clans. Ihr seid stark. Es tut mir leid, dass es dich getroffen hat, Wolke. ›Es muss jemand aus unserem eigenen Clan gewesen sein.‹
›Wir werden es herausfinden! Und dann wird derjenige dafür bezahlen müssen!‹ Die Entschlossenheit, die ich von ihr so gut kannte, war in Laubs Stimme zurückgekehrt...«
»Erzählst du schon weiter?« Käfers Ruf unterbrach Wolke. Er kam auf Asche zugerannt und Wind schoss hinter ihm her. »Warum wartet ihr denn nicht?«
»Ich habe noch nicht viel berichtet«, miaute Wolke und fasste kurz zusammen, was Asche bereits gehört hatte.
Währenddessen behielt Asche den Tunnel im Auge, der zum Fluss führte. Ihre Wurfgefährten waren zurückgekehrt, doch von Fliehender Rauch fehlte jede Spur. Wo bleibt er nur?
»Ist Fliehender Rauch noch beim Fluss?«, fragte sie ihre Brüder, sobald Wolke geendet hatte.
Wind nickte. »Er hat einen Geruch gefunden und verfolgt ihn jetzt. Wir wollten ihm helfen, aber er hat darauf bestanden, dass wir zurückgehen...«
Neben ihr wurde Wolke unruhig und murmelte etwas, was klang wie: »Ganz allein... Was denkt er sich nur dabei? Hoffentlich geht das gut.«
Seufzend zog die Kätzin die Jungen mit ihrem Schweif zu sich. »Ich wünschte ebenso wie ihr, ich könnte Fliehender Rauch begleiten. Aber ich fürchte, ich wäre ihm eher eine Last denn eine Hilfe. Daher lasst uns das Beste für unseren Clangefährten hoffen und mit der Geschichte fortfahren...
Ganze sechs Monde waren vergangen, seit Kiesel die Idee gehabt hatte, mich mit seinem Geruch zum Wisperstein zu lotsen. Der Plan war sogar aufgegangen, ich hatte den Stein gefunden, doch Sehender Schatten hatte unseren Trick durchschaut, bevor ich auch nur ein Wort hatte sagen können.
›So schnell ist es dir ganz sicher nicht gelungen, den Wisperstein zu sehen‹, hatte sie miaut, ›aber zumindest scheint der Wille inzwischen da zu sein.‹
Und damit hatte das Training begonnen... Sowohl das bei Sehender Schatten als auch meine Ausbildung zur Kriegerin.
***
An diesem Tag also -sechs Monde später- trainierte ich gemeinsam mit Kiesel, sowie den jüngeren Wurfgefährten Birke, Rauch und Blüte den Kampf. Die anderen Schüler waren um Morgengrauen herum noch auf einem Ausflug an die Erdoberfläche gewesen. Aber als die Katzen der LichtClans ihrer Patrouille immer aggressiver begegnet waren, hatten die Krieger entschieden, die jüngsten unter ihnen ins Lager zurückzuschicken. Nur Laub hatte dableiben dürfen, obwohl sie ebenso alt war wie Kiesel. Ich hingegen hatte die Sicherheit der unterirdischen Tunnelsysteme gar nicht erst verlassen dürfen, weil Jagender Sturm nach wie vor überzeugt war, ich hätte noch nicht genug gelernt. In den ersten Monden meines Trainings hatte ich mich noch darüber geärgert, doch inzwischen hatte ich die Hoffnung auf meine erste Patrouille ohnehin beinahe aufgegeben.
›Das reicht!‹, riss mich Fallender Steins Stimme aus meinen Gedanken. ›Blüte hat gewonnen. Kiesel, du kämpfst als nächstes gegen deine Schwester.‹
Ich lauschte Kiesels Schritten, um abzuschätzen, bis wohin er ging und trat dann ebenfalls vor. Vor mir hörte ich den Atem meines Bruders, zögerte keinen einzigen Herzschlag lang und stürzte in die Richtung des Geräusches. Meine Pfoten trafen auf Fell, das sich jedoch bereits wegbewegte, und rutschten ab.
›Daneben!‹, bemerkte Blüte spöttisch.
Nicht ganz! Knurrend stolperte ich ein paar Schritte weiter, bis ich endlich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Ein Luftzug verriet, dass Kiesel lossprang, jedoch warnte er mich nicht mehr rechtzeitig. Mein Bruder stieß mich von den Pfoten. Schon jetzt, nach so kurzer Zeit schnaufte er vor Anstrengung, schaffte es aber dennoch, mich am Boden festzunageln. Frustriert schlug ich nach ihm, oder zumindest dorthin, wo ich ihn vermutete, nur trafen meine Pfoten viel zu oft ins Leere, sodass er es ohne Probleme schaffte, mich auch weiterhin festzuhalten.
›Das sieht nach einem klaren Sieg für Kiesel aus‹, stellte Fallender Stein schließlich fest.
›War das nicht sowieso von Anfang auf an klar?‹ Blütes Stimme war nur ein Flüstern, wahrscheinlich hatte sie sich an ihre Wurfgefährten gewandt und wollte vermeiden, dass die Kriegerin sie hörte. ›Wie sollte es denn anders ausgehen, wenn man einem miserablen Schüler mit der Ausdauer eines Ältesten eine noch unfähigere Gegnerin gibt, damit er wenigstens das eine mal einen kleinen Erfolg feiern kann. Warum nimmt Wolke eigentlich an unserem Training teil?‹
›Weil sie ebenso eine Chance verdient wie ihr‹, wies sie Fallender Stein zurecht. Insgeheim dankte ich meinen Ahnen -wenngleich sie sich noch immer beständig weigerten, sich mir zu zeigen- dafür, dass die Ohren der Kriegerin offenbar besser waren als Blüte angenommen hatte.
›Sie sind zurück!‹, rief auf einmal Birke.
Nachzufragen, um wen es sich handelte, war gar nicht erst nötig. Dem plötzlichen Aufruhr im Lager nach zu urteilen konnten es nur Laub und der Rest der Patrouille sein. Überall im Lager ertönten die Stimmen meiner Clangefährten. Während die einen ihre Freunde und Familienmitglieder begrüßten, riefen die anderen um Hilfe für die Verletzten. Es hat wieder einen Kampf gegeben, wurde mir klar.
›Hey!‹ Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich Laubs Stimme hörte. Ihr schien es gut zu gehen. ›Du hättest das sehen müssen, wie wir gekämpft haben! Ich habe gemeinsam mit Rennender Fuchs den Anführer des NebelClans, Schleichender Hirsch, in die Flucht geschlagen...‹
***
›FinsterClan!‹ Laub hatte gerade ihren Bericht beendet - der NebelClan hatte uns, den FinsterClan, als Beutediebe bezeichnet, obwohl wir seit vielen Generationen in den LichtClan-Territorien jagten und den anderen Clans im Gegenzug die Botschaften unserer Ahnen überbrachten - als Jagender Sturms Ruf von den Höhlenwänden wiederhallte.
›Eine Clanversammlung!‹, jubelte Laub.
Mittlerweile fand ich mich im Lager auf meinen gewohnten Pfaden trotz meiner Blindheit gut zurecht und so kostete mich der Weg zum Versammlungsfelsen über das am Boden verstreut liegende Geröll nicht mehr ganz so viel Mühe wie noch vor einigen Monden.
›Wie ihr inzwischen sicherlich schon alle gehört habt, hat der NebelClan heute eine unserer Jagdpatrouillen angegriffen. Sie beleidigten uns, bezeichneten uns als Beutediebe! Obwohl jede Katze wissen sollte, dass wir das Recht haben, ihr Territorium als Jagdgrund mitzubenutzen. Heute haben wir es geschafft, den Sieg zu erringen, bevor sie Verstärkung herbeirufen konnten. Aber lasst euch eins gesagt sein: Dies wird nicht der letzte Angriff der LichtClans bleiben. Ihre Beute scheint ihnen wichtiger zu sein als die Botschaften ihrer Ahnen!
Dennoch gibt es Hoffnung für uns. Wir sind ein starker Clan und unsere Schüler werden gut trainiert. Eine von ihnen hat heute in der Schlacht mitgekämpft und ich habe erfahren, dass sie sich hervorragend geschlagen hat. Deshalb habe ich beschlossen, Laub heute ihren langen Namen zu verleihen und sie so zur Kriegerin zu machen...‹
›Hat sie verdient!‹, hörte ich Blüte miauen. ›Im Gegensatz zu ihren Wurfgefährten. Kiesel wird nie seinen langen Namen bekommen. Er kann weder Sehender werden, noch hat er das Zeug zum Krieger.‹
›Hör auf, so über ihn zu reden!‹, zischte Birke daraufhin.
›Magst du ihn etwa?‹
›Warum sollte ich ihn nicht mögen? Er ist nett, nicht so gemein wie du! Außerdem müssen wir zusammenhalten, um gegen die LichtClans zu bestehen, hast du das etwa vergessen?!‹
Am liebsten wäre ich aufgesprungen, zu Blüte und Birke hinüber gegangen, um Birke bei der Verteidigung meines Bruders zu helfen, doch Jagender Sturm hielt noch immer Laubs Kriegerzeremonie ab.
›...und wegen ihrer Schnelligkeit im Kampf wird sie von nun an Wirbelndes Laub heißen‹, miaute er gerade.
***
Später machte ich mich auf den Weg zu meinem Unterricht bei Sehender Schatten. Jagender Sturm hatte mir erzählt, dass ich sie in Heilender Ahorns Bau finden würde.
›Sehender Schatten?‹ Kräuterduft waberte mir entgegen, als ich angekommen war.
›Ich bin hier‹, krächzte die Sehende.
Ihre Stimme klang kratzig und als ich auf sie zu tappte, bemerkte ich den Geruch nach Krankheit, der von ihr ausging.
›Ich habe eine Aufgabe für dich‹, miaute Sehender Schatten. ›Setze dich auf den Wisperstein und versuche die Wisperkatzen zu sehen.‹
Nicht einmal meine Sorge um die Gesundheit der alten Kätzin hielt mich davon ab, mich über ihren Auftrag zu beschweren: ›Das bringt doch nichts! Seit Monden schon muss ich das ständig machen und ich habe dadurch noch nie etwas gelernt!‹
Die Sehende schnurrte. ›Du erinnerst mich an mich selbst, als ich in deinem Alter war. Der Glaube an die Wisperkatzen ist ein selbstverständlicher Teil des Lebens in unserem Clan, doch im Grunde meines Herzens zweifelte ich damals an ihrer Existenz. Und genau das ist die Schwierigkeit beim Sehen der Wisperkatzen: Wenn du nicht wirklich glaubst, dass sie um dich herum sind, wirst du sie auch niemals sehen können.‹
›Aber ich glaube doch daran!‹, protestierte ich ein wenig verzweifelt. In Sehender Schattens Unterricht hatte ich sogar noch weniger Erfolg als im Kriegertraining! In diesem Moment schien es mir, als würde ich niemals etwas lernen, womit ich meinem Clan so gut wie die anderen Katzen auch dienen konnte.
›Es ist nicht schlimm, dass du lange brauchst, um zu lernen. Die ersten Sehenden lernten alles noch innerhalb eines Mondes oder zweien... Heutzutage brauchen die Schüler länger, denn die Macht der Wisperkatzen schwindet weiterhin und es wird schwieriger sie zu sehen. Dennoch darfst du nicht aufgeben, Wolke! Wenn du es nicht schaffst, Sehende zu werden, dann wird es niemand schaffen.‹
Ich bezweifelte zwar was sie sagte, tat dann aber doch, was sie von mir verlangte. Was blieb mir denn anderes übrig?
Wenig später lag ich also zusammengerollt auf dem Wisperstein und dachte darüber nach, wie sehr ich an unsere Ahnen glaubte. Nichts geschah. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ich schließlich aufgab, vom Wisperstein sprang -mittlerweile eine leichte Übung, so oft wie ich das nun schon getan hatte- und in Richtung meines Nestes davon tappte.
›Hallo, Wolke‹, miaute Wirbelndes Laub hinter mir.
Würde ich jemals einen langen Namen erhalten wie meine Schwester?
›Hallo‹ Ich drehte mich zu ihr um.
Von dem, was Wirbelndes Laub mir dann erzählte, bekam ich überhaupt nichts mit. Ich hatte etwas gesehen. Zum ersten Mal seit Monden. War das echt? Oder wünschte ich mir nur so sehr, etwas zu sehen, dass meine Fantasie mir Streiche spielte?
Nein. Das was ich sah, war wirklich dort. Es war der Wisperstein. Und ein Kater, der darauf saß. Einer meiner Ahnen! Meine Schwester hatte ich ganz vergessen und lief los, auf den Stein zu. Das war meine Chance! Ich durfte keine Zeit verlieren, wer wusste schon, wie lange diese Wisperkatze dort bleiben würde? Manche glauben, unsere Ahnen kennen die Antworten auf alle Fragen, erinnerte ich mich an Wolkes Worte. Ich hatte eine Frage, eine sehr wichtige sogar. ›Kannst du mir verraten, wer mich in den Tunneln verletzt hat?‹
Die Wisperkatze öffnete ihr Maul, schien etwas zu antworten, doch ich hörte nur die Stimmen meiner Clangefährten im Lager. Dann, auf einmal sprang der Kater von dem Stein und war verschwunden.«
Das Donnern von Pfoten auf dem Steinboden unterbrach Wolke. Die Kätzin spitzte die Ohren, während Asche in den Tunnel spähte, der zum unterirdischen Fluss führte.
»Sie sind hier!« Fliehender Rauch kam in die Höhle gestürmt. Blutige Kratzer zogen sich überall durch sein Fell, doch keiner von ihnen schien besonders tief zu sein. »Ich habe den Geruch von einem von ihnen entdeckt. Er muss uns verfolgt haben, seit wir die Erdoberfläche hinter uns gelassen haben und ich wollte ihn aufhalten, bevor er die anderen informieren konnte, doch ich war zu spät. Eine ganze Patrouille von ihnen ist bereits hier unten, sie haben mich angegriffen und jetzt sind sie auf dem Weg hierher! Wir müssen fliehen, schnell!«
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